KAPITEL 34

Salim hatte sie entweder belogen, oder er verstand unter nicht weit von hier etwas vollkommen anderes als sie. Sie ritten Stunde um Stunde nach Süden und hielten nur einmal kurz an, um die Pferde zu tränken. Danach setzten sie ihren Weg fort. Sie mußten schon viele Meilen von der Komturei entfernt sein, aber Salim ritt stur immer weiter, bis sich der Tag neigte und die Sonne ihren Abstieg zum Horizont begann und sich allmählich rot färbte.

Obwohl sie mehr als einen halben Tagesritt hinter sich gebracht hatten, waren sie keiner Menschenseele mehr begegnet. Ein- oder zweimal hatte Robin Rauch in der Ferne gesehen, und einmal hatten sie eine Straße gekreuzt, die dicht vor dem Horizont in einer kleinen Stadt mündete. Ihr fiel dabei auf, daß Salim nicht in direkter Linie nach Süden ritt, sondern sich beinahe in Schlangenlinien bewegte, fast als folge er einer Spur. Aber wenn er es tat, dann vermochte sie sie nicht zu entdecken.

Vielleicht eine halbe Stunde vor Einbruch der Dämmerung hielt Salim plötzlich an und hob hastig die Hand. Auch Robin zügelte ihr Pferd und sah ihn fragend an. »Was ist los?«

Statt zu antworten, deutete der Tuareg mit dem Arm nach vorne. Robin blickte konzentriert in die angegebene Richtung, und nach einem Moment erblickte sie eine Anzahl winziger heller Punkte, von denen sie nicht ganz sicher war, ob sie sich bewegten oder nicht.

»Wer ist das?« fragte sie.

»Bruder Horace, und ein paar andere, fromme Krieger, die er zur Verstärkung mitgebracht hat«, sagte Salim abfällig. »Jedenfalls nehme ich es an. Jeromé wollte ihnen entgegenreiten.«

»Wozu?«

»Um Abbé anzuschwärzen, wozu sonst?« fragte Salim. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Ich glaube, ich kenne ihr Ziel. Hinter jenem Wäldchen dort liegt ein kleines Gasthaus. Wenn ich einen Hinterhalt planen würde, dann dort.«

»Einen Hinterhalt? Aber wozu denn?«

Salim seufzte. »Manchmal stellst du ziemlich naive Fragen. Gernot will unser aller Tod. Hast du das noch immer nicht begriffen?«

»Doch«, antwortete Robin. »Ich verstehe nur nicht, warum.«

»Ich auch nicht«, sagte Salim. »Jedenfalls nicht ganz. Ich werde ihn fragen, wenn ich ihm das nächste Mal begegne, verlaß dich darauf. Los! Hoffen wir, daß wir nicht zu spät kommen!«

Sie sprengten los.

Salim nahm nun keine Rücksicht mehr darauf, in Deckung zu bleiben, sondern ließ seine Stute in gerader Linie auf das halbe Dutzend winziger weißer Pünktchen am Horizont zupreschen, so schnell, daß Robin alle Mühe hatte mitzuhalten. Es gefiel ihr nicht. Salim hatte ihr immer wieder eingeschärft, wie wichtig es war, den Vorteil der Überraschung wie eine Trumpfkarte in der Hand zu halten. Jetzt aber gab er leichtfertig diesen Vorteil preis. Ihre donnernden Hufschläge mußten eine halbe Meile weit zu hören sein, und wenn Otto und seine Männer wirklich irgendwo dort vorne auf der Lauer lagen, dann hatten sie sie wahrscheinlich schon längst entdeckt. In ihrem weißen Mantel und auf einem Pferd mit strahlend weißer Schabracke war sie vermutlich so deutlich zu sehen wie eine Fackel in einer Neumondnacht. Es mußte wirklich viel auf dem Spiel stehen, wenn Salim ein so hohes Risiko einging, das auch sie gefährdete. Sie fragte sich nur, was. Daß es ihm um die Rettung von Bruder Horace und seinen frommen Kriegern ging, konnte sie sich kaum vorstellen. Bisher hatte sie nicht den Eindruck gewonnen, daß Salim viel um das Leben eines Tempelritters gab.

Die Reiter verschwanden nach einer Weile aus ihrem Blickfeld, und Salim lenkte Shalima etwas weiter nach links, vermutlich, um den Wald zu umgehen und ihnen den Weg abzuschneiden; oder, wenn möglich, noch vor ihnen das Gasthaus zu erreichen. Robin glaubte jedoch nicht, daß sie rechtzeitig ankommen würden. Der Weg war viel weiter, als sie geglaubt hatte. Obwohl sie ihre Pferde so schnell ausgreifen ließen, wie es nur ging, schien der Wald noch keinen Deut näher gekommen zu sein, und die Sonne hatte den Horizont mittlerweile berührt. Die Schatten wurden länger, und ein erster Hauch von Grau mischte sich in ihr Licht.

Es wurde dunkel, bis sie den Wald erreichten, und sie brauchten eine weitere Stunde, um ihn zu umgehen. Dann endlich sahen sie wieder Licht vor sich.

Robin atmete erleichtert auf. Sie hatte tapfer mit Salim mitgehalten, aber nun war sie am Ende ihrer Kräfte. Kettenhemd und Schild schienen Zentner zu wiegen, und ihr Atem ging so schnell, daß sie beim Luftholen keuchte. Auch Wirbelwind war vollkommen erschöpft, denn der tapfere Hengst mußte schließlich nicht nur ihr Gewicht tragen, sondern auch das zusätzliche des schweren Kettenpanzers, der sich unter seiner Schabracke verbarg.

Trotzdem wollte sie schneller reiten, um das restliche Wegstück möglichst schnell hinter sich zu bringen, aber Salim fiel ihr rasch in den Arm und schüttelte den Kopf. »Wir müssen jetzt vorsichtig sein«, flüsterte er. »Sie sind hier. Ich kann sie spüren!«

Robin lauschte angestrengt. Sie hörte ihre und Salims Atemzüge, ihre eigenen, dumpfen Herzschläge und die vielfältigen Geräusche des Waldes, der sie umgab, aber sonst nichts. Salim hatte wohl schärfere Sinne als sie.

»Steig ab«, fuhr er im Flüsterton fort. »Wir gehen das restliche Stück zu Fuß. Und keinen Laut!«

Robin gehorchte, warf aber einen sehnsüchtigen Blick zu dem warmen Lichtschein am Ende des Weges. Er versprach Geborgenheit und Wärme, und sie fühlte sich so müde. Sie wollte nicht mehr kämpfen. Es war zuviel passiert. Sie wünschte sich, sie hätte die Komturei nie verlassen.

Sie waren ihrem Ziel auf vielleicht hundertfünfzig oder zweihundert Schritte nahegekommen, als Salim abermals stehen blieb und den Zeigefinger über die Lippen legte. »Bleib hier«, flüsterte er. »Rühr dich nicht!«

Er reichte ihr Shalimas Zügel, drehte sich wieder herum und schien dann einfach zu verschwinden, wie ein Schatten, der von einer schwarzen Steinmauer verschluckt wurde.

Robin mußte wieder daran denken, wie er sich einmal selbst genannt hatte: Schattenkrieger. Sie verstand plötzlich ein bißchen mehr, was er damit gemeint haben mochte. Und es machte ihr Angst.

Es verging eine Weile, dann hörte sie einen sonderbaren, erstickten Laut, fast wie ein Seufzen, gefolgt vom Rascheln von Blättern und dann dem leisen Brechen eines einzelnen Astes. Kurz daraufkam Salim zurück. Er sagte nichts, aber sie verspürte einen leisen, salzigen Geruch, der ihn umgab und den sie nach einer Sekunde voller Schrecken als den von Blut identifizierte.

»Und?« fragte sie mühsam beherrscht.

»Ein Wachtposten«, antwortete er. »Aber nur einer. Er wird uns nicht verraten.«

Robins Hände begannen für einen Moment zu zittern. Sie hatte sich sofort wieder unter Kontrolle, doch was sie nicht unterdrücken konnte, das war das tiefe Entsetzen, mit dem sie die Kälte in Salims Stimme erfüllte. Er hatte soeben einen Menschen getötet. Vermutlich hatte er keine Wahl gehabt - zumindest von seinem Standpunkt aus -, aber das machte es nicht besser. Sie hätte es sogar ertragen, Triumph in seiner Stimme zu hören, aber was sie zutiefst erschütterte, das war die vollkommene Teilnahmslosigkeit in seiner Stimme.

»Wir lassen die Pferde besser hier zurück«, fuhr Salim im Flüsterton fort. »Es ist nicht mehr weit.«

Robin nickte knapp. Sie war froh, daß es so dunkel war, daß Salim ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Dicht hinter dem Tuareg führte sie ihr Pferd ein Dutzend Schritte weit in den Wald hinein und machte Wirbelwind an einem Baum fest. Sie wollte zum Weg zurückgehen, aber Salim schüttelte lautlos den Kopf und deutete in den Wald hinter sich. Mit der gleichen Bewegung befestigte er den Schleier vor seinem Gesicht, so daß er nun vollends unsichtbar zu werden schien.

Auf einen weiteren Wink Salims hin löste sie den Schild vom Sattelgurt, befestigte ihn an ihrem linken Arm und stülpte sich den schweren Topfhelm über, dann folgte sie ihm.

Ohne Salims Hilfe hätte sie vermutlich schon nach wenigen Schritten hoffnungslos die Orientierung verloren. Hier drinnen im Wald war es so finster, daß sie kaum die Hand vor Augen erkennen konnte, und ihr Helm, der nur einen schmalen, kreuzförmigen Sehschlitz hatte, behinderte sie noch zusätzlich. Robin hatte das Gefühl, stundenlang durch fast vollkommene Dunkelheit zu gehen, geführt von einem Gespenst, das dunkler als die Nacht war.

Nach einer Ewigkeit - die kaum fünf Minuten gedauert haben mochte - wurde es vor ihnen grau. Sie näherten sich dem Waldrand. Salim gab ihr mit Gesten zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollte, eilte voraus und winkte ihr erst zu, als er sich davon überzeugt hatte, daß vor ihnen alles ruhig war.

»Wir sind zu spät gekommen«, murmelte Salim. »Verdammt!«

Robin blickte gebannt durch die Zweige des dornigen Busches, hinter dem sie Deckung gesucht hatten. Das Gasthaus lag vor ihnen, noch zwanzig oder dreißig Schritte entfernt, und im ersten Moment fragte sie sich, ob sie vielleicht am falschen Haus angekommen waren. Es sah nicht aus wie ein Gasthaus - obwohl sie zugeben mußte, daß sie noch niemals ein Gasthaus gesehen hatte. Aber sie hätte es sich anders vorgestellt. Es war überraschend klein und aus massiven Steinquadern erbaut. Auf der ihr zugewandten Seite gab es nur die Tür und ein schmales Fenster, vor dem ein massiver, hölzerner Laden lag, und das flache Dach war mit Stroh gedeckt und mit großen Steinen beschwert. An der Rückseite war eine offene Remise angebaut, in der sie fünf Pferde mit weißen Schabracken zählte.

»Wieso zu spät?« fragte sie.

Salim bedeutete ihr erschrocken, leiser zu sein, dann deutete er auf einen Punkt ein Stück hinter und neben dem kleinen Steinbau. Robin sah erst nach einer Weile etwas, was ein menschlicher Umriß sein konnte, oder auch nicht.

»Da drüben sind noch mehr«, flüsterte Salim. Sein Arm deutete hierhin und dorthin, aber Robin sparte sich bald die Mühe, in die angedeutete Richtung zu sehen. Salim hatte deutlich bessere Augen als sie.

»Ich zähle acht«, flüsterte er. »Aber es können auch mehr sein.«

Acht? Robin identifizierte mittlerweile mit Mühe und Not zwei Gestalten. Sie schienen etwas zu tragen, aber sie konnte nicht erkennen, was.

»Diese Hunde!« keuchte Salim. »Das... das ist teuflisch!«

»Was?« fragte Robin.

Salim brauchte nicht mehr zu antworten. Plötzlich erwachte die Dunkelheit rings um das Gasthaus zu schattenhaftem Leben, und Robin begriff, daß die Falle nicht nur sorgsam vorbereitet, sondern auch geradezu teuflisch ausgedacht war. Drei oder vier Paare dunkel gekleideter Gestalten, die jeweils einen wuchtigen Balken oder vielleicht auch einen Baumstamm zwischen sich trugen, lösten sich vom Waldrand und rannten auf das Gebäude zu. Sie erreichten es nahezu gleichzeitig, und Robin hörte ein mehrfaches dumpfes Poltern. Beinahe gleichzeitig glomm auf der anderen Seite des Gebäudes ein winziger Funke auf, der rasch zu einer lodernden Fackel wurde.

»Großer Gott!« entfuhr es Robin, als sie endgültig begriff, was die Angreifer vorhatten. Sie senkte die Hand auf das Schwert und wollte aufspringen, aber Salim riß sie fast gewaltsam zurück.

»Bleib hier«, zischte er. »Es sind zu viele. Das wäre Selbstmord!«

»Aber wir müssen etwas tun!« keuchte Robin.

Eine zweite Fackel loderte auf, dann flogen zwei funkensprühende Wurfgeschosse durch die Nacht. Eine der Fackeln verfehlte ihr Ziel, aber die andere landete zielsicher auf dem Dach des Gasthauses.

»Warte hier!« sagte Salim. »Ich versuche sie abzulenken. Du mußt irgendwie die Tür aufmachen. Aber tu nichts, bevor ich zurück bin!«

Er verschwand, bevor Robin ihn zurückhalten konnte. Für einen Moment geriet sie in Panik, und das Gefühl der Hilflosigkeit wurde so schlimm, daß es fast weh tat.

Aus dem Gasthaus drangen mittlerweile Schreie und dumpfe Schläge, als die Ritter das Feuer bemerkten und wohl auch begriffen, daß sie in einen Hinterhalt gelockt worden waren und versuchten, das Gebäude zu verlassen. Sie konnten es nicht. Die Baumstämme, die die Angreifer herbeigeschleppt hatten, blockierten sowohl die Tür als auch die schweren Fensterläden.

Wo blieb Salim?

Ihr Blick irrte zum Dach, und im ersten Moment war sie erleichtert, als sie sah, daß das Strohdach keineswegs in hellen Flammen stand, wie die Angreifer zweifellos gehofft hatten. Vermutlich war das Dach feucht. Es brannte nur mit kleinen, bläulichen Flammen. Dann aber sah sie den schweren Rauch, der in trägen Schwaden über das Dach kroch und mit Sicherheit auch in das Gebäude eindrang. Die Männer dort drinnen würden vielleicht nicht verbrennen, aber qualvoll ersticken. In das dumpfe Hämmern und die Schreie mischte sich bereits ein immer lauter werdendes, qualvolles Husten.

Robin konnte nicht mehr still sitzen bleiben. Sie sprang auf, zog das Schwert aus der Scheide und machte einen Schritt, blieb dann aber stehen. Sie zählte mittlerweile mehr als acht Gestalten. Salim hatte recht: Es wäre Selbstmord, irgend etwas zu unternehmen, ganz gleich, was. Sie konnte nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen, wie die Männer in dem Haus dort drüben qualvoll starben.

Plötzlich barst der Waldrand nicht weit von ihr entfernt auseinander, und ein schwarzes Gespenst brach hervor. Salim hatte sich so weit über den Hals seines Pferdes gebeugt, daß das Tier und er fast zu einem einzigen, rasenden Schatten zu verschmelzen schienen. Er hatte den Schild erhoben, und das tödliche silberne Rad eines Morgensternes kreiste über seinem Kopf.

Der Angriff kam so überraschend, daß der erste von Ottos Männern nicht einmal begriff, was ihn umbrachte. Salims Morgenstern fand mit tödlicher Sicherheit sein Ziel und zerschmetterte seinen Schädel, und noch bevor er zu Boden fiel, sprengte Salim bereits an dem zusammenbrechenden Körper vorbei und attackierte einen zweiten Mann. Dem gelang es zwar, seinen eigenen Schild in die Höhe zu reißen und zwischen sich und den heruntersausenden Morgenstern zu bringen, aber der Hieb war so gewaltig, daß er den Schild einfach zerschmetterte und seinen Arm brach. Der Mann wurde zurückgeschleudert, und Salim sprengte weiter und attackierte schon wieder den nächsten Feind. Für einen Moment sah es fast so aus, als könnte er das knappe Dutzend Männer ganz allein besiegen.

Natürlich konnte er es nicht, und er wollte es auch gar nicht. Der ganze Sinn seines selbstmörderischen Überfalles war, die Angreifer vom Haus wegzulocken, und es gelang ihm tatsächlich. Shalima pflügte durch die Reihen der Männer wie ein toll gewordener Schlitten durch ein Kornfeld. Drei, vier Männer warfen sich entsetzt zur Seite, um Salims tödlicher Waffe zu entgehen, der Rest setzte mit wütendem Gebrüll zur Verfolgung an. Für einen Augenblick war vor der Tür des brennenden Gasthauses niemand mehr.

Robin rannte los.

Sie war gute zwanzig oder fünfundzwanzig Schritte von der Tür entfernt, und es war schier unmöglich, daß sie diese Strecke zurücklegen sollte, ohne aufgehalten zu werden, aber das Wunder geschah: Salims Ablenkung war so erfolgreich, daß sie das Haus unbehelligt erreichte. Im vollen Lauf und ohne innezuhalten warf sie sich gegen den Baumstamm, der schräg gegen die Tür gerammt worden war.

Der Anprall schleuderte sie zurück und zu Boden. Der Baumstamm zitterte nicht einmal, aber Robin sah aus den Augenwinkeln, wie mindestens zwei der Angreifer herumfuhren und mit gewaltigen Sätzen in ihre Richtung rannten, und über ihr fing das Dach des Gasthauses nun doch Feuer, und das mit einem einzigen, krachenden Schlag. Flackerndes, rotes Licht erhellte von einer Sekunde auf die andere die nähere Umgebung, und ein Schwall intensiver Hitze schlug ihr entgegen und nahm ihr den Atem, als sie aufsprang. Brennendes Stroh und Funken regneten auf sie herab. Robin riß schützend den Schild über den Kopf, ignorierte die beiden Männer, die in ihre Richtung rannten, und zerrte und riß mit verzweifelter Kraft an dem Balken.

Diesmal bewegte er sich. Aber nicht weit genug. Die Männer hatten den Balken nicht einfach gegen die Tür gelehnt, sondern sein anderes Ende regelrecht in den Boden hineingerammt, und das verzweifelte Anrennen der im Haus gefangenen Tempelritter gegen die Tür machte alles nur noch schlimmer.

Robin warf sich noch einmal und mit verzweifelter Kraft gegen die Barrikade, sah eine Bewegung aus den Augenwinkeln und warf sich instinktiv herum. Eine Schwertklinge hackte dicht neben ihr in den Balken. Robin wirbelte herum, riß ihren Schild in die Höhe und stieß damit zu, genau wie Salim es ihr gezeigt hatte. Das Ergebnis war verblüffend: Der Mann stolperte zurück, ließ seine Waffe fallen und stürzte zu Boden, aber schon war der zweite Angreifer heran und schlug zu.

Robin parierte seinen Hieb mit hochgerissenem Schwert, drehte die Klinge um eine Winzigkeit und vollführte eine kreiselnde, blitzschnelle Bewegung aus dem Handgelenk, als das Schwert funkensprühend an ihrer eigenen Waffe entlangglitt. Das Schwert wurde dem Angreifer aus der Hand gerissen und flog im hohen Bogen davon, und Robin war mit einem blitzschnellen Schritt hinter ihm und trat ihm wuchtig in die Kniekehle. Der Angreifer stolperte und fiel mit hilflos rudernden Armen gegen den Balken, und wozu Robins Kräfte nicht gereicht hatten, das vollendete sein Anprall: Der Balken rutschte zur Seite, und die Tür des Gasthauses flog auf und prallte mit solcher Wucht gegen die Wand, daß sie zersplitterte. Lodernder Feuerschein und eine brodelnde Rauchwolke quollen aus der Tür, dann taumelte eine Gestalt in einem rußgeschwärzten, weißen Wappenrock ins Freie, brach in die Knie und übergab sich qualvoll.

Die Gefahr war noch nicht vorbei. Irgendwo, am anderen Ende der Welt, wie es schien, kämpfte Salim gegen mehrere Männer zugleich, aber der Großteil der Angreifer hatte mittlerweile gesehen, was geschah, und stürmte heran.

Auch der Mann, den Robin zuerst niedergeschlagen hatte, war schon wieder auf den Beinen und hatte sein Schwert aufgelesen.

Robin erstarrte, als sie in sein Gesicht sah. Es war finster, brutal und von einer langen Narbe gezeichnet, die über Stirn, Auge und Wange bis zum Mundwinkel hinunter reichte.

Es war Otto, Gunthar von Elmstatts ehemaliger Waffenmeister.

Da sie selbst einen Helm trug, war es unmöglich, daß er sie erkannt hatte, aber das hinderte ihn nicht daran, sie sofort und mit haßverzerrtem Gesicht anzugreifen.

Es gelang Robin, seine beiden ersten Schläge mit mehr Glück als Können zu parieren, aber schon sein dritter Hieb war so hart, daß er ihren rechten Arm lahmte und das Schwert aus ihren gefühllosen Händen glitt. Otto schrie triumphierend auf und riß seine Waffe zum entscheidenden Schlag in die Höhe, und wie aus dem Nichts wuchs eine riesenhafte Gestalt in Weiß und Rot neben Robin auf. Ihr Schwert bewegte sich so schnell, daß es zu einem fließenden Schatten zu werden schien, und enthauptete Otto. Sein Schädel flog davon und rollte wie ein grausiger Ball über den Boden, während sein kopfloser Torso noch einen Moment reglos, ja, sogar mit erhobenem Schwert, stehenblieb und dann stocksteif nach vorne kippte, um Robin im Zusammenbrechen unter sich zu begraben. Sie schrie vor Entsetzen und Ekel. Ottos Leichnam lag wie eine Zentnerlast auf ihr und drohte sie zu ersticken, als wollte er noch im Tode seine Rache an ihr vollziehen, und sein Blut lief warm und klebrig über ihre Hände.

Als es ihr endlich gelungen war, sich ihrer grausigen Last zu entledigen, hatte sich das Blatt gewendet. Mindestens vier, wenn nicht mehr Tempelritter waren auf dem Schlachtfeld erschienen, auch wenn sie ihren Gegnern an Zahl noch immer hoffnungslos unterlegen waren, so war der Kampf doch damit entschieden.

Die Tempelherren schlachteten ihre Gegner regelrecht ab. Das Gemetzel - denn mehr war es nicht - dauerte nur noch wenige Augenblicke, dann lagen die meisten Angreifer tot oder schwer verwundet am Boden, und die wenigen Überlebenden suchten ihr Heil in der Flucht.

Nur den wenigsten gelang es. Die Templer, außer sich vor Wut, setzten ihren Gegnern nach und holten die meisten ein, bevor sie den rettenden Wald erreichen konnten. Robin schätzte, daß nicht mehr als zwei oder drei der Rache der Krieger in Weiß und Rot entkamen.

»Seid Ihr verletzt, Bruder?«

Robin hörte die Worte zwar, aber es dauerte eine Weile, bis sie auch nur begriff, daß die Frage ihr galt. Müde hob sie den Kopf und blickte in ein bärtiges, schweißglänzendes Gesicht, aus dem ein dunkles Augenpaar voller Sorge auf sie herabblickte.

»Ich... glaube nicht«, murmelte sie. Sie hob die Hände und versuchte den Helm abzustreifen, schaffte es aber nicht. Ihr rechter Arm war noch immer gelähmt.

»Wartet, ich helfe Euch«, sagte der Tempelritter. Beinahe sanft zog er Robin den Helm ab und riß dann verblüfft die Augen auf, als er in ihr Gesicht sah.

»Oh!« entfuhr es ihm. »Ihr seid...«

»...nicht verletzt«, fiel ihm Robin hastig ins Wort. Ihr Herz hämmerte. Der Templer sah sie direkt an, und er mußte einfach erkennen, wen er vor sich hatte.

Dann wurde ihr klar, was er wirklich sah: Sie war über und über mit Ottos Blut besudelt. Ihr Wappenrock war mehr rot als weiß, und auch ihr Gesicht fühlte sich klebrig an. Der Helm, den der Templer noch in den Händen hielt, schimmerte in hellem Rot.

»Mir fehlt nichts«, versicherte sie mit zitternder Stimme. Sie war zu matt, und ihr Hals schmerzte zu sehr für langwierige Erklärungen, und so deutete sie nur mit einer Kopfbewegung auf den blutenden Torso, der neben ihr lag. Der Blick des Tempelritters folgte der Bewegung, und er verstand.

»Habt Ihr... mich gerettet?« fragte sie mühsam.

»Ich habe nur einen geringen Teil der Schuld zurückgezahlt, in der wir Euch gegenüberstehen«, antwortete der Ritter. »Ohne Euch wären wir alle elendiglich verbrannt. Mein Name ist Horace. Und Eurer?«

»Robin«, antwortete Robin erschrocken. Horace? Das war Horace, dessen bloße Anwesenheit die ganze Komturei in Angst und Schrecken versetzt hatte? Sie rettete sich in einen nur zum Teil gespielten Hustenanfall, und Horace legte den Helm aus der Hand und stand auf.

»Ruht Euch aus, Bruder Robin«, sagte er. »Was hier noch zu tun ist, darum kümmern wir uns jetzt.«

Bruder Robin schloß zum Zeichen ihres Einverständnisses kurz die Augen, und Horace wandte sich endgültig um und ging. Robin blieb noch einen Moment reglos sitzen, um neue Kraft zu schöpfen, dann hob sie müde die Hände und versuchte, sich wenigstens das ärgste Blut aus dem Gesicht zu wischen, machte damit aber vermutlich alles nur schlimmer. Sie stand umständlich auf, wobei sie fast krampfhaft versuchte, nicht in die Richtung des kopflosen Leichnames neben sich zu blicken. Eine Mischung aus Ekel und dumpfer Verzweiflung hatte sie gepackt. Sie wünschte sich weg, weit, weit weg, und sie hatte plötzlich Angst vor sich selbst. Als sie sich nach Schild und Schwert bückte, mußte sie all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um die Waffen an sich zu nehmen. Es war nicht das erste Mal, daß sie Tempelritter im Kampf beobachtete. Sie wußte, wozu diese hochtrainierten und von heiliger Besessenheit erfüllten Krieger Gottes in der Lage waren. Aber diesmal war sie nicht nur Opfer oder unbeteiligte Zeugin gewesen, sondern hatte an dem Kampf teilgenommen. Daß sie selbst niemanden getötet hatte, machte es keinen Deut besser. Sie betrachtete das Schwert in ihrer Hand eine Zeitlang, ehe sie es in die Scheide schob. An der bläulich schimmernden Klinge klebte Blut, Ottos Blut, das aus seinen zerschnittenen Halsschlagadern wie eine Fontäne überall hin gespritzt war - wie um ihr zu zeigen, daß sein Blut an ihrem Schwert klebte, ob sie es nun wahrhaben wollte oder nicht.

Was hatte Salim gesagt? Du bist unter dem Schwert aufgewachsen ...

Was, dachte sie schaudernd, wenn er mit diesem harmlosen Scherz der Wahrheit näher gekommen war, als sie beide in diesem Moment gewußt hatten? Vielleicht war es die Wahrheit gewesen, und vielleicht hatte der englische Soldat ihr mehr hinterlassen, als ein rostiges Schwert und einen alten Schild.

Sie bückte sich nach dem Helm, klemmte ihn unter den linken Arm und drehte sich müde herum.

Der Kampf war vorüber, und die fünf Tempelritter kümmerten sich nun gegenseitig um ihre Verletzungen, die zum allergrößten Teil aus Brandwunden und eher leichten Schnittwunden zu bestehen schienen. Dann aber sah sie, daß der Sieg vielleicht doch nicht so triumphal gewesen war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte: Zwischen den Leichen der Angreifer lag auch eine reglos ausgestreckte Gestalt in Weiß.

Sie ging hin und stockte mitten im Schritt, als sie den Toten erkannte.

Es war Jeromé.

Sein Gesicht war rußgeschwärzt, aber nur zum Teil zu erkennen. Jemand hatte ihm den Schädel eingeschlagen.

»Es tut mir leid, Robin«, sagte Horace hinter ihr. »Er war dein Freund?«

Robin deutete ein Kopfschütteln an. Ihre Kehle war wie zugeschnürt, aber es war nicht der Anblick des Toten, der sie so erschütterte, nicht einmal der der grauenhaften Verletzung. Es war der Ausdruck in seinen Augen. Keine Furcht oder Schmerz. In Jeromés weit aufgerissenen, für immer erloschenen Augen stand ein Ausdruck fassungsloser Verblüffung - als hätte er seinem Mörder im allerletzten Moment ins Gesicht geblickt und könnte einfach nicht glauben, was er sah...

»Er war wohl niemandes Freund, nach allem, was ich gehört habe«, fuhr Horace fort. »Aber er war ein guter Christ und ein tapferer Mann. Wir werden für ihn beten.«

Robin nickte nur. Sie versuchte unbeholfen, das Kreuzzeichen zu schlagen, so wie sie es bei Abbé und den anderen gesehen hatte, kam aber durcheinander und ließ die Hand wieder sinken, und Horace drehte sie mit sanfter Gewalt zu sich herum und sah ihr ernst ins Gesicht. Hatte er etwas gemerkt?

»Unter all diesem Blut und Schmutz verbirgt sich noch ein sehr junger Mann, habe ich recht?« fragte er. Robin schwieg, und Horace wurde noch ernster und fuhr mit leiser, teilnahmsvoller Stimme fort: »Es war Euer erster Kampf, habe ich recht? Bisher habt Ihr Eure Klingen nur mit Euren Brüdern gekreuzt.«

Robin nickte. Sie schwieg noch immer.

»Ihr braucht Euch Eurer Gefühle nicht zu schämen«, sagte Horace mit einem verzeihenden Lächeln. »Ihr habt nun Blut an den Händen, und Ihr fragt Euch, ob Ihr damit Schuld auf Eure Seele geladen habt, denn Gott der Herr sagt, du sollst nicht töten. Ich kenne diese Gedanken. Ich selbst habe mir diese Frage immer und immer wieder gestellt, und es hat lange gedauert, bis ich eine Antwort gefunden habe.«

»Und wie lautet sie?« murmelte Robin.

Horace schüttelte leicht den Kopf. »Ein jeder muß diese Frage für sich selbst beantworten«, sagte er. »Du mußt beten, Bruder. Vielleicht wird dir im Zwiegespräch mit Gott offenbar, was ich dir nicht sagen kann.« Er lächelte aufmunternd. »Aber bedenke dies: Es ist nicht Gottes Wille, daß wir einander töten. Aber es kann auch nicht sein Wille sein, daß wir tatenlos zusehen, wie andere getötet werden. Ohne dein Eingreifen hätte keiner von uns überlebt.«

»Das war ich nicht allein.« Robin wandte sich vollends um, damit sie den Ausdruck schrecklicher Überraschung in Jeromés Augen nicht mehr sehen mußte. »Ohne Salim hätte ich es nicht geschafft. Er hat sie abgelenkt, damit ich die Tür öffnen konnte.«

»Ach ja, der Sarazene«, sagte Horace. Er lachte, aber es klang irgendwie ... falsch. »Wer hätte gedacht, daß ausgerechnet ich mein Leben einmal einem Muselmanen verdanken sollte. Sind Gottes Wege nicht manchmal rätselhaft? Wäre es nicht Häresie, so könnte man glauben, daß er über einen subtilen Humor verfugt, nicht wahr?«

»Das... könnte man«, antwortete Robin vorsichtig. »Aber es steht uns nicht zu, über seine Ratschlüsse zu urteilen.«

»Gewiß nicht«, bestätigte Horace. Er gab sich einen Ruck und wechselte das Thema. »Wo ist der Sklave überhaupt?«

Ein jäher Schrecken durchfuhr Robin. Sie hatte Salim schon eine geraume Weile nicht mehr gesehen. Was, wenn auch er verwundet oder gar getötet worden war?

Sie fand jedoch nicht einmal Zeit, den Gedanken weiter zu verfolgen, denn gerade in diesem Moment trat Salim auf Shalimas Rücken aus dem Wald heraus. Eine reglose Gestalt lag quer vor ihm über dem Sattel.

Robin, Horace und die anderen Tempelritter eilten ihm entgegen. Salim glitt mit einer lautlosen Bewegung aus dem Sattel und wartete, bis sie heran waren, ehe er zusammen mit einem der anderen Templer den reglosen Körper von Shalimas Rücken hob und vorsichtig ins Gras bettete.

Horace sog scharf die Luft ein, als er das Gesicht des Mannes sah. »Gernot! Das ist doch... Gernot von Elmstatt!« Er fuhr herum und wandte sich mit zornig blitzenden Augen an Salim. Seine Hand klatschte auf den Schwertgriff. »Was hast du ihm angetan, Heide?«

»Ich habe ihn im Wald gefunden«, antwortete Salim ruhig, »nicht weit von hier. Sie haben ihn gefoltert - zweifellos, um Euren Treffpunkt aus ihm herauszupressen.«

Gernot stöhnte leise, als wolle er etwas dazu sagen. Sein Gesicht war verschwollen, und er blutete aus verschiedenen, tiefen Schnittwunden, die nicht so aussahen, als stammten sie von einem Schwertkampf. Seine Hände waren mit einem groben Strick zusammengebunden. Als Salim sich zu ihm hinunterbeugte, um seine Fesseln zu durchtrennen, öffnete er die Augen und versuchte etwas zu sagen. Es gelang ihm nicht. Blut lief aus seinem Mund.

»Versucht nicht zu reden, Herr!« sagte Salim. »Ich werde ihnen alles erklären.« Er stand auf und wandte sich wieder an Horace.

»Er hat mir alles erzählt, aber es ging wohl über seine Kräfte. Sie haben ihm übel mitgespielt. Darf ich fortfahren?«

Für Horace schien das gar nicht so selbstverständlich zu sein, denn er zögerte einen fühlbaren Augenblick, ehe er sich zu einem Nicken durchdrang.

»Gernot bekam Kunde von einem geplanten Hinterhalt, der Euch galt«, fuhr Salim fort. »Er brach auf, um Euch zu warnen, aber er fiel den Verrätern in die Hände. Hätte ich ihn nicht gefunden, so wäre er jämmerlich verblutet.«

»Ist das wahr?« fragte Horace.

Gernot nickte und rang sich eine Bewegung ab, die man mit einiger Phantasie als Nicken auslegen konnte, und Robin war nun vollkommen fassungslos. Wieso dachte sich Salim eine derart haarsträubende Geschichte aus, um Gernot zu schützen? Als sie Salim gerade aus dem Wald hatte kommen sehen, da war sie fest davon überzeugt gewesen, daß er Gernot umgebracht hatte.

»Also gut«, sagte Horace. Er wirkte nicht sehr zufrieden, und die Blicke, mit denen er Salim maß, waren beinahe schon feindselig. Vielleicht glaubte er dem Tuareg nicht. Aber vielleicht war es ihm auch nur unangenehm, in der Schuld eines Moslems zu stehen. »Verbindet seine Wunden. Und dann laßt uns die Toten begraben und für ihre Seelen beten.«

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