KAPITEL 17

Es wurde hell, bis Abbé und die anderen Tempelritter zurückkehrten. Eine Stunde vor Sonnenaufgang hatte der Regen ganz aufgehört. Das Gewitter war weitergezogen und zu einem fernen Wetterleuchten am Horizont geworden, und das ununterbrochene Rollen des Donners war zu einem leisen Raunen herabgesunken, dem Geräusch ferner Meeresbrandung ähnlicher als Donnergrollen.

Niemand in der Komturei hatte in dieser Nacht noch geschlafen. Robin und Salim hatten noch mehr als eine Stunde vor dem Kaminfeuer verbracht, bis die Wärme ihre Kleider wenigstens halbwegs getrocknet hatte, und waren dann gemeinsam in den Turm hinaufgegangen, um nach Bruder Tobias zu sehen.

Der Anblick des auf den Tod daliegenden Mönches zog Robin das Herz zusammen. Tobias hatte das Bewußtsein verloren, was ihm zumindest den schlimmsten Schmerz ersparte, aber niemand konnte sagen, ob er noch einmal aufwachen würde. Sein Gesicht war weiß, nicht blaß, sondern weiß, und seine Brust hob und senkte sich in schnellen, unregelmäßigen Atemzügen. Kalter, feinperliger Schweiß bedeckte seine Stirn, und er roch schlecht; nach Krankheit und Leid.

Robin spürte, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, aber sie hatte in diesem Moment nicht einmal die Kraft, die Hand zu heben und sie wegzuwischen. Es war ihre Schuld. Tobias hätte dem Mörder mit Leichtigkeit entkommen können, aber er hatte es nicht getan, sondern sich im Gegenteil ganz bewußt geopfert, damit sie eine Chance hatte. Er mußte gewußt haben, daß er dem viel größeren und bewaffneten Angreifer nicht gewachsen war.

Tränen liefen über ihr Gesicht. Sie starrte auf den frischen, aber trotzdem bereits schon blutgetränkten Verband über seiner Brust, und ihr war, als hätte sie selbst den Dolch genommen und den alten Mönch niedergestochen.

Salim legte ihr die Hand auf die Schulter. »Hab keine Angst«, sagte er. »Er wird es schaffen. Ich kenne Tobias. Er ist ein zäher alter Bursche, den so schnell nichts umbringt.«

Einer der Männer, die sich um Tobias kümmerten, hob kurz den Kopf und sah den Tuareg an. Er sagte nichts, aber sein Blick erzählte dafür um so mehr. Und es war etwas vollkommen anderes als das, was Salim gesagt hatte.

»Komm«, sagte Salim leise. »Wir können hier nichts tun. Lassen wir die Brüder ihre Arbeit tun.«

Die wahrscheinlich nur aus einer vorgezogenen Totenwache bestand, dachte Robin bitter. Viele Mönche hier verstanden ein wenig davon, Wunden und Verletzungen zu behandeln. Abbé und die anderen übten fast täglich mit ihren Waffen, und es verging nicht eine Woche, in der nicht mindestens einer der Männer eine kleine oder größere Blessur davontrug, so daß ein kleiner Schnitt, eine Prellung oder auch schon mal ein gebrochener Knochen nichts Besonderes darstellten. Aber Tobias war wirklich schwer verletzt, und er war der einzige hier, der wirklich etwas von der Heilkunst verstand. Er würde sterben, wenn nicht ein Wunder geschah.

Als sie auf dem Weg nach unten waren, sagte Salim: »Ich war oben in deiner Kammer. Ich verstehe nicht so ganz, wie du überhaupt da rausgekommen bist. Es muß ein höllischer Kampf gewesen sein.«

»Glück«, krächzte Robin.

»Glück«, wiederholte Salim auf eine sonderbare, nachdenkliche Art. Dann schüttelte er den Kopf. »Das hatte nichts mit Glück zu tun. Ich hatte Zeit genug, dich zu beobachten. Du hast jeden Tag am Fenster gestanden und den Rittern bei ihren Übungen zugesehen. Ich wette, du hast nicht eine Stunde verpaßt.«

Das war übertrieben, traf aber den Kern der Sache. Sie hatte tatsächlich sehr oft dagestanden und den Rittern bei ihren Waffenübungen zugesehen, von einer Faszination erfüllt, die sie selber vielleicht am allerwenigsten begriff.

»Es bereitet dir Freude, nicht?« fragte Salim. »Du siehst einem guten Kampf gerne zu, habe ich recht? Ich meine: Du bist nicht wie die meisten Weiber, denen beim Anblick eines Mannes das Blut aus dem Gesicht weicht, und die sich in die Hosen machen, wenn sie ein blankgezogenes Schwert sehen - und übrigens nicht nur Frauen.«

Nein, das war sie gewiß nicht. Gerade in den letzten Tagen hatte sie mehr als einmal mit ansehen müssen, welch furchtbare Dinge Waffen in den falschen Händen anzurichten vermochten, aber das hatte keineswegs dazu geführt, daß sie nun Angst davor hatte. Ganz im Gegenteil: Sie hatte endgültig begriffen, daß es nicht die Waffen waren, die den Schaden anrichteten, sondern stets nur die Hände, die sie führten.

»Wenn du willst, bringe ich es dir bei«, sagte Salim.

Sie sah ihn fragend an. Was?

»Kämpfen.« Salim machte eine wedelnde Handbewegung. »Du hast Talent dafür. Ich weiß das.«

»Woher?«

»Ich bin ein Krieger, und ein wahrer Krieger spürt eine verwandte Seele. Du bist eine Frau, aber du hast das Herz eines Kämpfers. Bruder Abbé weiß das auch. Er hat mir erzählt, wie du dich in der Kirche verhalten hast, als dieser Verrückte euch angegriffen hat.«

Robin blieb überrascht stehen. »Er hat dir...«

»Davon erzählt, ja.« Salim nickte mehrmals hintereinander. »Das wundert dich. Bruder Abbé und ich haben keine Geheimnisse voreinander. Ich bin sein Sklave. Jeder andere an deiner Stelle wäre einfach vor Angst erstarrt oder schreiend davongelaufen. Du nicht. Du bist ihm nachgelaufen und hast ihm sein Schwert zugeworfen, so daß er sich dieses Verrückten erwehren konnte.«

Robin starrte ihn an. Salim wußte von Abbés Geheimnis? Niemand in der Komturei wußte davon, nicht einmal Jeromé und die anderen Ritter. Abbé riskierte einen Krieg, damit sein Geheimnis gewahrt blieb - und er sollte es so einfach einem Sklaven erzählt haben? Unmöglich! Und plötzlich mußte sie wieder daran denken, wie sich Abbé und Salim am vergangenen Abend gestritten hatten, und an den respektlosen Ton, den der Tuareg manchmal Abbé gegenüber anschlug - allerdings immer nur, wenn sie allein waren.

»Ich werde mit Abbé darüber reden.« Salim ging weiter. »Wir werden keinen Ritter aus dir machen, aber vielleicht kann ich dir ein paar Tricks beibringen, damit du dich deiner Haut zu wehren weißt. Das kann nie schaden.«

Sie verließen den Turm und traten in die Dämmerung hinaus. Es war noch nicht richtig hell. Die Gebäude ringsum waren wieder zu bleichen Schemen geworden, die im grauen Zwielicht mehr zu erahnen als zu sehen waren, in denen nun aber zahlreiche rote und gelbe Augen flackerten. Hinter fast jedem Fenster brannte Licht, als hätten die Geschehnisse der vergangenen Nacht die Menschen hier mit einer plötzlichen Angst vor der Dunkelheit erfüllt. Der Regen hatte Kälte und einen Hauch alles durchdringender Feuchtigkeit zurückgelassen, und er hatte den Hof in einen rechteckigen, schmutzigen See verwandelt, aus dem nur hier und da der Gipfel einer schlammigen Insel ragte.

Robin rieb sich fröstelnd die Oberarme. Bald würde die Sonne aufgehen, und gewiß würde es wieder warm, vielleicht sogar heiß werden, genau wie an den Tagen zuvor, aber im Moment fror sie. Ihr Gewand war noch immer klamm, und die Erschöpfung tat ein übriges. Auch sie hatte in dieser Nacht nicht geschlafen, dafür aber große Gefahren überstanden und noch größere Anstrengungen. Und auch wenn sie es weiter beharrlich leugnete - es war ein höllischer Kampf gewesen, den sie im Grunde nicht hätte überleben dürfen.

»Sie kommen zurück!«

Robin legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zur Turmspitze hinauf. Eine winzige Gestalt war in einem der erleuchteten Fenster im obersten Stockwerk erschienen und deutete heftig gestikulierend nach Westen. Offenbar war irgend jemand in der Komturei wenigstens jetzt auf den Gedanken gekommen, eine Wache aufzustellen.

»Abbé«, sagte Salim stirnrunzelnd. »Das ist schlimm. Er wird wenig begeistert sein zu hören, was passiert ist, und noch weniger, wenn ihm klar wird, daß er übertölpelt wurde.«

»Übertölpelt?«

Salim lachte humorlos. »Glaubst du, es ist ein Zufall, daß sie ausgerechnet gestern Abend weggerufen wurden? Ganz gewiß nicht! Sie wurden weggelockt - damit der Attentäter leichtes Spiel hat!«

»Womit?« fragte Robin mühsam. Jedes Wort fiel ihr jetzt schwerer, und ihre Kehle schmerzte ununterbrochen. Sie durfte noch nicht zuviel von ihrer gerade erst zurückgewonnenen Stimme verlangen. Wenn sie ihr noch einmal den Dienst aufkündigte, dann vielleicht für immer.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Salim. »Abbé wollte es mir nicht sagen - und er hat auch Helge verboten, mit mir zu reden. Gehen wir ihm entgegen und fragen ihn.« Er deutete zum Tor, blieb aber nach einem einzigen Schritt wieder stehen und sah Robin nachdenklich an.

»Vielleicht ist es besser, wenn wir ihm noch nicht verraten, daß du wieder sprechen kannst... wenigstens nicht gleich.«

Robin nickte. Dieses Versprechen abzugeben fiel ihr nicht schwer. Ihr Hals fühlte sich an, als wäre er mindestens auf das Doppelte seines normalen Umfangs angeschwollen. Wahrscheinlich konnte sie im Moment gar nicht reden, selbst wenn sie es gewollt hätte.

Sie machten sich auf den Weg zum Tor, aber sie hatten kaum mehr als die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Bruder Abbé und die anderen Tempelritter auch schon in gestrecktem Galopp durch das Gewölbe hereinsprengten. Unter den wirbelnden Hufen ihrer Pferde spritzten Wasser und Schlamm so hoch, daß ihre Gestalten kaum zu erkennen waren. Trotzdem sah Robin beinahe sofort, daß mit dem halben Dutzend Reitern etwas nicht stimmte. Etwas stimmte sogar ganz und gar nicht mit ihnen...

Salim und sie begannen im gleichen Augenblick zu rennen.

Die Templer galoppierten bis zur Mitte des Hofes und brachten ihre Pferde dann so abrupt zum Stehen, daß sich zwei der Tiere mit einem protestierenden Wiehern aufbäumten. Die Reiter befanden sich in einem bemitleidenswerten Zustand. Ihre Kleider waren verdreckt und hingen in Fetzen, und längst nicht alles Rot auf den weißen Gewändern war das der aufgestickten Tatzenkreuze. Die Reiter kehrten geradewegs aus einer Schlacht heim. Einer der Männer sank hilflos nach vorne und brach über dem Hals seines Pferdes zusammen, und Bruder Abbé - der einzige, den sie aufgrund seiner untersetzten Gestalt trotz des geschlossenen Helmes erkannte - glitt mit einer hastigen Bewegung aus dem Sattel und wandte sich heftig gestikulierend an Salim. Hinter ihm flogen die Türen des Haupthauses auf, und eine Anzahl graugekleideter Gestalten näherte sich ihnen im Laufschritt.

»Salim!« schrie Abbé. »Lauf und hol Bruder Tobias! Ferdinand ist schwer verwundet! Schnell! Es geht um jede Minute!«

»Tobias wird nicht kommen«, antwortete Salim. »Es gab einen Anschlag auf Robins Leben. Sie konnte entkommen, aber Tobias ist schwer verwundet. Er wird vielleicht sterben.«

»Ein Anschlag? Wer... ?«

Salim schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab. Salim ihm, nicht etwa umgekehrt. »Was ist passiert? Wurdet ihr angegriffen?«

»Es war eine Falle«, antwortete Abbé, sprach jedoch nicht sofort weiter, sondern drehte sich mit einer abrupten Bewegung herum und wandte sich an die Männer, die in immer größerer Anzahl aus dem Haus gelaufen kamen. »Kümmert euch um Ferdinand! Aber seid vorsichtig. Und bringt trockenes Holz und Steine! Verschließt das Tor und alle äußeren Fenster, und schickt eine Wache auf den Turm! Wir müssen mit einem Angriff rechnen!«

»Ein Angriff?« Salims Augenbrauen zogen sich zusammen. »Was soll das heißen? Abbé!«

»Es war eine verdammte Falle«, sagte Abbé düster.

»Sie haben euch von hier weggelockt«, bestätigte Salim, aber Abbé schüttelte zornig den Kopf.

»Wenn das alles wäre!« Er ballte die rechte Hand zur Faust, sah sich wild um, als suche er etwas, was er zerschmettern konnte, und ließ den Arm dann mit sichtlicher Anstrengung wieder sinken. Sein Blick flackerte, als er Robins Gesicht streifte. Er drehte sich ganz zu ihr herum, legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte mit leiser, mitfühlender Stimme: »Es... tut mir leid, Kind, aber ich fürchte, ich habe schlimme Nachrichten. Dein Dorf. Deine Leute. Sie ... sind alle tot.«

»Tot?« keuchte Salim. »Was ist passiert?«

Robin starrte Abbé an. Sie hatte durchaus verstanden, was er sagte, aber es war, als ginge es sie gar nichts an. Sie wartete darauf, daß sie irgend etwas empfand - Schrecken, Kummer, Schmerz oder wenigstens Zorn - aber es war genau wie an jenem furchtbaren Abend vor einer Woche, als sie in die Flammen ihres brennenden Elternhauses gestarrt hatte. In ihr war nichts als jene schreckliche, saugende Leere.

»Helge kam gestern abend«, begann Abbé. »Er erzählte, daß einer der Bauern einen großen Trupp Bewaffneter gesehen hätte. Wir stießen auf ihre Spuren und folgten ihnen. Sie führten geradewegs zu Robins Dorf. Aber wir sind zu spät gekommen. Es ist niedergebrannt. Alle, die darin gelebt haben, wurden erschlagen. Sie sind... alle tot.«

»Tot? Wer hat das getan?«

Abbé schnaubte. »Wir«, antwortete er. »Zumindest wird jedermann das glauben.« Er drehte sich herum, ging zu seinem Pferd und nahm ein Stück blutgetränkten Stoff aus der Satteltasche. Es kostete Robin einige Mühe zu erkennen, daß es nicht nur ein beliebiger Fetzen war, sondern vielmehr ein Stück aus einem weißen Überwurf, auf den ein rotes Kreuz mit gespaltenen Enden gestickt war.

»Das lag irgendwo zwischen den Ruinen«, sagte er. »Und noch mehr davon. Ein zerbrochener Dolch mit unserem Siegel, ein blutiger Handschuh, wie wir sie tragen...« Er warf den Fetzen zu Boden und stampfte ihn mit dem Absatz in den Morast. »Jemand hat sich große Mühe gegeben, Beweise zu hinterlassen, wer für diese Greueltat verantwortlich ist.«

»Aber das ist doch ... Unsinn«, murmelte Salim stockend. »Ich meine: Es... es ist doch ein Leichtes, nachzuweisen, daß diese Dinge nicht aus Eurem Besitz stammen.«

»Es kommt noch schlimmer«, sagte Abbé düster. »Wir haben das Dorf gründlich durchsucht, in der Hoffnung, vielleicht doch noch einen Überlebenden zu finden. Wir hatten keinen Erfolg, aber gerade, als wir aufsitzen und wieder zurückreiten wollten, tauchten Gunthar von Elmstatt und sein Sohn auf - zusammen mit ungefähr zwanzig Bewaffneten. Sie haben uns sofort angegriffen, ohne auch nur eine einzige Frage zu stellen. Wir konnten ihnen entkommen, aber Ferdinand wurde von einem Speer getroffen, und außer mir sind fast alle anderen verletzt.«

»Haben sie euch verfolgt?« fragte Salim.

»Nur ein kleines Stück«, antwortete Abbé. »Wir konnten drei von ihnen erschlagen, was ihnen die Lust auf eine Fortsetzung des Kampfes ein wenig vergällt haben dürfte. Sie sind in Richtung Burg davongeritten.« Er hob die Schultern. »Sie dürften jetzt schon dort sein. Gunthar wird eine Stunde brauchen, um alle seine Männer zusammenzurufen und zu bewaffnen, und dann drei oder vier Stunden, bis sie hier sind.«

»Ihr fürchtet, daß er uns angreift?«

»Ich an seiner Stelle würde es tun«, antwortete Abbé traurig. »Für ihn sind die Beweise eindeutig. Er glaubt, daß wir seinen jüngsten Sohn erschlagen haben, und nun auch noch die Einwohner eines ganzes Dorfes, nur um unsere Spuren zu verwischen. Er muß auf diese Herausforderung reagieren, wenn er nicht vor der ganzen Welt das Gesicht verlieren will. Er wird uns angreifen, kurz nach der Mittagsstunde, wenn nicht früher.«

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