KAPITEL 27

Die Stimmung in der Komturei verschlechterte sich zusehends. Bruder Abbé und Jeromé gerieten immer öfter ganz offen in Streit, und schon am nächsten Morgen erreichte ein Bote aus Elmstatt die Komturei, der allem Anschein nach keine guten Neuigkeiten brachte, denn Abbé wirkte danach noch besorgter als zuvor, und die Atmosphäre zwischen ihm und den drei anderen Tempelrittern kühlte noch weiter ab - so weit dies überhaupt noch möglich war, hieß das. Natürlich fragte sie Salim, was geschehen sei, bekam aber diesmal keine Antwort.

Dafür jedoch machte der Tuareg ihr eine Freude, die viel größer war, als er selbst ahnen mochte. Nachdem sie ihm die Nase blutig geschlagen hatte, hatte er tatsächlich nicht mehr darauf bestanden, sie in der Handhabung dieser Waffe zu unterrichten, aber sie hatten auch nicht mit Schwert und Dolch weitergeübt, sondern es für diesen Tag gut sein lassen.

Als sie sich am nächsten Nachmittag trafen, führte Salim sie nicht zur Lichtung, sondern blieb an der Schmalseite der Koppel stehen, auf der die Pferde der Tempelritter tagsüber grasten; ein gutes Dutzend Tiere, das die Templer abwechselnd ritten. Salim steckte Zeige- und Mittelfinger in den Mund und stieß einen schrillen, kurzen Pfiff aus, und eines der Tiere hob den Kopf und kam dann zu ihnen gelaufen.

Robin erkannte es sofort: Es war der kleine Schecke, den Jan geritten hatte. Er streckte den Kopf über den Zaun, bewegte die Ohren und sah sie aus seinen großen Augen an, als erkenne er sie tatsächlich wieder. Robin hob den Arm und legte ihm zögernd die Hand auf die Nüstern, und der Schecke stieß ein sonderbares, helles Geräusch aus, wie sie es noch nie zuvor von einem Pferd gehört hatte. Es hörte sich freundlich an; so freundlich, wie seine Augen blickten. Robin schloß das Tier sofort in ihr Herz.

»Gefällt er dir?« fragte Salim.

»Oh ja«, antwortete Robin mit leuchtenden Augen. »Er ist wunderschön!«

»Ich freue mich, daß du das sagst«, sagte Salim. »Und es triff sich auch ganz gut. Er gehört nämlich dir.«

Robin wandte überrascht den Blick. »Wie bitte?«

»Er gehört dir«, bestätigte Salim. »Er ist ein Hengst - mit allem, was dazugehört. Aber ein bißchen klein. Er könnte Jeromé oder gar Bruder Abbé nie und nimmer tragen, nicht einmal ohne ihre Rüstung. Aber für dich ist er genau richtig.«

»Aber er... er hat Jan gehört«, sagte Robin. Sie war immer noch vollkommen fassungslos, und es war einfach das erste, was ihr einfiel.

»Jan ist tot«, antwortete Salim. »Er braucht ihn nicht mehr. Und der Hengst wird ihn nicht vermissen. Sein früherer Herr hat ihn nicht besonders gut behandelt.«

Der Hengst wieherte leise, als wollte er Salims Worte bestätigen. Robin strich ihm noch einmal über die Nüstern, dann trat sie ein paar Schritte zurück, um das Tier in seiner vollen Größe zu betrachten. Salim hatte recht: Für einen Hengst war er wirklich nicht besonders groß, und insbesondere zwischen den gewaltigen Schlachtrössern der Tempelritter wirkte er wie ein Pony. Aber unter seinem gescheckten Fell bewegten sich ebenso starke wie geschmeidige Muskeln, und alles an ihm schien Eleganz und Schnelligkeit auszudrücken. Der Gedanke an Jan stimmte sie ein wenig traurig, aber die Freude über dieses großzügige Geschenk überwog bei weitem.

»Und er gehört wirklich mir?« vergewisserte sie sich.

»Wenn du ihn willst«, antwortete Salim. »Aber du mußt dich dann auch um ihn kümmern. Ihn füttern, sein Fell striegeln, ihn morgens auf die Koppel bringen und abends wieder zurück - und das alles neben deiner anderen Arbeit. Oh - und natürlich regelmäßig reiten.«

»Reiten?«

»Er ist ein Krieger«, antwortete Salim lächelnd. »Genau wie du und ich. Er muß in Bewegung bleiben, wenn er seine Fähigkeiten nicht verlieren will.«

»Aber ich kann nicht reiten!« protestierte Robin.

»Da habe ich etwas anderes gehört«, erwiderte Salim. »Aber selbst wenn: Es ist nicht sehr schwer. Ich bringe es dir bei.«

Robin wandte sich wieder zu dem gescheckten Hengst um. Er sah sie aufmerksam an, und seine Ohren - ein dunkelbraunes und ein weißes - bewegten sich unablässig, beinahe, als ob er ihrem Gespräch aufmerksam lauschte. Robin fiel erst jetzt auf, daß er bereits gesattelt und aufgezäumt war.

»Hast du Lust auf einen Ausritt?« Salim wartete ihre Antwort nicht ab - wohl, weil sie ihn gar nicht interessierte -, sondern stieß einen zweiten, etwas schrilleren und lauteren Pfiff aus, und ein zweites Pferd kam auf sie zugelaufen. Robin hätte auch ohne Salims Pfiff sofort gewußt, wessen Tier es war. Das Pferd war ein wenig größer als ihr (ihr?) Schecke, hatte ein rabenschwarzes Fell und Sattel und Zaumzeug in der gleichen Farbe. Ein Schatten, der von einem Schatten geritten wurde.

Salim öffnete das Tor, und die beiden Pferde kamen unaufgefordert herausgetrabt. Robin wollte erschrocken nach dem Zaumzeug greifen, um sie festzuhalten, damit sie nicht davonliefen, aber die Pferde blieben nach wenigen Schritten stehen, wandten in einer fast gleichzeitigen Bewegung den Kopf und schienen fast mitleidig auf sie herabzusehen. Sie machten keinen Versuch davonzulaufen.

Salim bemerkte ihr Erstaunen und lachte. »Keine Sorge«, sagte er. »Der Hengst würde niemals ohne sie davonlaufen - und Shalima würde mir nicht davonlaufen. Die beiden sind unzertrennlich.«

Salim deutete auf das schwarze Pferd. »Sie ist eine Stute und er ein Hengst. Ich habe sie als ganz junges Fohlen bekommen, und es war Liebe auf den ersten Blick.«

Bei diesen Worten sah er sie auf eine sonderbare Weise an, die Robin begreifen ließ, daß er nun eine ganz bestimmte Reaktion von ihr erwartete, aber Robin deutete nur auf den Hengst und fragte: »Wie ist sein Name?«

»Jan hat ihm einen Namen gegeben«, antwortete Salim, »aber ich finde, du solltest dir selbst einen Namen ausdenken. Er wird sich schnell daran gewöhnen.«

»Aber warum?«

Salim hob die Schultern und ging langsam zu Shalima und dem Schecken hin. »Sein alter Name erinnert ihn vielleicht zu sehr an seinen alten Herrn«, sagte er.

Robin runzelte die Stirn. Es war nicht das erste Mal, daß Salim so über Jan sprach. Meistens reagierte er gar nicht, wenn sie das Gespräch auf Jan zu bringen versuchte, aber er hatte auch schon die eine oder andere Andeutung gemacht, die Robin sicher sein ließ, daß Jan und er keine Freunde gewesen waren - oder ob er vielleicht einfach nur eifersüchtig war. Auf einen Toten?

»Ich suche einen Namen für ihn aus«, sagte sie.

Salim nickte, wedelte zugleich aber auch ungeduldig mit beiden Händen. »Komm. Laß mich sehen, ob du wirklich nicht reiten kannst. Du hast ja schließlich auch behauptet«, fügte er übertrieben vorwurfsvoll hinzu, »du könntest nicht mit Schwert und Morgenstern umgehen.«

»Das kann ich auch nicht.«

Salim seufzte. »Mein Vater hatte recht, mich vor euch Christen zu warnen. Ihr schreibt in eurer Bibel, daß lügen eine Sünde ist, aber ihr selbst haltet es mit der Wahrheit nicht so genau.«

»Eine Lüge zu einem Moslem ist keine Lüge«, sagte Robin spöttisch. »Jedenfalls keine schlimme.«

Es war nur als Scherz gemeint, eine jener kleinen harmlosen Neckereien, mit denen sie sich ständig gegenseitig hänselten, aber sie sah an seiner Reaktion, daß er ihre Worte überhaupt nicht lustig fand. Im Gegenteil - etwas in seinem Blick erlosch, um etwas anderem, Erschreckendem Platz zu machen. Wut? Das wollte sie nicht glauben. Aber sie spürte sehr deutlich, daß sie ihn verletzt hatte.

Es wäre an ihr gewesen, sich zu entschuldigen, doch statt dessen griff sie nach dem Sattelknauf und setzte den linken Fuß in den Steigbügel. Salim streckte die Arme aus, um ihr zu helfen, aber sie schwang sich mit einer so selbstverständlichen Bewegung auf den Rücken des Pferdes, als hätte sie ihr Lebtag lang nichts anderes getan. Sie selbst war vielleicht am meisten überrascht.

»Aha«, sagte Salim, drehte sich herum und stieg in Shalimas Sattel. Die schwarze Stute warf den Kopf zurück und wieherte leise, um ihren Herrn willkommen zu heißen.

»Es ist gar nicht so schwer«, sagte Salim. »Wenn du geradeaus willst, dann schnalzt du einfach mit den Zügeln. Willst du nach rechts, dann drückst du leicht mit dem rechten Bein, und nach links mit dem linken. Das ist beinahe schon...«

Er hatte wohl alles sagen wollen, aber Robin hörte es nicht, denn sie hatte kaum leicht an den Zügeln gezogen, da setzte sich der Hengst auch schon gehorsam in Bewegung und fiel in einen leichten Trab, so daß Salim sich sputen mußte, um zu ihr aufzuholen. Er lenkte Shalima an ihre Seite und maß sie mit einem schwer zu deutenden Blick, war aber für eine ganze Weile still. Erst als sie das kleine Wäldchen hinter sich hatten, hob er die Hand und deutete in östliche Richtung. Das Land stieg dort sacht an und mündete nach einer guten Meile in eine Kette etwas steiler ansteigender, bewaldeter Hügel.

»Wir reiten dort hinauf«, sagte er. »Und dann wieder zurück. Für den ersten Tag ist das genug. Und langsam. Überschätze dich nicht.«

Überschätzen? Robin hätte fast gelacht. Offenbar unterschätzte Salim sie, und zwar gewaltig. Den Schecken zu reiten, war nicht annähernd so schwer, wie sie gefurchtet hatte. In jener Nacht, als sie auf dem schwarzen Hengst zurück ins Dorf geritten war, hatte sie sich nur mit Mühe und Not im Sattel gehalten, aber das hatte wohl auch viel mit dem Schlachtroß zu tun, das sie nicht in den Griff bekommen hatte. Der Schecke dagegen war ein gehorsames und vor allem kluges Tier, das ihre Wünsche auf fast schon magische Weise vorauszuahnen schien. Und das sollte das große Mysterium des Reitens sein, eine Kunst, von der alle behaupteten, man brauche ein halbes Leben, um sie wirklich zu erlernen?

Sie trabten einige Minuten wortlos nebeneinander her, das aber auf seltsam unterschiedliche Art: Robin genoß es einfach, auf dem Rücken des Schecken zu sitzen und jede einzelne seiner kraftvollen, geschmeidigen Bewegungen zu spüren, als wäre es ihre eigene. Es war, als wären der Hengst und sie zu einer Einheit verschmolzen, einem einzigen Wesen, das nur noch zufällig in zwei Körpern wohnte.

Vielleicht war sie ein bißchen zu begeistert gewesen...

Sie hatten die Hälfte des Weges zu den Hügeln zurückgelegt, als Salim sein schon fast beleidigtes Schweigen brach. »Für jemanden, der nicht reiten kann, kannst du ziemlich gut reiten«, sagte er. »Aber werd jetzt nicht übermütig. Sich im Sattel zu halten ist nur der Anfang.«

»Und wer sagt dir, daß ich mich nur im Sattel halten kann?« fragte Robin spitz.

»Meine Augen«, antwortete Salim.

»Vielleicht sind sie ja nicht so gut, wie du glaubst«, antwortete Robin, die der Hafer stach. »Hol mich ein, wenn du kannst!«

Sie ließ die Zügel etwas lauter knallen, und ganz wie sie erwartet hatte, fiel der Schecke aus seinem raschen Trab in einen langsamen (aber trotzdem deutlich schnelleren!) Galopp. Es fiel ihr schwerer, sich im Sattel zu halten, aber noch nicht so schwer, daß sie Grund zur Sorge gehabt hätte.

Salim schien das etwas anders zu sehen. Mit einem ungehemmten Fluch ließ er auch seine Stute schneller ausgreifen, lenkte sie an ihre Seite und beugte sich im Sattel vor, um nach den Zügeln ihres Hengstes zu greifen. »Willst du dich umbringen?« keuchte er. Die Angst in seiner Stimme war echt.

Für einen winzigen Moment war Robin nahe daran, seine Hand einfach zur Seite zu schlagen; dann wurde ihr plötzlich klar, daß das wahrscheinlich das Dümmste war, was sie in diesem Moment tun konnte. Salim beugte sich weiter vor, aber in diesem Moment warf der Hengst plötzlich den Kopf in den Nacken, vielleicht erschreckt durch die Bewegung, die er im Augenwinkel wahrgenommen hatte, und Salims Hand griff ins Leere. Möglicherweise wäre trotzdem nichts passiert, hätte sich Robin angemessen verhalten und gar nichts getan - aber sie reagierte so falsch, wie es überhaupt nur möglich war: Statt es dem Tier zu überlassen, in seinen gewohnten Rhythmus zurückzufinden, schrie sie erschrocken auf und riß mit aller Gewalt an den Zügeln. Der Hengst wieherte vor Schmerz, als die Trense in sein empfindliches Maul biß und sein Kopf mit brutaler Gewalt zurückgerissen wurde.

Er ging durch.

»Festhalten!« schrie Salim. »Halt dich fest!«

Robin klammerte sich mit aller Kraft an den Zügeln fest. Wahrscheinlich machte sie damit alles nur noch schlimmer, aber sie konnte nicht anders. Aus ihrer Angst wurde von einem Lidzucken zum anderen nackte Panik. Sie preßte die Schenkel mit aller Gewalt gegen den Pferdeleib, krallte sich in die Zügel und beugte sich weit über den Hals des Tieres, um irgendwie ihr Gleichgewicht zu halten.

»Anhaltenl« schrie sie. »Halt an! Sofortl«

Ihr Schrei schien es eher schlimmer zu machen. Der Hengst griff mit gewaltigen Sätzen aus. Der Boden schien nur noch so unter ihr hinwegzufliegen. Salim spornte Shalima zu noch größerer Schnelligkeit an, streckte den Arm aus, so weit er konnte, und versuchte wieder, nach Robins Zaumzeug zu greifen. Er verfehlte es, und der Hengst schien sein Tempo noch einmal zu steigern. Die Hügel und der Waldrand sprengten ihnen regelrecht entgegen. Robin riß und zerrte immer verzweifelter am Zaumzeug, aber das Pferd wurde nur noch schneller, und sie konnte sich jetzt nur noch mit allergrößter Mühe im Sattel halten.

Salim versuchte zum dritten Mal, die Zügel zu fassen, aber seine Hand griff auch diesmal ins Leere, dann hatte der Hengst den Waldrand erreicht, und Salim mußte notgedrungen zurückfallen.

Obwohl Unterholz und Gebüsch gerade am Waldrand so dicht waren, daß ein Durchkommen fast unmöglich schien, preschte der Hengst mit unvermindertem Tempo weiter. Zweige und tiefhängendes Geäst schrammten über Robins Arme und Beine, zerrissen ihre Kleider und peitschten ihr Haar. Robin riß schützend den rechten Arm vors Gesicht, aber es nutzte nichts. Der Hengst jagte noch immer wie von Sinnen dahin, und der Wald wurde immer dichter. Manchmal schienen die Lücken zwischen den Bäumen kaum breit genug, um das Tier hindurchzulassen, und manche Äste trafen sie mit der Gewalt von Fausthieben. Das Pferd wieherte schrill vor Schmerz und Panik, wurde aber immer noch nicht langsamer. Es konnte nur noch Augenblicke dauern, bis es gegen einen Baum prallte oder Robin einfach von seinem Rücken gefegt wurde. Hinter ihr schrie Salim, und sie hörte an dem anhaltenden Splittern und Krachen, daß er seine Stute rücksichtslos durch das Unterholz peitschte, um mit ihr Schritt zu halten.

Schließlich kam es, wie es kommen mußte: Der Hengst streifte einen Baumstamm, wieherte vor Schmerz und Schrecken und geriet ins Straucheln, und Robin wurde mit unglaublicher Kraft von seinem Rücken und im hohen Bogen durch die Luft geschleudert. Noch bevor sie zu Boden fiel, sah sie, wie der Hengst endgültig das Gleichgewicht verlor und ebenfalls stürzte.

Sie schlug schwer auf dem Waldboden auf, überschlug sich drei-, vier-, fünfrnal hintereinander und wäre wahrscheinlich noch weiter gerollt, hätte nicht ein Busch ihrem Sturz ein jähes Ende bereitet.

Salim sprang aus dem Sattel, noch bevor sein Pferd auch nur sichtbar langsamer geworden war, und war mit wenigen, gewaltigen Sätzen bei ihr. »Robin! Liebste! Bei Allah! Ist dir etwas passiert?«

Robin richtete sich benommen auf und verzog das Gesicht, als ein stechender Schmerz durch ihr verlängertes Rückgrat fuhr. In ihren Ohren rauschte das Blut.

»Ist dir etwas passiert?« keuchte Salim. »Robin!«

Robin schüttelte noch immer benommen den Kopf und griff nach Salims hilfreich ausgestreckter Hand, aber sie ignorierte sowohl seine besorgten Blicke als auch die fast komisch anmutenden Gesten, mit denen er sie zurückzuhalten versuchte, sondern schob ihn einfach zur Seite und humpelte auf den gestürzten Hengst zu.

Das Tier wieherte kläglich, versuchte zwei- oder dreimal vergeblich, auf die Beine zu kommen und schaffte es erst, als Robin nach seinem Zaumzeug griff und ihm half - auch wenn es natürlich nur eine rein symbolische Geste war.

»Ist dir etwas passiert?« fragte sie. »Du darfst nicht verletzt sein, bitte nicht!« Sie wußte, daß ein Sturz für ein Pferd fatale Folgen haben konnte, wenn nicht tödliche - vor allem bei dieser Geschwindigkeit. Wenn sich der Hengst ein Bein gebrochen hatte, dann war es um ihn geschehen, und das durfte nicht geschehen, nicht jetzt, nicht, wo sie ihn gerade erst bekommen hatte!

»Verdammt noch mal!« Salim riß sie grob an der Schulter herum. »Was machst du dir Sorgen um dieses Pferd? Ist dir etwas passiert?!«

Robin schüttelte den Kopf und versuchte, seine Hände einfach abzustreifen, aber er verstärkte seinen Griff nur, so daß es nun fast weh tat. Er würde sie nicht eher loslassen, bis er eine Antwort bekommen hatte.

»Mir ist nichts passiert«, behauptete sie - ohne ganz sicher zu sein, daß das auch wirklich stimmte. Ihr tat nichts Bestimmtes weh, aber ihr ganzer Körper fühlte sich taub an, und ihre Finger- und Zehenspitzen kribbelten fast unerträglich.

»Laß mich los!« sagte sie wütend. »Ich muß nach Wirbelwind sehen!«

»Wirbelwind?«

Da Salim immer noch nicht reagierte, riß sie ihren Arm nun gewaltsam los und wandte sich wieder dem Hengst zu. »Wirbelwind«, bestätigte sie. »Du hast doch selbst gesagt, daß ich mir einen Namen für ihn aussuchen soll, oder?«

Besorgt musterte sie den Hengst. Sein geschecktes Fell war zerschunden und zerkratzt. Aus einigen besonders tiefen Schrammen sickerte Blut, und er schien nicht richtig auf der Stelle stehen zu können, sondern zog immer wieder den linken Vorderhuf an. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet. Flockiger weißer Schaum tropfte aus seinem Maul, und sein Atem ging pfeifend.

Salim maß sie mit einem sonderbaren Blick, trat aber dann wortlos an ihr vorbei und ließ sich neben dem Hengst auf die Knie sinken. Mit schnellen, sehr routiniert wirkenden Bewegungen tastete er seine Fesseln ab und stand dann auf, um prüfend mit der Hand über die Flanke und schließlich über den Hals des Tieres zu fahren.

»Er hat sich nichts gebrochen«, sagte er, »und die paar Kratzer sind rasch verheilt. Aber das war pures Glück. Er hätte sich dabei umbringen können. Du hättest dich umbringen können, verdammt!« Seine Augen blitzten vor Zorn, als er sich zu ihr herumdrehte.

»Aber ich habe doch gar nichts getan!« verteidigte sich Robin.

»Du hast die Nerven verloren«, erwiderte Salim. »Du warst leichtsinnig und bist in Panik geraten, als du gemerkt hast, daß du mit der Situation nicht mehr fertig wirst. Und das darf einfach nicht passieren, verstehst du? Ein Pferd spürt die Gefühle seines Reiters ganz genau. Du darfst niemals die Kontrolle über dich verlieren, oder du verlierst die Kontrolle über dein Tier. Hast du das verstanden?«

»Ja«, antwortete Robin.

»Gut.« Salim sah nicht überzeugt aus, aber er beließ es dabei. »Dann laß mich jetzt sehen, wie es dir geht.«

Robin wich einen Schritt zurück, als er nach ihr greifen wollte. Salim blinzelte überrascht und sah plötzlich ein bißchen verletzt aus.

»Entschuldige«, sagte Robin. »Aber mir fehlt wirklich nichts. Ich habe Glück gehabt.«

Salim hüllte sich in beleidigtes Schweigen, und Robins schlechtes Gewissen begann sich zu regen. Salim war wirklich in Sorge um sie. »Bitte entschuldige«, sagte sie noch einmal. »Ich war nur... nur erschrocken.«

»Dazu hast du auch allen Grund«, knurrte Salim. »Ich glaube, dir ist gar nicht klar, was für ein Glück du gehabt hast. Als ich gesehen habe, wie du gestürzt bist, da... da habe ich schon das Schlimmste befürchtet!«

»Zu früh gefreut«, antwortete Robin. »So schnell wirst du mich nicht los.« Salim blieb ernst und sah sie nur wortlos und auf eine Art an, die Robin fast unangenehm war. Vielleicht, weil sie sie nicht zu deuten vermochte.

Sie legte den Kopf auf die Seite, machte ein nachdenkliches Gesicht und fragte: »Vorhin, als ich vom Pferd gefallen bin - was hast du da zu mir gesagt?«

»Robin«, antwortete Salim. »Wie soll ich dich denn sonst nennen?«

»Nein, das meine ich nicht. Du hast noch etwas gesagt.«

»Ich habe Allah gedankt, daß dir nichts passiert ist«, antwortete Salim, aber sie las in seinen Augen, daß er ganz genau wußte, was sie meinte.

»Liebste«, sagte sie. »Du hast mich Liebste genannt.«

»Das ... ist mir nur so herausgerutscht«, behauptete Salim unbehaglich. »Ich war erschrocken. Da sagt man schon mal Dinge...«

»... die man nicht so meint?« fiel ihm Robin ins Wort.

»Nein!« antwortete Salim. »Ich meine ... doch. Ich...« Er brach ab, biß sich auf die Unterlippe und drehte sich dann mit einem Ruck wieder zu dem Hengst um. »Wirbelwind«, sagte er kopfschüttelnd. »Was für ein alberner Name.«

»Ich finde, er paßt... nachdem, was gerade passiert ist«, sagte Robin.

»Dann sollten wir uns ja vielleicht glücklich schätzen, daß er nur durchgegangen ist«, knurrte Salim, »und nicht etwa plötzlich sein Interesse für Shalima entdeckt hat oder schlimmen Durchfall bekommen hat. Stell dir vor, du müßtest für den Rest deines Lebens auf einem Hengst reiten, der Rammler heißt oder Apfelwerfer.«

Jetzt mußte Robin lachen, ob sie wollte oder nicht.

Salim lachte ebenfalls, drehte sich herum und streckte die Hand nach ihr aus - doch Robin wich erneut vor ihm zurück. Sie wußte genau, was er von ihr wollte, und sie hatte auch nichts dagegen - nur jetzt nicht.

Sie brauchte Zeit, und sie war vollkommen verwirrt. Er hatte sie Liebste genannt, und er hatte es ganz gewiß nicht einfach nur so getan, wie er es behauptete. Was sie vorhin in seinen Augen gelesen hatte, als er vom Pferd gesprungen war und sich über sie beugte, das war viel mehr als bloßes Erschrecken gewesen, sondern eine Sorge, die sie in diesem Moment gar nicht richtig verstanden hatte. Liebste...

Es war das erste Mal, daß dieses Wort zwischen ihnen gefallen war, und es erschreckte Robin im gleichen Maße, in dem es sie in tiefe Verwirrung stürzte. Sie mußte sich jetzt über ihre Gefühle dem Tuareg gegenüber klar werden, und das konnte sie nicht, wenn sie ihm gestattete, sie zu berühren und zu küssen und zu streicheln, wie er es so oft tat.

War es Liebe, was sie für ihn empfand?

Zum zweiten Mal in ihrem in dieser Hinsicht noch nicht besonders ereignisreichen Leben stellte sie sich diese Frage, aber diesmal fiel ihr die Antwort unendlich viel schwerer als damals bei Jan. Jan war einfach der erste Mann gewesen, den sie kennengelernt hatte, und was sie für ihn empfand, das war wohl eher eine Mischung aus Abenteuerlust und Neugier - auch wenn ihr das erst jetzt klar wurde. Salim ...

Nun, sie empfand etwas für ihn, aber sie wußte nicht mit letzter Sicherheit, was. Sie fühlte sich wohl in seiner Nähe, und sie vermißte ihn, wenn sie sich länger als einige Stunden nicht gesehen hatten. Sie mochte es, wenn er sie küßte, und wenn er sie in seinen Armen hielt, dann durchströmte sie manchmal ein so warmes Gefühl von Geborgenheit, daß sie ihn am liebsten nie wieder losgelassen hätte. Aber war das Liebe?

Salim sah sie einen Moment lang vorwurfsvoll an, dann griff er nach Wirbelwinds Zaumzeug und machte mit der anderen Hand eine einladende Geste. »Fühlst du dich kräftig genug, um allein aufzusteigen?«

»Aufsteigen?« wiederholte Robin irritiert.

»Das muß man, wenn man von einem Pferd gefallen ist«, behauptete Salim. »Du mußt sofort wieder in den Sattel steigen, oder du wirst es nie wieder tun.«

Er wiederholte seine auffordernde Geste, und Robin gab sich einen Ruck und trat neben den Hengst. Wirbelwind scheute leicht, als sie den Fuß in den Steigbügel setzte, aber Salim hielt ihn mit eiserner Hand unter Kontrolle.

Robins Herz klopfte, und ihre Hände und Knie zitterten heftig, als sie sich in den Sattel schwang. Sie glaubte plötzlich zu verstehen, was Salim gemeint hatte, als er behauptete, es wäre wichtig, nach einem Sturz sofort wieder aufzusteigen. Wirbelwind tänzelte noch einen Moment, beruhigte sich aber schließlich, so daß Salim ihn auf der Stelle herumdrehte und langsam in Richtung Waldrand ging. Shalima folgte ihnen mit einigen Schritten Abstand, ohne daß Salim ihr eigens dafür einen Befehl erteilen mußte.

Robin bückte sich, um einem tiefhängenden Ast auszuweichen, und Salim steigerte sein Tempo noch ein wenig. Er blickte starr nach vorne, und seine Bewegungen schienen Robin ein wenig zu abgehackt und kraftvoll. Wahrscheinlich war er gekränkt, weil sie ihn zurückgewiesen hatte. Bisher hatte sie das noch nie getan.

Salim führte sie bis zum Waldrand, blieb stehen und sah zu ihr hoch. »Du rührst dich nicht, verstanden?« sagte er grob. »Laß die Hände von den Zügeln, bis ich aufgesessen bin.«

Sie wartete, bis er auf Shalimas Rücken gestiegen und an ihre Seite geritten war, dann sagte sie unvermittelt: »Ich habe Jan gemocht, weißt du? Aber nicht geliebt.«

Salim schwieg. Ihre Worte hatten ihn überrascht, und er sah irgendwie ... ertappt aus.

»Eine Weile dachte ich, es wäre Liebe, aber das stimmte nicht«, fuhr Robin fort. »Es war einfach nur...« Sie suchte nach Worten. »Es war der erste Fremde, den ich kennengelernt habe. Der erste Mann. Und er konnte wunderschön erzählen.«

»Er war ein Aufschneider«, sagte Salim. »Er hat dir von seinen Abenteuern erzählt und den fremden Ländern, die er bereist hat?« Er schüttelte den Kopf. »Er hat keines dieser Abenteuer erlebt, und er ist niemals länger als eine Woche von der Komturei entfernt gewesen.«

»Du hast ihn wohl nicht besonders gemocht«, sagte Robin fragend.

Salim hob die Schultern und ließ die Stute antraben, bevor er weitersprach. Wirbelwind setzte sich ohne ihr Zutun in Bewegung, und Robin mußte sich beherrschen, um nicht vor Schrecken die Zügel loszulassen.

»Ich weiß es nicht«, sagte Salim. »Er war kein guter Mensch. Aber er ist vielleicht nur so geworden, weil er keine andere Wahl hatte.«

»Hat Bruder Abbé seinem Vater schon Bescheid gegeben, daß er... nicht mehr am Leben ist?« fragte Robin.

»Sein Vater ist schon seit Jahren tot«, antwortete Salim. »Aber ich hatte nicht den Eindruck, daß es Jan das Herz gebrochen hat, als er starb. Er war hart, trotz seiner Jugend, und er wäre ein noch härterer Mann geworden.«

Seltsam: Robin hatte nicht das Gefühl, daß Salim log, nur um schlecht über Jan reden zu können. Aber sie hatte einen vollkommen anderen Eindruck von Jan gehabt. Der Jan, den sie kennengelernt hatte, war ein fröhlicher junger Mann gewesen, der gerne lachte und trotz seiner Prahlerei im Grunde keiner Fliege etwas zuleide tun konnte. War es möglich, daß ein und derselbe Mensch zwei so grundverschiedene Seiten haben konnte?

Sie sah Salim an und wußte im gleichen Augenblick die Antwort auf ihre eigene Frage. Es war ein eindeutiges Ja.

Nur die Antwort auf die andere, viel drängendere Frage, die sie quälte, wußte sie immer noch nicht.

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