KAPITEL 18

Obwohl Bruder Abbé persönlich Robin befohlen hatte, sich in ihre Kammer im obersten Stockwerk des Turms zurückzuziehen und zu schlafen, ließ er sie kaum zwei Stunden später wieder zu sich rufen.

Robin hatte nicht geschlafen; natürlich nicht. Der Knecht, der sie aus ihrer Turmkammer holte, führte sie in dasselbe Gemach, in dem Salim und sie einen Teil der vergangenen Nacht verbracht hatten, nicht in Abbés karge Zelle eine Etage höher. Vielleicht war die Zeit des Versteckspielens für Abbé endgültig vorbei. Der Abbé jedenfalls, der Robin in dem luxuriös ausgestatteten Zimmer erwartete, war kein ehrfurchtgebietender, strahlender Ritter mehr, sondern ein müder, gebrochen wirkender alter Mann.

Abbé hatte seine Rüstung gegen das schmucklose graue Büßergewand getauscht, aber das schwere Kettenhemd und ein sauberer Wappenrock samt dazugehörigem Mantel lagen auf seinem Bett. Abbé selbst kniete in der Ecke neben dem Kamin, hatte die Hände gefaltet und betete lautlos und mit geschlossenen Augen. Erst, als der Knecht gegangen und er mit Robin allein war, stand er auf und ging mit müden Schritten zum Tisch.

»Setz dich, mein Kind«, sagte er.

Robin gehorchte. Sie hatte kein gutes Gefühl. Abbé in einem solchen Zustand zu sehen, erfüllte sie nicht mit Befriedigung, sondern mit dem genauen Gegenteil.

Eine Weile sah Abbé sie einfach nur an, so als erwarte er eine ganz bestimmte Reaktion von ihr, dann sagte er leise: »Du kannst also wieder reden.«

Leugnen hatte wenig Sinn, also antwortete Robin mit einem einzelnen, mühsam hervorgewürgten Wort: »Schwer.« Tatsächlich fiel es ihr jetzt sehr viel schwerer, zu sprechen, als noch in der Nacht; und es bereitete ihr auch sehr viel mehr Schmerzen.

»Streng dich nicht an, mein Kind«, sagte Abbé lächelnd. »Ich habe dich nicht rufen lassen, um dir Vorhaltungen zu machen oder dich zu verhören. Salim hat mir alles erzählt, was in der vergangenen Nacht geschehen ist. Es war klug von dir, auf ihn zu hören und niemandem zu verraten, daß du deine Stimme wiedergefunden hast.« Er lächelte traurig. »Es ist schade, daß Bruder Tobias dieses Wunder nicht mit ansehen kann. Obwohl es wahrscheinlich keinen großen Unterschied mehr macht.«

Wieder kehrte für lange, endlose Sekunden Stille ein. Dann sagte Abbé unvermittelt: »Hast du Angst vor dem Tod?«

Robin verstand den Sinn dieser Frage nicht ganz - nicht in diesem Moment -, aber sie nickte. Natürlich hatte sie Angst vor dem Tod. Jeder hatte das.

»Es mag sein, daß wir alle heute den Tod finden«, fuhr Abbé fort. »Oder doch auf jeden Fall viele von uns. Ein Kampf ist unvermeidlich. Ich habe soeben die Nachricht erhalten, daß Gunthar mit einem Heer von fast hundert Mann auf dem Weg hierher ist. Es wird zur Schlacht kommen.«

Robin nickte ernst.

»Ich erzähle dir das nicht ohne Grund«, fuhr Abbé fort. »Wie ich gesagt habe, ist ein Kampf unvermeidlich geworden. Aber du mußt nicht daran teilhaben. Noch ist Zeit für dich, die Komturei zu verlassen. Ich will dir nichts vormachen, Robin: Du wärst auch draußen nicht in Sicherheit, vielleicht noch viel weniger als hier bei uns. Gernot und Otto werden alles daransetzen, dich zu finden und zu töten, denn du bist die einzige noch lebende Zeugin für ihren Verrat. Aber wir können dir einen kleinen Vorsprung verschaffen. Ich gebe dir ein Pferd und einen Begleiter, der dich zu einer befreundeten Komturei im Süden bringen wird. Mit etwas Glück könnt ihr sie erreichen, bevor Elmstatt auch nur merkt, daß du nicht mehr hier bist. Es mag sein, daß er uns besiegt, aber wir werden ihm lange genug standhalten, bis du in Sicherheit bist.«

Robin befeuchtete die Lippen mit der Zunge und sammelte Kraft für die Frage, die sie Abbé stellen mußte.

»Aber ihr... braucht mich... doch. Ich kenne ... die Wahrheit.«

»Das ist wahr.« Abbé lächelte. »Leider spielt die Wahrheit schon lange keine Rolle mehr, mein Kind. Gott allein wird entscheiden, welches Schicksal uns erwartet. Es ist zuviel unschuldiges Blut vergossen worden. Zu viele sind gestorben, nur weil ihr Tod den Plänen eines anderen zupaß kam. Vielleicht hast du recht und wir brauchen dich, damit die Wahrheit ans Licht kommt. Aber ich bin es dir schuldig, dein Leben zu retten.«

»Warum?« fragte Robin.

»Du traust mir nicht«, stellte Abbé mit einem traurigen Lächeln fest. »Und wie könntest du auch? Ich habe dich belogen, und ich habe dich bedroht, und nun fragst du dich, ob nicht vielleicht doch ich hinter all dem stecke, nicht wahr?«

Robin sah den Tempelritter einen Herzschlag lang ernst an, aber dann schüttelte sie den Kopf. Nein, das fragte sie sich nicht. Nicht mehr. Sie hatte sich diese Frage gestellt, wenn auch nur insgeheim, aber sie wußte nun, daß sie Abbé damit Unrecht getan hatte. Er war ein harter Mann. Ein Krieger, der nicht zögerte, seinen Gegner im Kampf zu töten, oder auch hundert in den sicheren Untergang zu schicken, wenn es eine Schlacht zu schlagen galt. Aber eines war er gewiß nicht: ein heinitückischer Mörder.

»Und trotzdem ist es meine Schuld«, sagte Abbé leise. »Vielleicht ist alles nur eine Intrige Gernots, auch wenn ich ihren Grund noch nicht verstehe, aber ich war es, der ihm den Grund dafür geliefert hat. Nichts von alledem wäre geschehen, wäre ich nicht gewesen.« Er stand auf, trat ans Fenster und sah eine geraume Weile aus blicklosen Augen hinaus, ehe er noch leiser fortfuhr. Robin begriff, daß die Worte längst nicht mehr ihr galten. »Womöglich ist alles, was geschehen ist und noch geschehen wird, Gottes Strafe für meine Verfehlung. Ich habe gesündigt. Ich habe mein Gelübde gebrochen und mich der Fleischeslust hingegeben, und vielleicht bestraft Gott mich, indem er diese furchtbare Schuld auf meine Seele lädt.«

Robin war... fassungslos - zumal sie spürte, daß Abbé jedes einzelne Wort, das er sprach, ganz genauso meinte. Aber sie weigerte sich einfach, an einen Gott zu glauben, der so grausam war, mehr als vierzig Leben auszulöschen, um einen einzelnen Sünder zu bestrafen.

Aber es gab noch eine Frage, die sie stellen mußte. »Warum... habt Ihr das... gesagt?« flüsterte sie.

Abbé wußte sofort, was sie meinte. Wahrscheinlich hatte er die Frage erwartet. »In jener Nacht, als ich gedroht habe, deine Mutter und alle deine Freunde zu töten, wenn du mich verrätst?« Er schüttelte den Kopf und starrte weiter aus dem Fenster. »Weil ich ein alter Narr bin, deshalb. Weil ich überheblich und eingebildet genug war, mir einzureden, daß es die bequemste Lösung wäre. Weil ich dachte, ich könnte es mir leicht machen und mein Geheimnis wahren, indem ich einem dummen kleinen Bauernmädchen angst machte. Ich kann dich nur bitten, mir zu vergeben. Wirst du das?«

Am Anfang begriff Robin gar nicht, was er von ihr wollte - aber dann wurde es ihr schlagartig klar. Es war der Grund, aus dem er sie überhaupt hatte kommen lassen.

Er wollte, daß sie ihm die Absolution erteilte.

Doch wie konnte sie das?

»Du vergibst mir also nicht«, murmelte Abbé, nachdem eine Weile Schweigen zwischen ihnen geherrscht hatte. Er drehte sich vom Fenster weg und sah sie an. Sie war nicht ganz sicher, denn die Sonne stand fast genau hinter ihm und blendete sie - aber waren das Tränen in seinen Augen?

»Ich ... vergebe Euch«, sagte sie mühsam. Sie kam sich fast lächerlich vor, bei diesen Worten. Sie war ein halbes Kind, das nicht einmal ganz sicher war, ob es wirklich an Gott glaubte, und er ein heiliger Mann. Aber sie bekräftigte ihre Worte nun noch einmal mit einem Nicken. Sie verzieh eine Sünde, die in ihren Augen keine war, mit einer Lüge. Vielleicht war das sogar etwas, was Abbés verquerer Auffassung von göttlicher Gerechtigkeit nahe kam.

»Ich danke dir«, sagte Abbé. »Und nun wird es Zeit für dich, zu gehen.«

Robin schüttelte den Kopf.

»Nein?«

»Ich ... bleibe... hier«, stieß sie mühsam hervor.

»Hast du dir das auch gut überlegt?«

Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre nein gewesen. Aber wohin sollte sie gehen? Ihre Heimat war zerstört. Jeder Mensch, den sie gekannt und geliebt hatte, war tot, und der einzige Mensch, der ihr überhaupt noch etwas bedeutete, war hier, in diesen Mauern. Möglicherweise stimmten Abbés düstere Befürchtungen und sie würden dem Ansturm von Gunthars Männern nicht standhalten. Aber sie hatte den Ausdruck in Ottos Augen nicht vergessen. Dieser Mann würde nicht eher ruhen, bis er sie gefunden und getötet hatte, und wenn sie bis ans Ende der Welt vor ihm davonlief.

»Ich bleibe«, flüsterte sie.

»Dann soll es so sein«, antwortete Abbé. Er hätte niemals gewagt, es auszusprechen, aber sie spürte, daß er diese Entscheidung erhofft hatte. Egal, was er gesagt hatte, und ganz gleich, was er ihr schuldig zu sein glaubte - sie war vielleicht alles, was zwischen ihm und dem sicheren Tod stand.

»Geh jetzt zurück in den Turm«, sagte Abbé. »Es ist das sicherste Gebäude hier. Ich werde Salim beauftragen, dich zu beschützen, aber mich mußt du jetzt entschuldigen. Ich muß die Verteidigung vorbereiten.«

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