KAPITEL 26

Sie erfuhr nie, was sich hinter der verschlossenen Tür zwischen Jeromé und Abbé abgespielt hatte, doch der rebellische Tempelritter mußte wohl zumindest einen Teilsieg davongetragen haben. Sie hatte sich an diesem Abend nicht mit Salim getroffen, und am darauffolgenden Morgen teilte ihr Abbé mit knappen Worten mit, daß sie sich nicht mehr mit Salim auf dem Dachboden treffen solle; alles weitere würde ihr der Sklave selbst mitteilen. Er benutzte genau diese Worte, und Robin glaubte einen verhaltenen Groll aus ihnen herauszuhören, den sie nicht genau verstand.

Der Sklave kam schon am nächsten Morgen zu ihr, gewiß nicht zufällig zu genau der Zeit, zu der die Tempelherren ihr Mittagsgebet begannen, und forderte sie fast schon grob auf, mit ihm zu kommen. Robin war ein bißchen beunruhigt - ein Zustand, den sie mittlerweile schon als fast normal empfand - folgte ihm aber gehorsam.

Sie verließen die Komturei und gingen an der Pferdekoppel vorbei bis zu einem kleinen, keine hundert Schritte im Geviert messenden Wäldchen, das sich dahinter erhob. Wortlos bahnte er sich einen Weg durch Gestrüpp und Unterholz, bis sie eine kleine Lichtung in der Mitte des Hains erreichten, die natürlichen Ursprungs zu sein schien, offensichtlich aber künstlich vergrößert worden war.

»Unser neuer Übungsplatz«, sagte er, und der Stolz in seiner Stimme machte Robin klar, daß er selbst die notwendigen Arbeiten verrichtet hatte. »Hier wird uns niemand sehen. Aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Wir werden nicht zu gleichen Zeiten hierherkommen, und wir werden den Hof auch nicht gemeinsam verlassen. Abbé hat Jeromé in seine Schranken verwiesen, aber wir müssen den Gerüchten nicht noch neue Nahrung geben.«

»Das ist albern«, sagte Robin. Es gab keine Möglichkeit, Tratsch zu verhindern, aber der sicherste Weg, ihn noch anzuheizen, war, es zu versuchen.

»Möglich«, sagte Salim schulterzuckend. »Aber es ist Abbés Wunsch. Und ich glaube, daß es besser ist. Die Wände dort drinnen haben Ohren. Laß uns beginnen.«

Robin sah sich unbehaglich um. Erst jetzt, nachdem sie die Komturei verlassen hatte, spürte sie, wieviel Schutz und Geborgenheit ihre Mauern ihr vermittelt hatten, trotz allen Schreckens, den sie darin hatte erleben müssen. Sie kam sich so hilflos und alleingelassen vor, als stünde sie mit zusammengebundenen Händen und Füßen im Zentrum einer zu groß geratenen Zielscheibe. Sie hatte geglaubt, das Leben in der Komturei nicht länger ertragen zu können. Jetzt fragte sie sich, ob sie wohl jemals wieder irgendwo anders leben konnte - oder wollte.

Anscheinend gehörte nicht besonders viel dazu, ihre Gedanken zu erraten. »Wir sind hier sicher«, sagte Salim. »Otto und die Bande von Halsabschneidern, die sich ihm angeschlossen hat, ist weit weg. Es heißt, er wäre zuletzt oben im Norden gesehen worden, drei oder vier Tagesritte entfernt.«

»Welche Bande?« fragte Robin. Das letzte, was sie gehört hatte, war, daß der ehemalige Waffenmeister von Elmstatt einfach verschwunden sei.

»Eine Handvoll von Elmstatts Männern, die sich ihm angeschlossen haben«, antwortete Salim. »Und dazu noch jeder Halsabschneider und Strauchdieb, der ihm unterwegs begegnet ist. Gunthar hat ihn und seine Begleiter für vogelfrei erklärt, aber er hat Gernot befohlen, die Jagd auf ihn einzustellen.«

»Warum?«

»Er leckt sich noch immer die Wunden aus der Schlacht«, sagte Salim. »Abbé hatte recht, weißt du? Er hat den Kampf gewonnen, aber er wird lange brauchen, um sich von diesem Sieg zu erholen... und außerdem glaube ich, daß er Gernot nicht mehr traut. Gunthar ist kein Dummkopf. Und jetzt haben wir genug geredet. Greif mich an!«

Er reichte Robin das Schwert, wich zwei Schritte zurück und nahm gleichzeitig eine geduckte Abwehrhaltung ein. Robin attackierte ihn sofort, aber sie war nicht richtig bei der Sache. Ihre Bewegungen waren fahrig und schlecht koordiniert, so daß es Salim keine Mühe bereitete, sie abzuwehren und ihr schon nach wenigen Augenblicken das Schwert aus der Hand zu schlagen.

Er reagierte verärgert. »Wenn du so in einen wirklichen Kampf gehst, dann bist du tot«, sagte er. »Was ist los? Wo bist du mit deinen Gedanken?«

»Bei Gernot«, antwortete sie offen. »Ich verstehe einfach nicht, was er tut. Er hat Otto kaltblütig verraten.«

»Ein Bauernopfer«, antwortete Salim.

»Ein was?«

»Ein Bauernopfer«, wiederholte Salim. »Spielst du Schach?« Er schüttelte den Kopf, um seine eigene Frage zu beantworten. »Nein, natürlich nicht. Wahrscheinlich weißt du nicht einmal, was das ist. Ein Spiel. Es wird in meiner Heimat gespielt, aber auch hier. Abbé ist ein wahrer Meister darin, und es würde mich nicht wundern, wenn auch Gernot es beherrschte.«

»Und was hat ein Spiel aus deiner Heimat mit dem zu tun, was er gemacht hat?«

»Es war ein Schachzug«, antwortete Salim. »Ein verzweifelter Zug, aber trotzdem geschickt. Ein Bauernopfer. Hätten wir mehr Zeit, würde ich dir das Schachspielen beibringen, und du würdest verstehen, was ich meine. Aber jetzt ist es wirklich genug. Wir haben nur eine Stunde, bis das Gebet vorüber ist. Bis dahin muß einer von uns zurück sein. Nimm!«

Er reichte ihr das Schwert und griff seinerseits an. Robin wehrte sich ebenso ungeschickt, wie sie ihn attackiert hatte, mit genau dem zu erwartenden Ergebnis: Nach nur zwei Hieben wurde ihr das Schwert aus der Hand geprellt, und sie fiel rücklings ins Gras.

»Du bist schon wieder tot«, sagte Salim kopfschüttelnd. »Das hat keinen Sinn. Du mußt dich schon konzentrieren, wenn du etwas lernen willst.«

»Das Schwert ist zu schwer«, beschwerte sich Robin. »Und viel zu groß für mich.«

Das war zwar im Moment nur eine Ausrede, aber trotzdem die Wahrheit. Die Klinge, die Salim ihr gegeben hatte, war beinahe so lang wie ihr Arm und damit tatsächlich viel zu gewaltig für sie. Sie hatte sich etliche blaue Flecken und Prellungen eingehandelt, weil sie Probleme hatte, das Schwert zu halten, auch ohne daß Salim mit aller Kraft darauf eindrosch.

Salim verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen. »Also gut«, seufzte er. »Dann probieren wir etwas anderes. Es wird ohnehin Zeit.«

»Etwas anderes?« Robin stand auf und wollte sich in der gleichen Bewegung nach ihrem Schwert bücken, aber Salim schüttelte den Kopf. Er steckte sein Schwert ein. An seiner Stelle zog er eine Waffe unter seinem Mantel hervor, deren bloßer Anblick ihr schon einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. Einen Morgenstern.

Robin starrte die Waffe an, und als Salim sie ihr auffordernd hinhielt, da schüttelte sie impulsiv den Kopf und wich so erschrocken zurück, als hätte er ihr eine giftige Schlange hingehalten.

»Nur keine Angst«, sagte er. »Es ist eine sehr praktische Waffe, vor allem für jemanden, der nicht sehr viel Kraft hat.«

Robin schüttelte den Kopf. Salim mochte recht haben, aber sie würde sie niemals anrühren. Sie hatte gesehen, was sie anzurichten vermochte, und vor allem wie. Es war eine brutale Waffe, ganz anders als ein Schwert, bei dem es hauptsächlich auf das Geschick und die Schnelligkeit seines Trägers ankam und mit dem man einen ritterlichen - oder wenigstens fairen Kampf - führen konnte. Ein Morgenstern dagegen war etwas vollkommen anderes, eine brutale, heimtückische Waffe, die nur zum Zertrümmern und Verstümmeln gut war und gegen die es keine Gegenwehr gab. Sie hatte nicht vergessen, wie Gero gestorben war.

»Nun ziere dich nicht«, sagte Salim. »Es ist gar nicht so schwer, wie es aussieht.« Zur Demonstration ließ er die stachelbewehrte Kugel über seinem Kopf kreisen und vollführte dann eine komplizierte, schnelle Bewegung rechts und links seines Körpers entlang, die Kugel und Kette zu einem fast unsichtbaren, silbernen Schemen werden ließen. »Siehst du? Es ist ganz leicht. Man muß nur darauf achten, daß man sich nicht aus Versehen selbst verletzt.«

»Ich... will das nicht«, sagte Robin leise. Vielleicht war es Zeit für die Wahrheit. »Ich habe Angst davor.«

»Ein Grund mehr, daß du den Umgang damit lernst«, sagte Salim, griff zugleich aber auch unter seinen Mantel, der an diesem Tag schier unergründlich schien, und zog einen zweiten Morgenstern hervor - oder etwas, das eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Morgenstern hatte. Stiel und Kette waren so wie sie sein sollten, aber statt einer mit tödlichen Spitzen gespickten Eisenkugel hatte sie einen faustgroßen Ball aus Sackleinen, der allem Anschein nach mit Sand gefüllt war.

»Vielleicht fangen wir besser damit an zu üben«, sagte er, zwar grinsend, aber trotzdem in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete.

Trotzdem schüttelte sie den Kopf und sagte noch einmal: »Ich mag dieses Ding nicht.«

»Dennoch wirst du es nehmen«, beharrte Salim, aber jetzt mit einem Lächeln, das keines mehr war. »Man widerspricht seinem Lehrer nicht.«

Robin resignierte. Sie nahm Salim den Morgenstern aus der Hand und schlug ihm blitzschnell und vollkommen ansatzlos den sandgefüllten Ball auf die Nase. Salim fiel wie vom Blitz getroffen aufs Hinterteil, hob die Hand ans Gesicht und starrte sie aus großen Augen an. Blut begann in einem dünnen Rinnsal aus seiner Nase zu laufen.

Robin ließ den Morgenstern fallen und sagte zum dritten Mal: »Ich will das nicht.«

»Vielleicht hast du ja recht«, sagte er schleppend. Seine Nase blutete heftiger. »Möglicherweise sollten wir mit etwas weniger gefährlichem anfangen.«

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