KAPITEL 1

Robins Welt war klein. Ausgehend von dem Dorf, in dem sie geboren und aufgewachsen war, maß sie weniger als einen Tagesmarsch in jede Richtung und im Norden sogar noch sehr viel weniger, denn dort hörte die Welt gewissermaßen auf. Wenn man zwei Stunden in scharfem Tempo in diese Richtung marschierte, erreichte man die Dünen, niedrig, unregelmäßig und von kärglichen Flecken borstigen Grüns bewachsen, und wenn man sie überquerte und sich dem Wind stellte, der selbst im Sommer manchmal eisig war, dann sah man das Meer: eine unendliche, manchmal blaue, zumeist aber schmutziggraue Ödnis, die nirgendwo anfing und nirgendwo endete.

Im Westen führte der Weg schon weiter. Brach man um die Osterzeit bei Sonnenaufgang auf, so erreichte man am späten Nachmittag den Fluß. Er war nicht sehr breit, aber tief und reißend. Die Bewohner des Dorfes auf der anderen Uferseite lagen mit denen aus Robins Dorf im Streit, was in gewisser Weise ungemein praktisch war: So kam niemand in Versuchung, den Fluß zu überqueren und dabei das Risiko einzugehen, in null Komma nichts zu ertrinken. Im Süden und Osten schließlich erhoben sich dicht bewaldete Hügel, durch die nur eine einzige, schmale und meist verschlammte Straße führte. Gerüchten zufolge wurden sie mitunter von Wegelagerern und wilden Tieren heimgesucht, aber Robin vermutete, daß diese Greuelmärchen maßlos übertrieben waren. Überprüfen konnte sie das allerdings nicht: Niemand aus ihrem Dorf hatte diese Straße je benutzt; jedenfalls nicht, solange sie sich zurückerinnern konnte.

Robin verdankte ihren etwas ungewöhnlichen Namen ihrem Vater. Er war Engländer - vielleicht auch Schotte, so genau hatte sie diesen Unterschied nie begriffen - und hatte nur einen einzigen Winter in ihrem Dorf verbracht. Zusammen mit einer Handvoll Kameraden war er eines Morgens vor fünfzehn Jahren plötzlich aus dem Wald getorkelt. Dem halben Dutzend zerlumpter, blutüberströmter, aber auch schwerbewaffneter Gestalten erging es ganz offensichtlich nicht viel besser als ein paar Hasen bei einer Treibjagd: Sie waren vollkommen am Ende ihrer Kräfte und sahen so gehetzt aus, als ob sie schon das Hufgetrappel der Verfolgermeute hören würden.

Nachdem sich die erste Aufregung gelegt und die Dorfbewohner begriffen hatten, daß ihnen von den fremden Soldaten zumindest keine unmittelbare Gefahr drohte, hatten es sich die Fremden unter der großen Linde auf dem Dorfplatz einigermaßen gemütlich gemacht, ihre Wunden versorgt, etwas getrunken und gegessen und währenddessen begonnen, ihre Geschichte zu erzählen. Sie gehörten zu einem Heer, das sich auf dem Weg ins Heilige Land befand und nicht weit vom Dorf entfernt vorbeigezogen war. Während eines plötzlichen Schneesturms - so erzählten sie wenigstens - waren sie vom Haupttroß getrennt worden, und kaum hatte sich das Wetter gebessert, da waren sie in einen Hinterhalt geraten, dem sie nur mit knapper Mühe entkommen konnten. Nun war ihr Heer fort, und sie hatten keine andere Wahl, als auf das Frühjahr zu warten, um sich dann auf eigene Faust auf den Weg ins Land des Heilands zu machen.

Das war jedenfalls die Geschichte gewesen, die sie erzählten. Niemand im Dorf hatte sie wirklich geglaubt. Wahrscheinlicher war wohl, daß es das Heer, von dem sie gesprochen hatten, zwar gab, sie selbst aber nichts anderes als Deserteure waren. Aber welcher der einfachen Bauern und Fischer hätte schon den Mut gehabt, das einem halben Dutzend schwerbewaffneter Soldaten ins Gesicht zu sagen?

Dabei hätten sie es vermutlich ohne große Gefahr gekonnt. Die Leute im Dorf sprachen selten über den Winter, in dem die englischen Soldaten dagewesen waren. Aber wenn sie es taten, dann war in ihren Stimmen keine Bitterkeit oder gar Zorn, sondern vielmehr ein Ton, als spräche man über liebe alte Freunde, die man gerne einmal wiedersehen würde. Robin hatte nicht erfahren, was sich in jenem Winter vor fünfzehn Jahren wirklich zugetragen hatte, aber als die Schneeschmelze einsetzte und die Soldaten wieder abzogen, waren sie und viele Dorfbewohner Freunde gewesen.

Vier Monate später war Robin geboren worden.

Niemand im Dorf hatte Robins Mutter diesen Fehltritt wirklich übelgenommen. Sie war damals schon seit zehn Jahren Witwe und führte ein einfaches, aber gottesfürchtiges Leben, und Robin vermutete, daß der englische Soldat - ihre Mutter nannte niemals seinen Namen, wenn sie über ihn sprach, so nannte sie ihn stets nur den Soldaten -, daß dieser namenlose englische Soldat also ihrer Mutter etwas gegeben hatte, worauf sie zu lange hatte verzichten müssen.

Robin dachte an nichts von alledem, als sie sich an jenem Abend der leerstehenden Kapelle am Ortsrand näherte. Es war der vierzehnte Juli, aber obwohl es der Tag war, der Robins Leben in so vollkommen andere Bahnen lenkte, daß sie kurz darauf ein völlig neuer Mensch zu werden schien, wußte sie nicht einmal das Datum. Niemand im Dorf zählte das Verstreichen der Zeit anhand von Kalendertagen, und wozu auch? Das Leben im Dorf wurde von den Jahreszeiten bestimmt - Frühling, Sommer, Herbst, Winter - und vom sonntäglichen Kirchgang, nicht von Jahreszahlen.

Außerdem war Robin aufgeregt. Sehr aufgeregt. Sie war unterwegs, um ihren neuen Freund zu treffen, den sie vor vier Wochen kennengelernt hatte; Jan, den Knappen, der im Dienst eines richtigen Ritters stand und stets spannende und aufregende Geschichten zu erzählen hatte.

Es war purer Zufall gewesen, daß sie sich getroffen hatten - oder, um genau zu sein, eine Kombination aus Zufall und Robins übergroßer Neugier, die ihr schon mehr als einmal gehörigen Ärger eingebracht hatte. Die alte Kapelle lag ein gutes Stück außerhalb des Dorfes, gerade weit genug, um den Weg lästig werden zu lassen, und niemand wußte mehr genau, warum man sie ausgerechnet dort errichtet hatte, und als sei damit alles gesagt, brachte man ihr auch nicht unbedingt den Respekt entgegen, den sie als ein Gotteshaus zweifellos verdiente. Ganz im Gegenteil: Düstere Geschichten rankten sich um die aufgelassene Kapelle. Es hieß, daß dort heidnische Riten abgehalten worden seien, und einige der Alten behaupteten sogar, daß der Teufel selbst dort nachts sein Unwesen treibe. Darüber hinaus war es ein offenes Geheimnis, daß die Kapelle den Liebespaaren aus dem Ort als verschwiegener Treffpunkt diente. Robin hatte sich oft gefragt, was sie dort eigentlich taten, und sie hatte diese Frage sogar einmal ihrer Mutter gestellt, aber eine so rüde Abfuhr erhalten, daß sie es fortan nicht mehr gewagt hatte, das Thema anzusprechen.

An jenem Abend vor vier Wochen befand sie sich auf dem Rückweg ins Dorf. Sie hatte Kräuter gesammelt, aus denen ihre Mutter allerlei Salben und Tinkturen herzustellen wußte, aber auch wohlschmeckende Tees, und sie hatte nicht auf die Zeit geachtet und mußte sich nun sputen, um noch vor Einbruch der Nacht nach Hause zu kommen. Ihr Korb war schwer, denn sie hatte außer den Kräutern auch noch eine große Anzahl Pilze entdeckt, die sie kurzerhand eingesammelt hatte. Obwohl sie spät dran war und ahnte, daß ihre Mutter sie schelten würde, war sie guter Dinge, denn sie wußte auch, wie sehr sich ihre Mutter über die Pilze freuen würde. Sie stellten eine willkommene Abwechslung in ihrem sonst doch recht eintönigen Speiseplan dar, der aus Haferbrei, einem gelegentlichen Stück Fladenbrot und Rüben in jeder nur erdenklichen Form der Zubereitung bestand; drei- oder viermal im Jahr auch aus einem Stück Fleisch, wenn es ihnen gelang, einen Hasen zu erlegen, oder ein Nachbar ein Schwein schlachtete und ihnen großzügiger Weise etwas abgab.

Um dem Unmut ihrer Mutter nicht mehr Nahrung als unbedingt nötig zu geben, entschloß sie sich, die Abkürzung durch den Wald zu nehmen, der auf halbem Wege zwischen dem Dorf und der alten Kapelle lag. Normalerweise mied Robin das kleine Wäldchen. Das dichte Unterholz, die finstere Kühle unter den ineinander verwobenen Baumkronen und seine düsteren Schatten machten ihr angst. Sie glaubte zwar nicht wirklich an den Teufel und die Existenz von Dämonen, aber andererseits... man konnte nie wissen. Außerdem standen die dornenbewehrten Himbeer- und Brombeersträucher so eng, daß sie Gefahr lief, sich ihr sowieso schon mehrfach geflicktes Gewand zu zerreißen - sollte das passieren, das wußte sie aus bitterer Erfahrung nur zu gut, würde ihre Mutter sie so lange mit sorgenvollen Vorwürfen überhäufen, bis Robin vor Scham am liebsten im Boden versinken würde.

Sie hatte den Waldrand fast erreicht, als sie ein verräterisches Knacken hörte; das typische Geräusch eines brechenden Zweiges. Seiner Lautstärke nach zu urteilen, mußte es sich um einen ziemlich kräftigen Zweig gehandelt haben, was wiederum bedeutete, daß es sich nicht um ein Eichhörnchen oder einen Hasen gehandelt haben konnte, und Robin erstarrte für die Dauer eines Herzschlags. Gleichzeitig sah sie sich erschrocken und sehr hastig nach einem Versteck um - nach einem Baum, auf den sie klettern konnte. Zwar hatten sich seit langer Zeit keine Wölfe, Bären oder andere gefährliche Raubtiere in die unmittelbare Umgebung verirrt, aber erst im vergangenen Jahr war ein Mann aus dem Dorf von einem Wildschwein angegriffen und schwer verletzt worden.

Sie hatte gerade einen Baum entdeckt, der ihr geeignet schien, als sich das Knacken - näher diesmal - wiederholte, und praktisch gleichzeitig sah sie einen Schatten. Nicht sehr weit entfernt, links von ihr war ganz eindeutig der Umriß eines Menschen. Robin atmete erleichtert auf und wollte sich gerade durch lautes Rufen zu erkennen geben, als ihr etwas bewußt wurde: Wer immer dort vor ihr am Waldrand entlangschlich, bewegte sich so vorsichtig und langsam, als wollte er jedes unnütze Aufsehen vermeiden. Er blieb immer wieder stehen, sah sich um und schlich dann geduckt und hastig weiter. Auch achtete er darauf, wohin er seine Schritte lenkte, denn er zerbrach keine weiteren Äste mehr. Das war sonderbar, fast schon unheimlich.

Robin setzte ihren Korb ab, ließ sich in die Hocke sinken und bog vorsichtig das Unterholz auseinander...

... und erlebte eine Überraschung.

Aus dem Umriß wurde eine Gestalt, die Robin nur zu gut kannte. Es war Helle, die Frau des alten Olof. Olof war Fischer, hatte die vierzig schon weit hinter sich gelassen und war im Dorf nicht besonders beliebt, denn er hatte ein griesgrämiges Wesen und neigte zur Gewalttätigkeit, vor allem, wenn er getrunken hatte. Ganz anders Helle. Sie hätte Robins ältere Schwester sein können, und sie war eine wirkliche Schönheit. Olof hatte sie vor fünf Jahren eines Tages einfach mitgebracht, ein halbes Kind noch, und ihre nachtschwarzen Augen und das nicht zu bändigende, rotbraune Haar hatten schon Anlaß zu mancherlei Spekulationen gegeben, was ihre Herkunft anbelangte. Heute war sie die mit Abstand schönste Frau im Dorf, und Robin wäre nicht einmal erstaunt gewesen, wenn man ihr erzählt hätte, sie sei die Schönste im ganzen Land. Selbst jetzt, vom Gegenlicht der untergehenden Sonne zu kaum mehr als einer bloßen Silhouette reduziert, kam sie Robin wie ein schwebender Engel vor. Das rote Licht schien ihr Haar in Brand zu setzen und stand in wundervollem Kontrast zu ihrem farbenprächtigen Sonntagskleid und dem bunt bestickten Wollschal, den sie sich über die Schulter geworfen hatte und den Robin noch nie an ihr gesehen hatte.

Sie war nicht allein. Eine zweite, etwas größere Gestalt folgte ihr mit wenigen Schritten Abstand. Es war ein schlank gewachsener Junge, den Robin noch nie zuvor gesehen hatte. Er trug ein einfaches, graues Gewand, das von einem groben Strick um die Taille zusammengehalten wurde und ganz gut ein Mönchskutte hätte sein können, hätte unter dem Kragen nicht die Kapuze eines fein gewobenen Kettenhemdes hervorgeschaut und unter dem Saum nicht Stiefel aus fein gegerbtem Leder. Als er näherkam, erkannte Robin, daß der Junge schwarzes, zu einem Topfschnitt frisiertes Haar und ein kantiges, aber trotzdem nicht unsympathisches Gesicht hatte. Auf seinen Wangen lag der erste, noch zarte Flaum eines Bartes, aber er konnte trotzdem nicht sehr viel älter als Robin sein. Er sah sich immer wieder nervös und sehr aufmerksam um. Einmal fiel der Blick seiner dunklen Augen genau auf den Busch, hinter dem sich Robin versteckt hatte, und sie war fast sicher, daß er sie einfach sehen mußte. Doch dann drehte er den Kopf weiter und sah wieder zum Dorf zurück.

Robin sah den beiden nach, bis sie außer Hörweite waren. Dann stand sie auf, ging vorsichtig zum Waldrand und spähte in die Richtung, in der die beiden gingen. Sie war nicht einmal besonders überrascht, als sie dort die verlassene Kapelle entdeckte.

Robins Gedanken rasten. Wenn sie jetzt sofort loslief, dann würde sie vielleicht gerade noch rechtzeitig nach Hause kommen, um dem schlimmsten Zorn ihrer Mutter zu entgehen. Andererseits... Helle war mit einem Fremden unterwegs, und das noch dazu in aller Heimlichkeit. Sie war es nicht nur ihrer Mutter, sondern dem ganzen Dorf schuldig, den beiden nachzugehen und herauszufinden, was der Grund für ihre Heimlichtuerei war.

Zumindest schob sie das vor, um sich nicht selbst eingestehen zu müssen, daß sie vor Neugier nahezu platzte. Außerdem fand Robin, daß das Risiko einer Tracht Prügel die Gefahr längst nicht aufwog, die ein Fremder bedeuten mochte, der sich in aller Heimlichkeit hier herumtrieb, und folgte den beiden.

Es fiel ihr nicht besonders schwer, unerkannt zu bleiben. Bis zur Kapelle hin war das Gelände mit hüfthohem Heidekraut, Gras und wild wuchernden Büschen bewachsen, und Robin kannte praktisch jeden Strauch wie einen persönlichen Freund. Geschickt huschte sie von Deckung zu Deckung, wobei sie sorgsam darauf achtete, den Abstand zwischen sich und Helle und dem Fremden nicht kleiner werden zu lassen. Zwei- oder dreimal blieb der dunkelhaarige Junge stehen und blickte aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen in ihre Richtung, ging aber jedes Mal weiter.

Robin war sich ziemlich sicher, kein verräterisches Geräusch verursacht zu haben, und auch die Natur kam ihr nun zu Hilfe: Mit Einbruch der Dämmerung war ein leichter Wind aufgekommen, der für genügend Bewegung sorgte, und sie mit seinem leisen Raunen und Säuseln tarnte. Trotzdem blieb sie auf dem letzten Stück lieber etwas zurück. Tief in sich glaubte sie zwar selbst nicht daran, aber falls der Fremde wirklich Übles im Sinn hatte, so war er ganz bestimmt nicht begeistert, verfolgt zu werden.

Schließlich kauerte sie sich hinter einen Busch und beobachtete aus seinem Schutz, was weiter geschehen würde. Der Fremde steuerte mit raschen Schritten auf die Kapelle zu und verschwand darin. Helle folgte ihm dichtauf, allerdings nicht, ohne einen weiteren langen Blick zum Dorf zurückgeworfen zu haben. Danach geschah eine ganze Weile lang nichts. Weder Helle noch der Junge kamen wieder aus der Kapelle heraus, aber nachdem es jetzt zu dunkeln begann, nahm Robin einen schwachen rötlichen Lichtschein wahr, der durch die beiden Fenster drang. Dort drinnen brannte eine Kerze oder eine kleine Fackel, deren Schein allerdings sorgsam abgeschirmt wurde. Aus ihrem Versteck heraus, das vielleicht zwanzig Schritte entfernt war, war dieses Licht schon fast nicht mehr wahrnehmbar, etwas weiter weg war es sicherlich nicht mehr zu sehen.

Lange Zeit rührte sich nichts, so lange, daß Robin schließlich zu dem Schluß kam, daß sie nichts Interessantes mehr zu sehen bekommen würde und sie hier hocken konnte, bis sie schwarz wurde. Was also sollte sie tun? Zurückgehen und das Donnerwetter, das mit Sicherheit über sie hereinbrechen würde, für nichts und wieder nichts in Kauf nehmen? Das erschien ihr nicht sinnvoll. Was sie erwartete, konnte schwerlich viel schlimmer werden, wenn sie sich um einige weitere Minuten verspätete. Also löste sie sich behutsam aus ihrer Deckung und näherte sich geduckt der Kapelle.

Unter einem der beiden schmalen Fenster auf dieser Seite kauerte sie sich schwer atmend zusammen und lauschte. Im ersten Augenblick hörte sie nichts außer dem Schlagen ihres eigenen Herzens, das ihr so laut vorkam, daß man es eigentlich bis zum Meer hinunter hören mußte. Dann aber identifizierte sie zwei Stimmen, die miteinander flüsterten. Eine davon gehörte Helle, also mußte die andere folglich die des Jungen sein.

Und nun, wo sie schon einmal so weit gekommen war, würde sie natürlich auch nachsehen, was die beiden da drinnen eigentlich trieben. Sie schob sich vorsichtig an der rauhen Wand entlang in die Höhe und hatte das Fenster fast erreicht, als eine harte Hand sie im Genick packte und so abrupt zurückriß, daß sie einen keuchenden Schrei ausstieß - allerdings nur für einen kurzen Moment, denn schon im nächsten Augenblick legte sich ihr eine zweite, ebenso starke Hand über Mund und Nase und erstickte nicht nur ihren Schrei, sondern nahm ihr auch den Atem.

Robin begann verzweifelt mit den Beinen zu strampeln und um sich zu schlagen, wurde aber trotzdem in die Höhe gerissen und grob herumgezerrt.

»Jan, was ist los?« drang eine dunkle Stimme aus dem Haus.

»Nichts, Herr«, antwortete die Gestalt, die sie gepackt hielt. Nach einem kurzen Lachen fügte sie hinzu: »Nur ein streunender Köter, wie ich vermutet habe.«

Robin wurde von der Kapelle fortgezerrt. Nach ein paar Sekunden hörte sie auf, sich zu wehren, und dann gab sie auch den Versuch auf, einen hohen spitzen Hilfeschrei auszustoßen. Sie bekam keine Luft mehr. Wenn der Bursche sie nicht bald losließ, würde sie ersticken.

Der Fremde tötete sie nicht, aber er war kurz davor, ehe er Robin endlich losließ und grob zu Boden warf. Sie fiel, rollte, verzweifelt nach Luft ringend, auf den Rücken und sah eine riesige, verzerrte Gestalt über sich aufragen. Etwas Helles, Silberfarbenes schimmerte in der Hand des Angreifers, und kaltes Metall berührte Robins Kehle.

»Nein!« keuchte sie. »Bitte, Herr, ich...«

»Nicht so laut«, zischte der schwarzhaarige Riese. »Wenn du weiter so schreist, muß ich dir die Kehle durchschneiden. Willst du das?«

Robin schüttelte stumm den Kopf. Sie hätte vor lauter Angst mittlerweile sowieso keinen Ton mehr herausgebracht, aber sie erkannte immerhin, daß ihr Bezwinger alles andere als ein Riese war. Ihre eigene Angst hatte ihn dazu gemacht. Es war kein anderer als der schwarzhaarige Junge, den sie zusammen mit Helle gesehen hatte. Aber das silberfarbene Metall in seiner Hand war ein Schwert, und die rasiermesserscharfe Klinge drückte mit solcher Kraft gegen ihre Kehle, daß sie kaum zu atmen wagte.

»Sind wir uns einig?« fragte Jan.

Robin deutete ein Nicken mit den Augen an und wies mit der linken Hand auf das Schwert an ihrem Hals. Jan ließ die Klinge jedoch noch einige Augenblicke lang, wo sie war, und musterte sie in dieser Zeit ebenso aufmerksam wie mißtrauisch. Dann aber zog er es mit einem Ruck zurück und schob es in die lederne Scheide, die er samt des dazugehörigen Waffengurts in der linken Hand hielt.

»Für dich brauche ich keine Waffe«, sagte er abfällig - was vermutlich der Wahrheit entsprach. Robin hatte ja gerade am eigenen Leibe erfahren, um wie vieles stärker er war als sie.

Sie setzte sich vorsichtig auf, betastete ihren Hals und betrachtete anschließend ihre Fingerspitzen. Es klebte kein Blut daran.

Jan lachte leise. »Keine Angst, Bursche - dein Kopf sitzt noch auf deinem ungewaschenen Hals. Aber das muß nicht unbedingt noch lange so bleiben«, fügte er in übertrieben gespielt drohendem Ton hinzu. »Wie ist dein Name?«

»Robin«, antwortete Robin. »Und du bist... Jan?«

»Jedenfalls hast du gute Ohren«, sagte Jan. »Hast du auch so gute Augen, Kerl?«

Offensichtlich hielt er sie für einen Jungen, und Robin sah in diesem Augenblick keine Veranlassung, diesen Irrtum richtigzustellen. Sie glaubte zwar zu spüren, daß Jans auftrumpfendes Gehabe nur gespielt war, aber man konnte schließlich nie wissen. Das Leben eines Mädchen galt nun einmal weniger als das eines Jungen, das war schon immer so gewesen und würde wohl auch immer so bleiben. Vielleicht saß das Schwert doch nicht ganz so locker in seiner Scheide, wenn er sie für einen Jungen hielt.

Robin betrachtete die Waffe nervös. Seltsam - sie war fast sicher, daß Jan sie vorhin nicht bei sich gehabt hatte.

»Bist du zu stur, mir zu antworten, oder einfach nur blöde?« herrschte Jan sie an.

»Nein«, antwortete Robin hastig.

»Nein - was?« fragte Jan. »Du bist blöde.«

»Ich habe nur nicht verstanden, was... was du überhaupt meinst«, antwortete Robin stockend. »Ich habe nichts gesehen.«

»Deshalb bist du uns auch nachgeschlichen«, sagte Jan spöttisch.

»Ich habe dich zusammen mit Helle gesehen«, gestand Robin. »Und... und weil du ein Fremder bist und Fremde so selten in unser Dorf kommen...«

»...hast du dir gedacht, du spionierst uns mal ein bißchen hinterher, um zu sehen, was wir in dieser alten Kapelle so treiben«, führte Jan den Satz zu Ende. Er griente. »Na, was glaubst du denn, was im Moment da drüben in der Kapelle so alles passiert?«

Er lachte, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die Robin spüren ließ, daß er eigentlich von ihr erwartete, in dieses Lachen einzustimmen. Zugleich aber setzte der Scherz, für den er seine Worte offensichtlich hielt, ein Wissen voraus, das sie einfach nicht besaß.

»Helle ist dort drinnen«, sagte sie so. »Zusammen mit... noch jemandem.«

Jan starrte sie für die Dauer eines Atemzuges eindeutig fassungslos an, dann begann er zu lachen - nicht besonders laut, aber dafür um so ausdauernder.

»Ja«, sagte er kichernd. »So könnte man es nennen. Sie ist mit jemandem zusammen.« Er schüttelte den Kopf. »Hat dein Vater dir eigentlich gar nichts übers Leben beigebracht? Über das, was Männer und Frauen miteinander so treiben?«

»Mein Vater ist tot«, antwortete Robin.

»Oh«, sagte Jan. »Das tut mir leid.«

»Ich habe ihn gar nicht gekannt«, sagte Robin. »Er ist gestorben, bevor ich zwei Jahre alt war.« Sie war selbst ein wenig erstaunt, wie glatt ihr diese Lüge von den Lippen ging, aber sie las in Jans Gesicht, daß es ganz das war, was er in diesem Moment hören wollte.

»Und deine Mutter hat dir natürlich alles Lebenswichtige unterschlagen.« Jan schmunzelte noch immer, schüttelte aber dann den Kopf und wurde schlagartig wieder ernst. »Trotzdem haben wir ein Problem, Robin. Was soll ich jetzt mit dir tun?«

»Tun?«

»Tun«, bestätigte Jan ernst. »Mit dir, Robin. Ich meine, ich kann dich nicht einfach gehen lassen.«

»Warum nicht?«

Jan sah kurz zur Kapelle hin, ehe er antwortete. »Du hast vollkommen recht. Deine Helle trifft sich dort mit jemandem - mit meinem Herrn nämlich.«

»Und wer ist dein Herr?«

»Das kann ich dir nicht sagen. Aber niemand darf von diesem Treffen wissen. Euer ganzes Dorf könnte in Gefahr geraten, wenn es bekannt würde. Und mein Herr übrigens auch. Als sein Leibwächter kann ich das natürlich nicht zulassen.«

»Leibwächter?« fragte Robin. »Was ist denn das?«

Jan maß sie mit einem Blick, der ganz deutlich fragte: Weißt du denn eigentlich gar nichts, du Dummkopf?, antwortete aber trotzdem: »Ich habe geschworen, das Leben und das Wohlergehen meines Herrn zu schützen. Wenn es sein muß, mit meinem eigenen Leben.«

Das klang so ehrlich und aufrichtig, daß Robin gar nicht anders konnte, als den schwarzhaarigen Jungen einen Moment lang bewundernd anzustarren. Dann blickte sie wieder das Schwert an, das Jan achtlos neben sich ins Gras gelegt hatte.

»Dein Herr ist ein Ritter«, murmelte sie.

»Ein Tempelritter sogar.« Robin kannte den Begriff nicht, aber so, wie Jan ihn aussprach, schien es sich dabei um etwas ganz Besonderes zu handeln. »So wie ich auch.«

»Du bist ein... Ritter?« Es gelang Robin nicht ganz, den Zweifel aus ihrer Stimme zu vertreiben, aber Jan lachte nur.

»Du glaubst, ich wäre zu jung dazu? Nun, du würdest dich wundern. Es gibt Könige, die jünger sind als du.«

»Das glaube ich nicht!« sagte Robin impulsiv.

»Aber es ist die Wahrheit.« Jan hatte ihren Blick bemerkt und nahm nun das Schwert in die Hand. Er drehte es herum und hielt ihr die Waffe mit dem Griff voran hin.

»Möchtest du es einmal anfassen?«

Robin war viel zu verdattert, um überhaupt antworten zu können. Sie hatte noch nie ein Schwert aus solcher Nähe gesehen, aber sie wußte natürlich, welch ungeheuren Wert eine solche Waffe darstellte - und ganz besonders diese Waffe. Soweit sie das beurteilen konnte, bestand der mit feinstem Leder umwickelte Griff aus kunstvoll besetztem Gold. Knauf, Schaft und auch die lederne Scheide waren mit grünen, blauen und roten Edelsteinen besetzt. Robin vermochte seinen Wert nicht einmal zu erahnen, aber ihr war klar, daß dieses Schwert einem sehr, sehr reichen Mann gehören mußte. Und einem entsprechend mächtigen.

»Nur zu, mein Freund«, sagte Jan aufmunternd. »Zieh es ruhig heraus. Es beißt nicht.«

Robin griff zögernd nach dem Schwertgriff, schloß die Hand darum und zog die Waffe aus ihrer Umhüllung. Es gab einen hellen, schleifenden Laut, ganz anders, als sie erwartet hatte. Fast wäre ihr das Schwert gleich wieder aus der Hand gerutscht, so schwer war es. Mit einem erschrockenen Ausrufnahm sie auch noch die zweite Hand zur Hilfe, um es Jan nicht vor die Füße knallen zu lassen. Der junge Ritter runzelte die Stirn, sagte aber nichts. Ganz offensichtlich sonnte er sich in der Bewunderung, die sie dem prachtvollem Schwert - und damit auch ihm - zollte. Schließlich hielt er die Scheide in die Höhe und forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, das Schwert hineinzuschieben.

»Sei vorsichtig«, sagte er. »Die Klinge ist sehr scharf.«

Das hatte Robin schon am eigenen Leib gespürt. Sie schob das Schwert behutsam in seine lederne Umhüllung zurück, und Jan legte die Waffe ins Gras.

»Also, was mache ich jetzt mit dir?« fragte er. »Das Treffen zwischen Helle und meinem Herrn muß auf jeden Fall geheim bleiben. Ich müßte dich eigentlich töten.«

Robin starrte ihn an. Mit einem Male war sie gar nicht mehr so sicher, daß Jan sich nur einen derben Scherz mit ihr erlaubte oder sie nur einzuschüchtern versuchte. Vielleicht waren Ritter so. Vielleicht stellten sie die Pflicht ja tatsächlich über ihr Gewissen oder das, was sie dafür hielten.

»Ich werde niemandem etwas sagen, das schwöre ich«, sagte sie feierlich.

»Die Frage ist nur, was der Schwur eines Bauerntölpels wert ist, der weder schreiben noch lesen kann und einen Gottesdienst vermutlich nicht von einer Schweinehatz unterscheidet«, antwortete Jan. Seine Hand strich währenddessen in einer fast zärtlichen Geste über das Schwert.

»Andererseits... irgend etwas sagt mir, daß du ein ehrlicher Bursche bist. Wenn du mir also dein Wort gibst, niemandem etwas zu verraten, dann könnte ich dich vielleicht am Leben lassen. Aber ich meine wirklich niemandem, verstehst du? Auch nicht deiner Mutter oder deinen Freunden.«

»Das verspreche ich«, sagte Robin hastig. »Ich schwöre es, bei allem, was mir heilig ist!«

»Ja«, knurrte Jan. »Fragt sich nur, was das wohl sein mag.« Er wedelte mit der Hand. »Also los. Ich habe zwar das Gefühl, daß ich es bereuen werde, aber verschwinde. Und schnell, bevor ich es mir anders überlege.«

Das ließ sich Robin nicht zweimal sagen. Sie sprang auf, wirbelte auf der Stelle herum und verschwand mit weit ausholenden Schritten in der Dunkelheit, so schnell sie nur konnte.

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