KAPITEL 33

Sie hatten die bewaldeten Hügel im Osten erreicht und umgangen und sich dann nach Süden gewandt, um, wie Salim behauptete, genug Abstand zwischen sich und der Komturei zu bringen. Robin ersparte es sich, auf diese Bemerkung auch nur zu antworten. Nachdem sie eine weitere Stunde geritten waren und sie sich im Sattel herumdrehte, konnte sie das Gut der Tempelritter tatsächlich nicht mehr sehen. Die Gefahr, zufällig entdeckt zu werden, bestand nun gewiß nicht mehr.

»Wohin reiten wir wirklich?« fragte sie geradeheraus.

Salim sah sie nachdenklich an, und für die Dauer eines einzelnen Herzschlages war sie sicher, daß er entweder gar nicht antworten oder ihre Frage mit einer scherzhaften Bemerkung abtun würde. Aber dann hob er die Schultern und sagte:

»Wir treffen uns mit jemandem.«

»Jemandem?«

»Jemandem«, wiederholte Salim. »Sein Name tut nichts zur Sache. Er würde dir nichts sagen.«

»Aber es ist wichtig, daß du dich in Begleitung eines Tempelritters mit ihm triffst«, vermutete Robin.

Salim zog eine Grimasse. »Manchmal frage ich mich, ob ich mich wirklich darüber freuen soll, daß du so klug bist«, seufzte er.

»Das mußt du entscheiden«, gab Robin ruhig zurück. »Mir würde es schon reichen, wenn du meine Frage beantwortest.«

»Du mußt überhaupt nichts tun«, sagte Salim. »Und auch nichts sagen. Es reicht, wenn du dabei bist.«

»Wenn ein Tempelritter dabei ist«, verbesserte ihn Robin.

»Schild und Waffenrock eines Templers genügen schon«, erwiderte Salim gereizt. »Du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich plane die Verschwörung. Der Mann wird uns helfen.«

»Uns?«

»Mir«, räumte Salim gepreßt ein. »Ich kann mit Abbé fertig werden, aber nicht mit allen.«

»Und erst recht nicht mit Jeromé«, sagte Robin.

»Wenn es nicht anders geht, werde ich ihm die Kehle durchschneiden«, sagte Salim lachend. Er schien - obwohl er sie nicht ansah - zu spüren, wie sie erschrak, denn er lachte noch einmal, lauter und unecht, schüttelte den Kopf und sagte: »Nein, keine Angst. Es war nur ein Scherz. Jeromé ist ein schwieriger Gegner, aber berechenbar. Ich weiß, wie ich mit ihm umzugehen habe.« Er hob den Arm. »Siehst du die Bäume da vorne? Dahinter liegt ein kleiner See. Wer zuerst im Wasser ist, hat gewonnen!«

Er ließ Shalima lospreschen, und nachdem ihm Robin eine Sekunde lang wütend hinterhergestarrt hatte, folgte sie ihm. Wirbelwind griff kräftig aus, und doch fiel sie langsam, aber stetig zurück, und als Salim schließlich den Wald erreichte und zwischen den Bäumen verschwand, betrug der Abstand zwischen ihnen fast eine halbe Meile.

Robin fluchte ungehemmt, beugte sich im Sattel vor und versuchte, Wirbelwind irgendwie zu noch schnellerer Gangart anzuspornen. Vielleicht gelang es ihr sogar, aber sie holte Salim trotzdem nicht ein. Als sie den See erreichte, war Salim bereits im Wasser und schwamm mit kräftigen Zügen auf das gegenüberliegende Ufer zu.

Sie zügelte den Hengst, fiel mehr aus dem Sattel, als daß sie absaß und befreite sich mit einiger Mühe von Mantel, Wappenrock und dem schweren Kettenhemd. Anschließend schlüpfte sie aus den Stiefeln.

Als sie auch das Baumwollhemd über den Kopf streifen wollte, teilte sich das Unterholz hinter ihr, und eine dunkelhaarige, in Lumpen gekleidete Gestalt trat heraus. Der Mann war einen guten Kopf größer als sie und von kräftigem Wuchs, und trotz seines abgerissenen Äußeren spürte Robin sofort, daß er kein Herumtreiber oder Bettler war.

Dann erkannte sie ihn.

Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, war es dunkel gewesen, und er hatte Kleider wie die getragen, die sie selbst gerade abgelegt hatte, aber sie erkannte ihn trotzdem ohne jeden Zweifel wieder. Es war einer der vier angeblichen Tempelritter, die ihr Dorf überfallen hatten.

Der Mann erkannte sie im gleichen Moment wie sie ihn. Ein halb erschrockener, halb ungläubiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Er machte einen Schritt in ihre Richtung, hob den Arm und blieb wieder stehen, als er die Kleidungsstücke sah, die sie gerade abgelegt hatte.

»Na, wenn das keine Überraschung ist«, grinste er. »Unser kleines Bauernmädchen. Sie ist offenbar nicht nur zu hartnäckig, um zu sterben, sondern spielt jetzt auch noch den Ritter. Anscheinend liebt sie gefährliche Spiele.«

Robin sah sich hastig nach Salim um. Er war verschwunden.

»Warum machst du nicht weiter, Kleines?« fragte der Mann grinsend. »Ich wollte dich nicht beim Baden stören. Zieh dein Kleid ruhig aus.«

Seine Augen glitzerten, aber irgendwie spürte Robin, daß sein Blick nicht so lüstern war, wie es den Anschein haben sollte. Er wollte ihr angst machen, das war alles.

»Was wollt Ihr von mir?« fragte sie.

»Ich? Nichts.« Der Mann zuckte mit den Achseln. »Gernot und Otto verlangt es nach deiner Gesellschaft, um es einmal so auszudrücken. Sie haben einen hübschen Preis auf deinen Kopf ausgesetzt... und zwar nur auf deinen Kopf. Ich denke, ich werde ihn mir verdienen.« Er zuckte erneut mit den Schultern und nutzte die gleiche Bewegung, um unauffällig einen weiteren Schritt näher zu kommen. »Ich kann dich natürlich auch lebendig bei ihnen abliefern - oder dich auch laufen lassen. Es liegt ganz bei dir. Wenn du ein bißchen nett zu mir bist...«

»Lieber sterbe ich!« sagte Robin.

»Ganz wie du meinst, Kleines.«

Der Mann stürzte sich ohne Vorwarnung auf sie. Robin prallte zurück, tat so, als würde sie kopflos davonstürzen und wandelte die Bewegung im letzten Moment in ihr genaues Gegenteil um. Genau, wie Salim es ihr gezeigt hatte, ergriff sie die vorgestreckte Hand des Angreifers, knickte blitzschnell in der Hüfte ein und nutzte den eigenen Schwung des Mannes, um ihn über die Hüftknochen abrollen zu lassen. Der Rest schien fast ohne ihr Zutun zu geschehen: Der Mann verlor auf fast magische Weise den Boden unter den Füßen, flog im hohen Bogen durch die Luft und überschlug sich gut anderthalbmal, ehe er mit einem erstickten Schrei im Gras landete. Robin war kaum weniger überrascht als er - was sie indes nicht daran hinderte, ihm auf der Stelle nachzusetzen und ihn mit beiden Händen in die Höhe zu reißen, als er sich aufzurappeln versuchte. Sie ließ sich nach hinten fallen, setzte den linken Fuß gegen seine Brust und schleuderte den Mann zum zweiten Mal durch die Luft, während sie über die Schultern abrollte.

Diesmal schlug er noch härter auf und blieb einen Moment liegen. Blut lief aus seiner Nase, als er sich hochstemmte. Aber seine Augen loderten vor Wut, und Robin wurde klar, daß sie ihn auf diese Weise nicht besiegen würde. Sie konnte ihn noch ein Dutzend Mal kreuz und quer über die Lichtung werfen, aber wenn er ihr nicht den Gefallen tat, sich einen Knochen zu brechen oder sich auf andere Weise schwer zu verletzen, war es trotzdem um sie geschehen. Er war einfach zu stark für sie.

Der Mann richtete sich umständlich auf. Robin hob die Hände und nahm eine leicht geduckte Haltung an. Ihre Gegenwehr mußte den Burschen wohl doch beeindruckt haben, denn er stürzte sich nicht sofort wieder auf sie, sondern zog ein Messer aus dem Gürtel.

»Dann eben nicht«, sagte er. »Trage ich dich eben zu Gernot. Das macht keinen Unterschied.«

Er machte einen Schritt auf sie zu, als sich die Oberfläche des Sees unmittelbar neben ihm in einer glitzernden Fontäne aus Schaum und spritzendem Wasser teilte. Salim katapultierte sich aus dem See heraus wie ein fliegender Fisch, prallte gegen den Mann und riß ihn dann durch sein pures Ungestüm von den Füßen. Irgendwie wechselte das Messer seinen Besitzer, noch bevor die beiden aneinandergeklammert zu Boden fielen.

Salim ließ dem falschen Tempelritter keine Chance. Er versetzte ihm zwei, drei blitzartige Hiebe gegen Hals und Kehle, ließ sich zur Seite fallen, als der andere zurückzuschlagen versuchte, und drosch ihm aus der gleichen Bewegung heraus den Ellbogen ins Gesicht.

Der Kampf dauerte nur Augenblicke. Salim war deutlich kleiner als sein Gegner. Er wog vermutlich nur wenig mehr als die Hälfte, und daß er nackt war, ließ seine Bewegungen ungelenk und irgendwie hilflos erscheinen. Trotzdem verging nur ein Moment, bis der vermeintliche Templer reglos am Boden lag, während Salim auf seine Brust hockte und ihm sein eigenes Messer an die Kehle setzte.

»Bring ihn nicht um!« sagte Robin erschrocken.

»Keine Angst, den Spaß überlasse ich dir«, knurrte Salim. Er wedelte ungeduldig mit der freien Hand. »Schnell! Sieh dich um, ob er allein war oder ob noch mehr von diesen Kerlen in der Gegend sind.«

Robin schluckte trocken. Der Mann erlangte das Bewußtsein allmählich zurück, und als er die Augen öffnete, zog Salim das Messer mit einer raschen Bewegung über sein Gesicht und fügte ihm eine klaffende Schnittwunde zu. Der Mann keuchte vor Schmerz, und Salim schlug ihm den Messergriff gegen die Schläfe. Nicht hart genug, um ihm das Bewußtsein zu rauben, aber doch so fest, daß er benommen zurücksank.

»Großer Gott, was tust du?!« keuchte Robin entsetzt.

»Ich sorge nur dafür, daß er mich ernst nimmt - und meine Fragen beantwortet«, knurrte Salim. »Und jetzt geh endlich! Der Kerl gehört zu Ottos Bande, und wo einer ist, da sind die anderen vielleicht auch nicht weit!«

Robin wandte sich schaudernd um und floh regelrecht vom Seeufer. Nicht einmal so sehr, weil sie tatsächlich Angst hatte, daß sich noch mehr von Ottos Halsabschneidern in der Umgebung herumtrieben, sondern weil sie nicht sehen wollte, was Salim seinem Gefangenen antat.

Aber sie wußte es, und das machte es fast genauso schlimm, als wäre sie dabei geblieben und hätte zugesehen.

Als sie den Waldrand erreichte, hörte sie die Schreie. Zuerst war es beinahe nur ein Keuchen, das sich rasch zu einem gellenden Laut und schließlich zu einem schrillen Kreischen steigerte, das sich kaum noch menschlich anhörte. Robin schlug entsetzt die Hände über die Ohren.

Dann brachen die Schreie abrupt ab; auf eine Weise, die beinahe noch schlimmer war.

Robin blieb noch eine Weile reglos stehen, dann nahm sie die Hände herunter und ging langsam zum Seeufer zurück.

Salim kniete am Wasser und wusch sich die Hände im See, als sie ihn erreichte. Der Mann lag ein kleines Stück neben ihm auf dem Gesicht. Der Sand unter ihm hatte sich dunkel gefärbt. Er war tot.

»Warum hast du das getan?« fragte sie leise.

Salim sah sie nicht einmal an, sondern bückte sich nach seinen Kleidern und begann sich anzuziehen. »Ich habe nichts anderes getan, als das, was er mit dir getan hätte«, sagte er. »Du hättest weglaufen sollen. Ich habe dir gesagt, daß du nicht stark genug bist, um gegen einen Kerl wie ihn zu kämpfen.«

»Du hast ihn gefoltert.«

»Nur ein bißchen.« Salim schlüpfte in seinen Mantel. »Er wollte nicht freiwillig reden, also mußte ich seine Zunge lockern.«

»Hast du wenigstens erfahren, was du wissen wolltest?« fragte Robin bitter.

»Ja«, antwortete Salim. »Aber es gefällt mir nicht. Zieh deine Kleider wieder an. Wir müssen weiter.«

Robin warf noch einen langen Blick auf den reglos daliegenden Leichnam, aber dann bückte sie sich und begann Stiefel und Kettenhemd anzuziehen. Sie beeilte sich, war aber wohl nicht schnell genug, Salims ungeduldigen Blicken nach zu urteilen.

»Interessiert es dich gar nicht, was er mir erzählt hat?« fragte Salim.

»Nein«, antwortete Robin knapp.

»Das sollte es aber«, fuhr Salim unbeeindruckt fort. »Es geht nämlich um dich. Wenigstens zum Teil. Gernot hat ein hübsches Sümmchen auf deinen Kopf ausgesetzt.«

»Ich weiß«, sagte Robin. »Er hat es mir gesagt.«

»Aber anscheinend hast du ihm nicht richtig zugehört. Ich sagte: Gernot. Nicht Otto. Die beiden treffen sich in zwei Stunden, gar nicht weit von hier. Ich weiß nicht, wozu, aber ich wette, sie hecken irgendeine neue Gaunerei aus. Wir müssen herausfinden, was es ist.«

»Wir?«

»Wir«, bestätigte Salim. »Ich würde dich viel lieber zurückschicken, aber das wäre viel zu gefährlich. Es ist besser, du bleibst in meiner Nähe. Keine Angst - ich habe nicht vor, den Helden zu spielen. Ich will nur herausfinden, was sie vorhaben. Das ist alles.«

Nur einen Augenblick später saßen sie wieder in den Sätteln und galoppierten weiter nach Süden.

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