KAPITEL 30

Sie wandte sich an den einzigen Menschen in der Kornturei, dem sie außer Salim und Bruder Abbé vertraute: Sie waren bis zum Einbruch der Dämmerung im Wald geblieben und dann auf getrennten Wegen und zu unterschiedlichen Zeiten zurückgekehrt. Robin hatte sich kaum Zeit genommen, ihr Abendessen herunterzuschlingen, bevor sie zu Bruder Tobias hinaufging.

Der schlanke Mönch war in den letzten Tagen weiter genesen, aber trotzdem noch weit davon entfernt, gesund zu sein. Als Robin seine karg eingerichtete Kammer betrat, kniete er in einem Winkel neben der Tür und betete mit geschlossenen Augen. Seine Lippen bewegten sich, aber Robin hörte nicht den mindesten Laut. Einen Moment lang überlegte sie, ihn einfach zu unterbrechen, hatte dann aber doch Skrupel. Sie wußte, daß Bruder Tobias wahrscheinlich ruhig und voller Geduld darauf reagieren würde - er gehörte zu den Menschen, die gar nicht wirklich wütend werden konnten - aber sie wußte auch, wie wichtig Tobias das Gebet war. Sie geduldete sich, bis Tobias nach einer Ewigkeit die Augen wieder öffnete.

Ächzend versuchte er, sich aus seiner knienden Position in die Höhe zu stemmen, aber Robin spürte, wie schwer es ihm fiel, und so sprang sie rasch hinzu und streckte die Hand aus, um ihm zu helfen. Tobias griff mit einem dankbaren Nicken nach ihrem Arm und stützte sich so schwer darauf, daß Robin leicht schwankte, als sie ihn zu seinem Bett führte.

»Ich danke dir, Kind«, seufzte er. »Es ist eine Schande, wenn einem der eigene Körper den Gehorsam verweigert.« Er streckte eine schmale, zitternde Hand nach dem Tisch aus. »Sei so gut und gieß mir einen Becher Wasser ein, Kind.«

Robin ging gehorsam zum Tisch und füllte einen Becher aus dem bauchigen Tonkrug. Als sie ihn hochhob, stieg ihr ein verräterischer Geruch in die Nase. Sie schnüffelte demonstrativ an dem Becher, drehte sich zu Tobias herum und sagte in leicht vorwurfsvollem Ton: »Wasser?«

Tobias grinste. »Es ist auch Wasser darin«, sagte er. »Tatsächlich besteht Bier zum allergrößten Teil aus Wasser.«

»Was sagt Euer Arzt dazu?« wollte Robin wissen.

»Welcher Arzt?« Tobias lachte, aber das hätte er vielleicht besser nicht getan, denn sein Lachen ging unmittelbar in ein gequältes Husten über.

»Es gibt hier keinen Arzt«, fuhr er fort, nachdem er wieder halbwegs zu Atem gekommen war - und einen Schluck Bier getrunken hatte. »Nur Dummköpfe, die mir jahrelang nicht richtig zugesehen haben, worunter ich jetzt leiden muß.« Er trank einen weiteren Schluck Bier. »Außerdem steht nirgendwo in der Bibel, daß ein guter Schluck dann und wann verboten wäre. Im Gegenteil: Selbst Jesus Christus hat einen guten Becher Wein zur rechten Zeit nicht verschmäht.«

Robin konnte nicht lesen, und wußte folglich auch nicht, was in der Bibel stand und was nicht. Trotzdem sagte sie mit einem angedeuteten Schmunzeln: »Einen guten Schluck. Aber bestimmt kein ganzes Faß.«

Tobias zog eine Grimasse. »Wozu bist du hierher gekommen, Weib?« fragte er mit gespielter Verärgerung. »Um mich zu verhöhnen oder nur um einem sterbenden alten Mann seine letzte Freude zu vergällen?«

»Ihr sterbt noch lange nicht«, sagte Robin. »Und Ihr seid auch nicht alt.«

»Ich werde sterben«, beharrte Tobias. »Irgendwann. Und ich bin dreiundsechzig und damit dem Sarg ein gutes Stück näher als der Wiege.« Er trank einen weiteren Schluck, und als er den Becher wieder absetzte, war das spöttische Glitzern aus seinem Blick gewichen.

»Du hast Sorgen.«

Es war keine Frage, sondern eine reine Feststellung, bar jeder Wertung, die zeigte, daß sich hinter dem manchmal strengen Auftreten des Mönchs ein sehr empfindsamer Mensch verbarg, der durchaus in der Lage war, auch zwischen den Zeilen zu lesen.

»Gernot«, sagte sie leise. »Ich habe gerade Gernot von Elmstatt getroffen. Draußen im Wald.«

»Was wollte er?«

»Ganz sicher bin ich nicht«, gestand Robin. »Aber ich glaube, er... er hat gedroht, mich zu töten.«

»Das wundert mich nicht«, sagte Tobias finster. »Aber du mußt dir keine Sorgen machen. Solange du hier bist, kann dir nichts geschehen.«

»Aber ich werde nicht mehr lange hier sein«, sagte Robin. »Weil ihr alle nicht mehr lange hier sein werdet.«

Tobias wirkte für einen Moment überrascht, wenn nicht bestürzt. »Davon weißt du?«

Robin nickte nur.

»Und du hast Angst, daß wir einfach weggehen und dich deinem Schicksal überlassen.« Tobias leerte seinen Becher und streckte ihn auffordernd in ihre Richtung. Robin zögerte kurz, aber dann nahm sie gehorsam den Krug vom Tisch und schenkte nach. Der Krug war ohnehin beinahe leer.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, fuhr Tobias fort. »Glaubst du denn wirklich, daß Abbé dich einfach deinem Schicksal überläßt? Ohne dich wären wir alle hier jetzt tot. Abbé ist sicher nicht der herzensgute Mensch, als den er sich selbst gerne sähe, aber er ist ein Mann von Ehre, und er ist nicht undankbar. Er bezahlt seine Schulden.« Er trank einen - diesmal winzigen - Schluck und fuhr in zugleich beruhigendem wie auch schuldbewußtem Ton fort: »Für dich ist gesorgt, keine Angst.«

Gesorgt... Seltsam - aber gerade dieses Wort machte ihr Sorgen. »Was meint Ihr damit?«

»Du wirst uns begleiten«, sagte Tobias.

»Begleiten?« wiederholte Robin überrascht. »Nach Jerusalem?«

»Natürlich nicht«, antwortete Tobias mit einem verzeihenden Lächeln. »Aber Abbé hat dafür Sorge getragen, daß du gut untergebracht wirst. Es gibt ein Kloster, nicht sehr weit von hier, wo man sich um die Kranken und Waisen kümmert. Dort wirst du Aufnahme finden.«

»Oh«, sagte Robin.

Tobias lächelte. »Nun spring nicht gleich vor Begeisterung auf den Tisch. Du wirst es dort gut haben.«

Ja, das konnte sie sich lebhaft vorstellen - den ganzen Tag in einem grauen Büßergewand herumlaufen und abwechselnd beten, sich kasteien oder Kranke und Siechende pflegen - wenn sie nicht damit beschäftigt war, im Garten zu arbeiten oder die Fußböden zu schrubben.

»Das ist nicht das Leben, das du dir vorgestellt hast«, sagte Tobias, beinahe als hätte er ihre Gedanken gelesen. Vermutlich war es in diesem Moment nicht besonders schwer. »Das kann ich verstehen. Aber wir müssen uns in unser Schicksal fugen. Es steht uns nicht zu, Gottes Entschlüsse in Zweifel zu ziehen.«

»Gottes Entschlüsse - oder die Bruder Abbés?« fragte Robin impulsiv. Die Worte taten ihr im gleichen Moment schon wieder leid, in dem sie sie ausgesprochen hatte, aber Tobias schien sie ihr nicht übelzunehmen.

»Er führt sich schon manchmal so auf«, sagte er, »aber laß ihn das nicht hören.« Er stand auf und ging mit kleinen vorsichtigen Schritten und stark nach vorne gebeugt zum Tisch, schüttelte aber dann den Kopf, als Robin die Hand ausstreckte, um ihn zu stützen.

»In diesem Fall aber tust du ihm Unrecht«, fuhr er fort, nachdem er den Tisch erreicht und sich gesetzt hatte. »Abbé ist in großer Sorge um dich. Er tut alles, um dich zu beschützen - obwohl ihm deine Anwesenheit hier große Probleme bereitet. Vor allem, seit Bruder Horace hier ist.«

»Der fremde Tempelritter, der heute morgen kam?«, sagte Robin fragend.

»Ich wünschte, er wäre nur das«, seufzte Tobias. Robin sah ihn an und erwartete nun, daß er diese Bemerkung irgendwie erklären würde, aber er tat nichts dergleichen, sondern goß nur mit zitternden Händen den Rest aus dem Bierkrug in seinen Becher, trank aber nicht. »Ich traue ihm nicht«, fuhr er fort. »Er redet mir zuviel mit Jeromé.«

»Das bedeutet, daß Ihr Jeromé nicht traut«, schloß Robin.

Die Andeutung eines flüchtigen Lächelns huschte über Tobias' Lippen. »Du hast einen scharfen Verstand«, sagte er. »Gib nur acht, daß es nicht zu viele merken.«

»Ist es verboten, klug zu sein, wenn man eine Frau ist?« fragte Robin.

»Nein«, antwortete Tobias. »Aber vielleicht klüger, nicht klug zu sein. Oder es zumindest nicht zu zeigen. Männer wie Jeromé fürchten sich insgeheim vor Frauen, die klüger sind als sie ... bist du es denn?«

»Klüger als er?«

»Eine Frau«, antwortete Tobias. Sein Blick wurde forschend. Als Robin ihm nicht antwortete, sondern ihn nur ansah, schloß er die Augen und seufzte tief. »Ja, das habe ich mir fast gedacht. Das erspart mir die Frage, wozu Salim und du euch draußen im Wald trefft. Ich glaube, ich kenne die Antwort jetzt - wie übrigens jeder hier.«

»Es ist nicht so, wie Ihr denkt!« verteidigte sich Robin hastig, und Tobias hob noch hastiger die Hände zu einer abwehrenden Bewegung. Sie wäre nicht überrascht gewesen, hätte er das Kreuzzeichen geschlagen.

»Ich denke nichts«, sagte er. »Und verleite mich bitte nicht dazu, es zu tun, denn dann müßte ich zur Beichte gehen und vermutlich fünfhundert zusätzliche Ave Maria beten, wozu mir im Augenblick eindeutig die Kraft fehlt.«

Robin lächelte zwar, wurde aber sofort wieder ernst und stellte ganz leise die Frage, derentwegen sie eigentlich hier heraufgekommen war. »Aber was ist denn so schlimm daran? Ich... ich verstehe nicht viel von der Bibel und Gottes Willen, aber ich kann nicht glauben, daß er die Liebe verboten hat.«

»Ist es das denn?« fragte Tobias ernst. »Liebe?«

Robin schwieg einige Momente. »Ich... weiß es nicht«, gestand sie dann.

»Verwechsle nicht Liebe mit etwas anderem«, sagte Tobias. »Ich kann verstehen, was jetzt in dir vorgeht. Du bist ganz allein. Du hast furchtbare Angst, auch wenn du viel zu tapfer bist, um es dir selbst einzugestehen, und alles ist fremd und erschreckend für dich. Salim gibt dir genau das, wonach du dich so verzweifelt sehnst, nämlich Geborgenheit, Wärme und Vertrauen.«

»Und wenn das alles ist, was ich will?« fragte Robin.

»Das ist es nicht«, behauptete Tobias. »Du brauchst es, so verzweifelt wie ein Verdurstender einen Schluck Wasser. Aber es ist nicht das, was du willst. Es wird nicht genügen auf Dauer.«

»Dann ist es also keine Liebe«, sagte Robin traurig.

»Das habe ich nicht gesagt«, sagte Tobias. »Das eine gehört zum anderen, doch du mußt selbst entscheiden, ob du dir nicht vielleicht etwas vormachst. Wenn du hierhergekommen bist, um mich zu bitten, dir diese Entscheidung abzunehmen, dann muß ich dich enttäuschen. Das kann ich nicht. Niemand kann das.«

Seine Hand bewegte sich über den Tisch und griff nach der Robins, und für einen kurzen, schreckerfüllten Moment fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt und wieder vor ihrem brennenden Haus, denn Tobias' Haut fühlte sich fast so an wie die der alten Janna - trocken und rissig, alt und auch noch ein wenig fiebrig. Janna war wenige Augenblicke später gestorben. Getötet worden.

Nur weil diese Erinnerung so schrecklich war, zog sie die Hand mit einem erschrockenen Ruck wieder zurück, und Tobias, der das ja nicht wissen konnte, fuhr leicht zusammen und sah ein bißchen verlegen aus.

»Entschuldigt«, sagte sie hastig. »Ich wollte nicht...«

Sie brach ab und für einen Augenblick wurde die Stille zwischen ihnen noch unangenehmer. Schließlich räusperte sich Tobias unbehaglich und sagte, ohne sie anzusehen: »Ich bin jetzt müde. Das Reden strengt mich doch noch mehr an, als ich wahrhaben will, fürchte ich. Und du hast wohl recht: Ich sollte nicht soviel Bier trinken.«

Robin hatte verstanden. »Ich muß... sowieso gehen«, sagte sie stockend. »Ich wollte auch eigentlich nur nachsehen, wie es Euch geht.«

Sie rannte regelrecht aus dem Zimmer.

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