KAPITEL 14

Es verging noch mindestens eine halbe Stunde, bis die Tür auf der anderen Seite des Raumes aufging und zwei Männer in der Kleidung der Tempelritter hereinkamen - Bruder Jeromé und ein etwas jüngerer, kräftig gebauter Mann, den Robin nicht kannte. Sie nahmen auf den Stühlen rechts und links des Kopfendes Platz, und nur wenige Minuten später betrat auch Bruder Abbé das Officium. Auch er trug das Gewand eines Tempelritters, hatte jedoch, im Gegensatz zu den beiden anderen, keine Waffen bei sich - aber vielleicht wirkte er gerade dadurch viel beeindruckender als sie. Eine stumme Autorität ging von ihm aus, wie sie Robin bisher schon öfter an dem Tempelherrn aufgefallen war: etwa an dem Morgen, an dem sie Jan und die beiden anderen zu Grabe getragen hatten.

Neben ihr raschelte grober Stoff, dann berührte etwas Hartes und Kühles ihre Lippen: Ein Becher mit kaltem Wasser, den Salim ihr hinhielt. Während der letzten halben Stunde hatte er das drei-, oder viermal getan, nicht nur, weil es in der winzigen, fensterlosen Kammer immer stickiger geworden war, sondern vor allem, damit sie nicht im unpassenden Moment husten mußte.

»Trink«, zischte seine Stimme an ihrem linken Ohr. »Und dann keinen Laut mehr! Wenn sie uns hier finden, ist es um uns geschehen!«

Robin hielt das für übertrieben, aber im Prinzip war Salims Warnung mehr als berechtigt: Wenn sie hier drinnen entdeckt wurden, würde das Abbé in eine mehr als unbequeme Lage bringen. Vielleicht konnte sie danach nicht mehr auf seinen Schutz vertrauen.

Falls sie das überhaupt jemals gekonnt hatte.

Sie leerte den Becher, und kaum hatte Salim ihn zu Boden gesetzt, da betrat ein Mann in einer grauen Mönchskutte den Raum auf der anderen Seite der Schranktüren und wandte sich mit ehrfurchtsvoll gesenktem Haupt an Abbé.

»Bitte verzeiht die Störung, Bruder«, sagte er. »Gunthar von Elmstatt und sein Sohn Gernot sind eingetroffen und wünschen Euch zu sprechen.«

»Dann führt sie herein, Bruder«, sagte Abbé. »Wir wollen unsere Gäste nicht unnötig warten lassen. Es wäre unhöflich.«

Der Mönch entfernte sich rückwärts gehend, und Abbé nahm auf dem Stuhl am Kopfende des Tisches Platz. Robin konnte sein Gesicht nun nicht mehr sehen, aber sie spürte die Anspannung fast körperlich, die nun von dem untersetzten Tempelherrn ausging. Obgleich für jeden im Raum unsichtbar, war sie Abbé so nahe, daß sie ihn mit der ausgestreckten Hand hätte berühren können, wäre die Schranktür nicht zwischen ihnen gewesen.

Schritte näherten sich draußen auf dem Flur, dann traten rasch hintereinander vier Männer in das Officium. Robin fuhr so erschrocken zusammen, daß Salim ihr besorgt die Hand auf den Unterarm legte. Sie nickte in der Dunkelheit, um ihm zu zeigen, daß alles in Ordnung sei. Salim konnte die Bewegung schwerlich sehen, aber wahrscheinlich spürte er sie.

Dabei war rein gar nichts in Ordnung. Drei der vier Männer, die hereingekommen waren, kannte sie. Es waren Gernot von Elmstatt, der den linken Arm noch immer in einer Schlinge trug, sowie der Bauer Hark aus ihrem Dorf. Er hatte einen schmutzigen Verband um die Stirn und war sehr blaß, aber es ließ sich nicht sagen, ob das an seiner Verwundung lag oder nicht vielmehr an der Ehrfurcht, mit der ihn seine Umgebung erfüllte - wobei Robin nicht sicher war, ob die Betonung eher auf Ehre oder Furcht lag. So oder so war sie erleichtert, ihn lebend wiederzusehen. Nachdem so viele, die ihr nahegestanden hatten, vor ihren Augen zu Tode gekommen waren, hatte sie ganz instinktiv angenommen, daß auch er nicht mehr am Leben sei.

Dafür traf sie der Anblick des dritten Mannes um so härter. Es war ein dunkelhaariger, bärtiger Riese mit einer häßlichen Narbe im Gesicht. Otto, der Waffenmeister Gunthar von Elmstatts. Der Mann, der versucht hatte, sie zu töten. Sie begann am ganzen Leib zu zittern.

Salim legte ihr nun auch die andere Hand auf die Schulter, und obwohl sie wußte, daß es nur eine Illusion war, gab ihr seine Berührung ein Gefühl von Schutz und Sicherheit, das sie vielleicht allzulange vermißt hatte. Sie hob den Arm und griff ihrerseits nach seiner Hand. Er ließ die Berührung zu, und es war, als könnte sie sein Lächeln in der Dunkelheit hinter sich spüren.

»Seid willkommen, Gunthar von Elmstatt.« Bruder Abbé machte sich nicht die Mühe, sich aus seinem Stuhl zu erheben, um seine Gäste zu begrüßen, sondern machte nur eine knappe Bewegung mit der Hand; eine subtile Demonstration seiner Macht, die ihre Wirkung auf die Angesprochenen aber vollkommen zu verfehlen schien.

Gunthar, der ein grauhaariger starker Mann um die fünfzig war, verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Bitte verzeiht, Bruder Abbé«, sagte er, wobei er das Wort Bruder so betonte, daß es einer Beleidigung gleichkam. »Aber wir sind nicht gekommen, um Freundlichkeiten auszutauschen.« Er nahm unaufgefordert Platz - was nach allem, was Robin wußte, nun wirklich einer Ohrfeige für seinen Gastgeber gleichkam, - und machte eine auffordernde Geste zu seinen Begleitern, es ihm gleich zu tun. Sie gehorchten. Einzig Hark trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen und wartete, bis Abbé ihm mit einem angedeuteten Nicken sein Einverständnis signalisierte.

»Ich war mit diesem zusätzlichen Treffen einverstanden, um unser aller Freundschaft willen«, begann Gunthar. Als er das Wort Freundschaft aussprach, huschte ein verächtlicher Ausdruck über das Gesicht seines Sohnes, aber er schwieg.

»Das weiß ich«, antwortete Abbé. »Und ich weiß auch, wie schwer es Euch gefallen sein muß, insbesondere nach dem herben Verlust, den Ihr erlitten habt. Es ehrt Euch, daß Ihr die Gerechtigkeit über die Stimme Eures Blutes stellt, die zweifellos nach Rache schreit.«

»Gerechtigkeit...« Gunthar seufzte, aber in Robins Ohren klang es eher wie ein kleiner Schrei. »Nun, ganz wie Ihr meint, Abbé.« Er deutete auf Hark. »Ich nehme an, Ihr kennt diesen Mann?«

»Wir sind uns nie begegnet«, antwortete Abbé ruhig. »Doch ich vermute, er stammt aus dem Dorf, das überfallen wurde?«

Robin konnte Abbés Gesicht nicht erkennen, sehr wohl aber die Reaktion auf Harks Gesicht, und die machte jede Antwort im Grunde überflüssig. Den Ausdruck auf seinen Zügen mit Entsetzen zu beschreiben, wäre noch untertrieben gewesen.

»Er hat eine interessante Geschichte zu erzählen«, sagte Gunthar, während er sich mit einer schwerfällig wirkenden Bewegung auf seinem Stuhl herumdrehte und sich direkt an Hark wandte. »Sprich. Du hast nichts zu befürchten. Erzähl einfach die gleiche Geschichte, die du uns berichtet hast.«

Hark wand sich einen Moment wie unter Schmerzen. Er hatte weder die Kraft, Abbé noch Gunthar von Elmstatt anzusehen. »Sie ... sie kamen mit Einbruch der Nacht«, begann er stockend. »Vier... vier Tempelritter, Herr. Sie waren gekleidet wie... wie Ihr. Und zu Pferde und in Waffen.«

Er stockte. Gunthar warf einen scharfen Blick in Abbés Gesicht, dann nickte er Hark auffordernd zu. »Red weiter. Nur keine Furcht. Solange du die Wahrheit sagst, kann dir nichts geschehen.«

»Ich weiß nicht, was die Wahrheit ist, Herr«, antwortete Hark gequält, und noch immer, ohne irgend jemanden im Raum direkt anzusehen. »Ich meine, ich ... ich weiß nicht, warum sie es getan haben. Niemand bei uns kann es sich erklären.«

»Was getan, mein Sohn?« fragte Abbé. Seine Stimme war autoritär, aber plötzlich fast sanft; die Stimme eines Vaters, der mit einem verängstigten Kind spricht.

»Sie haben uns angegriffen, Herr«, antwortete Hark, beinahe im Flüsterton. »Sofort und ohne auch nur ein Wort zu sagen. Sie haben... acht von uns erschlagen und Feuer gelegt, und die Überlebenden haben sie in der Mitte des Dorfes zusammengetrieben.« Er begann mit den Händen zu ringen. »Wenn... wenn die Söhne des Lehnsherrn nicht gekommen wären, dann hätten sie uns vielleicht alle getötet. Wir haben versucht, uns zu wehren, aber sie... sie waren viel zu stark.«

»Einfach so, ohne ein Wort zu sagen?« hakte Abbé nach.

Hark nickte nervös. Er versuchte nun doch, Abbé anzusehen, hielt seinem Blick aber nicht einmal für die Dauer eines Lidschlages stand. »Männer, Frauen und Kinder«, bestätigte er. »Sie haben jeden niedergemacht, der ihren Weg kreuzte. Sie... sie waren wie die Teufel.«

Robin sah, daß der ihr unbekannte Tempelritter auffahren wollte, aber Abbé brachte ihn mit einer raschen Geste zur Räson. »Sag mir, Hark«, fragte er, noch immer in jenem sanften, aber trotzdem bestimmten Ton, »siehst du hier im Raum einen der Männer, die dein Dorf überfallen haben?«

Hark verneinte, und Abbé fuhr fort. »Ich lasse gern meine anderen Brüder kommen, damit du ...«

»Welchen Sinn sollte das haben?« mischte sich Gernot ein. »Die Männer trugen Helme! Er würde sie nicht einmal erkennen, wenn sie vor ihm stünden. Nicht einmal ich würde sie wiedererkennen, obwohl ich mit einem von ihnen gekämpft habe!«

Abbé hob besänftigend die Hand. »Ich bitte Euch, Gernot. Eure Erregung ist verständlich, aber sie hilft uns nicht bei der Wahrheitsfindung.«

»Wahrheit?« Gernot schnaubte. »Sie dürfte jedem hier im Raum...«

Diesmal war es sein Vater, der ihn zum Schweigen brachte. »Gernot!« sagte er scharf. Dann wandte er sich an Hark. »Sprich weiter.«

»Es war, wie Euer Sohn gesagt hat«, fuhr Hark mit gesenktem Blick fort. »Er und... und Euer jüngster Sohn kamen im letzten Augenblick, um uns zu retten. Sie haben sich mit ihren eigenen Leben zwischen uns und die Tempelritter geworfen, um uns zu beschützen.«

»Wieso?« fragte Abbé.

»Wieso?« Gernot riß ungläubig die Augen auf. »Das fragt Ihr im Ernst? Sollten wir tatenlos zusehen, wie ...«

Abbé unterbrach ihn. »Ihr habt mich mißverstanden, Gernot«, sagte er. »Natürlich hätte niemand tatenlos zugesehen, wie ein solch ruchloses Verbrechen verübt wird. Nein, was ich meine, ist etwas ganz anderes. Wie kommt es, daß Ihr just in diesem Moment dort aufgetaucht seid. Harks Dorf liegt sehr einsam. Niemand kommt zufällig dort vorbei.«

Gernot verzog die Lippen. Er hatte die Frage erwartet. »Es war kein Zufall«, sagte er verächtlich. »Mein Bruder Gundolf und ich waren auf dem Weg nach Burg Elmstatt. Wir fanden die Spuren von Reitern. Wir sind ihnen gefolgt. So einfach ist das.« Er machte ein abfälliges Geräusch.

»Dann sahen wir das Feuer, und später hörten wir die Schreie. Wir ritten, so schnell wir konnten...«

»... und seid gerade noch rechtzeitig gekommen, um das Allerschlimmste zu verhindern«, fiel ihm Abbé ins Wort. Es klang spöttisch. »Da können wir Gott dem Herrn ja dafür danken, daß er Euch gerade im richtigen Moment dorthin geschickt hat.«

»Vielleicht wollte er nur verhindern, daß in seinem Namen ein noch größeres Verbrechen geschieht«, sagte Gernot düster. »Acht der braven Leute waren bereits tot, und die Templer hatten die anderen wie Vieh zusammengetrieben, um auch sie abzuschlachten.«

»Aber Ihr habt sie daran gehindert, indem Ihr sie in die Flucht geschlagen habt«, vermutete Jeromé. Seine Stimme triefte vor Hohn.

»Ich habe ihren Anführer zum Kampf gefordert«, sagte Gernot.

»Und zweifellos besiegt.«

Diesmal verging ein kurzer Moment, ehe Gernot antwortete. »Nein«, gestand er widerstrebend und mit einer Kopfbewegung auf seinen verletzten Arm. »Ich habe es versucht, aber ich war ihm nicht gewachsen. Er hat mich am Arm verwundet. Er hätte mich töten können, aber er hat darauf verzichtet. Statt dessen sind er und seine Begleiter abgerückt. Ich war verwundet, und Otto blieb bei mir, um mich zu beschützen. Aber Gundolf...«

Er sprach nicht weiter, aber nach einer Weile sagte Otto mit leiser, fast tonloser Stimme: »Er hat die Mörder verfolgt. Ich wollte ihn noch zurückrufen, aber er hat nicht auf mich gehört.«

»Zwei Männer aus dem Dorf fanden ihn am nächsten Morgen«, sagte Hark leise. »Bei der alten Kapelle.« Bei diesen Worten sah er Abbé an. »Er war tot. Sie haben ihn erschlagen.«

»Er hatte keine Chance, allein gegen vier«, fugte Otto grollend hinzu. »Es ist meine Schuld. Ich hätte ihn nicht allein gehen lassen dürfen.«

»Du wärst nur ebenfalls getötet worden«, sagte Gunthar. Seine Stimme war so leer wie seine Augen. Bei all den Lügen und Halbwahrheiten, die in den letzten Minuten in diesem Raum gesprochen worden waren, dachte Robin, war er vielleicht der einzige, dessen Kummer echt war.

»Das spielt keine Rolle«, antwortete Otto. »Ich war für sein Leben verantwortlich. Ich habe geschworen, Euer Leben und das Eurer Familie zu beschützen. Ich habe versagt.«

Abbé seufzte. »Das ist eine ... ungeheuerliche Geschichte«, sagte er. »Und zugleich eine schwere Anschuldigung, die du da vorbringst, Hark, darüber bist du dir doch im klaren.«

Hark nickte. Er hatte große Angst. »Aber... aber es ist... ist die Wahrheit, Herr«, stammelte er. »Das schwöre ich.«

»Niemand bezichtigt dich der Lüge«, sagte Abbé sanft. »Aber wir fragen uns, warum du mit dieser Geschichte ausgerechnet zu uns kommst.« Er wandte sich an Gunthar. »Ein offenes Wort, mein Freund. Ihr glaubt doch nicht etwa, daß wir irgend etwas damit zu tun haben?«

Gunthar antwortete nicht direkt auf diese Frage, und er sah Abbé auch nicht an, sondern starrte an ihm vorbei ins Leere - und dabei so genau in Robins Richtung, daß sie für einen Moment fast glaubte, er hätte sie in ihrem Versteck gesehen.

»Diese Komturei ist die einzige im Umkreis von sieben Tagesritten«, sagte er leise. »Und es waren Tempelritter, die das Dorf überfallen haben.«

Robin sah, wie sich Jeromés Hand auf das Schwert an seiner Seite senkte, aber Abbé kam ihm auch jetzt zuvor. »Und nun meint Ihr, wir wären an diesem feigen Überfall beteiligt gewesen?« Er seufzte. »Mein lieber Freund, ich kann Euren Schmerz verstehen. Es gibt nichts Schlimmeres für einen Vater, als sein Kind zu verlieren. Aber ich bitte Euch, im Namen unserer alten Freundschaft, sagt mir, warum wir so etwas tun sollten! Es gibt keinen Grund! Elmstatt und wir sind in Freundschaft verbunden, seit diese Komturei besteht, und die braven Menschen in diesem Ort haben uns nichts getan!«

Gunthars Gesicht war wie Stein. »Sprich weiter, Hark«, sagte er.

»Ich habe... eines der Pferde«, murmelte Hark. »Das Pferd, das eines der Tempelritter ritt. Ich habe es schon einmal gesehen. Es... es war eine Schecke. Eher ein Pony und eigentlich viel zu klein, um einen Mann in Rüstung zu tragen.«

»Und?« fragte Jeromé.

»Ein solches Pferd steht draußen auf Eurer Weide, Abbé«, sagte Gunthar.

»Und was heißt das?« wollte Jeromé wissen. »Es gibt Dutzende solcher Schecken, wenn nicht Hunderte!«

»Nicht dieses ganz besondere Tier«, beharrte Gunthar. »Auch ich kenne es. Ich habe es oft genug gesehen. Es gehört Eurem Knappen, Abbé - wie war doch gleich sein Name?«

»Jan von Tronthoff.« Abbés Stimme blieb unverändert, aber seine Haltung versteifte sich ein wenig.

»Jan von Tronthoff... ja, ich erinnere mich. Ein freundlicher junger Mann. Ist er zufällig hier?«

»Ich fürchte nein«, antwortete Abbé.

»Aber Ihr könnt ihn ohne Zweifel herbeirufen lassen.«

»Auch das wird nicht möglich sein, fürchte ich«, sagte Abbé. »Gott dem Herrn hat es in seiner unergründlichen Gnade gefallen, Jan zu sich zu rufen.«

»Er ist tot.« Gunthar klang kein bißchen überrascht.

»Er bekam ein schlimmes Fieber und starb nach wenigen Tagen.« Abbé bekreuzigte sich. »Seither hat niemand mehr sein Pferd geritten. Ihr habt recht: Es ist nicht kräftig genug, um einen erwachsenen Mann in Rüstung und Waffen zu tragen.«

»Und doch hat Hark es gesehen«, sagte Gernot. »Und ich auch.«

»Das ist unmöglich«, sagte Jeromé scharf, und Abbé fügte in nur wenig versöhnlicherem Ton hinzu: »Es sei denn, jemand hätte es von unserer Weide gestohlen ...«

»... um es pünktlich am nächsten Morgen zurückzubringen.« Gernot lachte böse. »Was soll dieser Unsinn?«

»Hark hat dieses Pferd nicht erst vor zwei Tagen gesehen«, sagte Gernots Vater rasch. »Er kennt es schon länger. Ebenso wie seinen Reiter.«

»Was soll das heißen?« fragte Jeromé lauernd.

Gunthar wandte sich mit einem auffordernden Nicken an Hark. Es dauerte lange, bis der Bauer sprach, aber als er es tat, da sprudelten die Worte nur so aus ihm heraus; fast als hätte er Angst, daß ihm die Kraft für einen zweiten Anlauf fehle.

»Da war dieser Tempelritter, Herr. Er... er kam seit drei Monaten, fast regelmäßig zweimal die Woche.«

»Dieser Tempelritter?« fragte Jeromé. »Von welchem Tempelritter redest du?«

Hark streifte Abbé mit einem nervösen Blick, ehe er antwortete. »Ich weiß es nicht. Ich meine, ich ... ich habe sein Gesicht nie gesehen und auch kein anderer in unserem Ort. Aber seinen Begleiter und... und vor allem sein Pferd.«

»Und was hat dieser Tempelritter drei Monate lang getan?« fragte Abbé.

»Er... er hat sich mit einer Frau getroffen«, stieß Hark hervor. »Einer Frau aus unserem Dorf.«

Für ein paar Augenblicke wurde es fast absolut still in Abbés Officium. Dann keuchte Jeromé: »Ist dir klar, was du da gerade gesagt hast, Kerl?«

Hark sah nervös auf. Er zitterte. Der Blick, den er Bruder Abbé zuwarf, war fast flehend. »Es ist... wahr, Herr«, stammelte er.

»Und das ist weiß Gott noch nicht alles«, fugte Gernot hinzu. »Wie es aussieht, war der Mann des Frauenzimmers, mit dem sich der Tempelritter traf, nicht besonders begeistert darüber. Vor einer Woche nahm er eine Mistgabel, ging hinaus und erschlug seine Frau und auch den Begleiter des Tempelritters, bevor es diesem gelang, ihn zu töten.«

»Was für eine absurde Geschichte«, sagte Jeromé. »Der Mann ist nicht bei Verstand!«

»Ich war gestern bei dieser Kapelle«, sagte Gunthar leise. »Ich wollte den Leichnam meines Sohnes holen. Es gibt dort drei frisch ausgehobene Gräber. Sie sind keine Woche alt.« Er atmete hörbar ein. »Ich habe sie öffnen lassen. In einem lag der Leichnam Eures Knappen, Abbé. Er ist nicht am Fieber gestorben. Jemand hat ihm den Schädel eingeschlagen.«

»Das ist ungeheuerlich!« Jeromé sprang auf und griff nach seinem Schwert.

»Bruder Jeromé!« Abbé machte eine besänftigende Geste mit beiden Händen. »Bitte beruhigt Euch! Ich bin sicher, daß wir alles aufklären können.«

»Was gibt es da aufzuklären?« fragte Gernot böse. »Selbst ein Blinder wäre fähig, die Wahrheit zu sehen!«

»Welche Wahrheit?« fragte Jeromé schneidend.

»Die einzige«, antwortete Gernot. »Jemand hat einen Tempelritter erschlagen. Ein todeswürdiges Verbrechen, nicht wahr?«

»Nicht schlimm genug, um ein ganzes Dorf auszulöschen«, sagte Abbé. »Das wißt Ihr, Gernot.«

»Aber vielleicht willkommener Anlaß, sich lästiger Zeugen zu entledigen«, gab Gernot zurück. »Zeugen für etwas, das vor allem einem Mann sehr peinlich sein muß, der ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat.«

Jeromé erbleichte. »Das ist genug. Ihr werdet mir für diese ungeheuerliche Unterstellung Genugtuung gewähren, hier und jetzt!« Er zog sein Schwert.

Auch Gernot und Otto sprangen fast im gleichen Moment auf und zogen ihre Schwerter, und für einen Augenblick schien ein Kampf unvermeidlich. Jeromé trat drohend auf die beiden Männer zu, und Otto nahm breitbeinig und mit grimmiger Miene Aufstellung zwischen ihm und seinem Schützling.

»Jeromé! Gernot!« Abbé sprang auf und machte eine herrische Geste. »Ich befehle euch aufzuhören!«

Jeromé senkte zögernd sein Schwert. Er stand noch für einen kurzen Moment in vorgebeugter, aggressiver Haltung da, dann drehte er sich mit einem Ruck herum und nahm neben Abbés Stuhl Aufstellung. Er setzte sich weder noch steckte er seine Waffe ein.

»Sprechen wir offen, Gunthar«, sagte Abbé. Jede Spur von Freundlichkeit war aus seiner Stimme verschwunden. »Bezichtigt Ihr mich, dieser Tempelritter gewesen zu sein?«

»Wart Ihr es denn?« fragte Gunthar.

»Nein«, antwortete Abbé. »Ich schwöre im Angesicht Gottes, daß ich hier und jetzt das erste Mal von dieser Geschichte höre. Und ich habe auch nicht gewußt, daß Jan gewaltsam ums Leben gekommen ist. Man hat mir erzählt, er wäre am Fieber gestorben.«

»Man?«

»Niemand von uns«, beharrte Abbé. »Das muß Euch genügen.«

»Aber das tut es nicht«, antwortete Gunthar. »Ihr habt es selbst gesagt: Es gibt im Umkreis vieler Tagesreisen nur diese eine Komturei. Ich glaube Eurem Wort, Abbé, wenn Ihr sagt, daß Ihr nichts davon wußtet. Aber ich glaube ebenso, daß der Mörder meines Sohnes in diesen Mauern lebt - und daß Ihr wißt, um wen es sich handelt. Ich verlange seine Auslieferung.«

»Wozu?« fragte Jeromé. »Wir unterstehen nur Gottes Urteil. Eure weltliche Gerechtigkeit gilt in diesen Mauern nicht.«

»Dann werden wir sie wohl niederreißen müssen, diese Mauern«, sagte Gernot.

»Ich verlange Gerechtigkeit«, sagte Gunthar noch einmal, ohne Jeromé anzusehen und weiter direkt an Abbé gewandt. »Und wenn Ihr wirklich der Mann seid, für den ich Euch halte, Abbé, dann werdet Ihr sie mir gewähren. Und wenn nicht, dann muß ich sie mir selber nehmen.« Er hob die Stimme. »Ihr werdet mir Gundolfs Mörder ausliefern. Oder ich schwöre bei der Seele meines toten Sohnes, daß ich morgen bei Sonnenaufgang mit einem Heer zurückkommen und diese Komturei dem Erdboden gleichmachen werde!«

»Mit was für einem Heer?« fragte Jeromé höhnisch. »Ihr habt keines.«

Gunthar schwieg. Er starrte Abbé an.

»Für diese Drohung allein könnte ich Euch hinrichten lassen«, sagte Abbé leise. Er schüttelte traurig den Kopf. »Ich gebe Euch mein Ehrenwort, daß weder ich noch einer meiner Brüder etwas mit dem Überfall auf das Dorf zu tun haben - und schon gar nicht mit dem Tod Eures Sohnes!«

»Ihr habt Zeit bis morgen früh«, sagte Gunthar. »Bis dahin verlange ich die Auslieferung des Mörders, oder die Waffen werden sprechen.«

Er wollte sich herumdrehen und gehen, aber zur allgemeinen Überraschung rief ausgerechnet Jeromé ihn noch einmal zurück.

»Auf ein Wort, Freiherr!«

Gunthar blieb stehen und sah den Tempelritter stirnrunzelnd an.

»Wir haben uns Eure Geschichte geduldig angehört«, sagte Jeromé. »Aber sie scheint mir... noch nicht ganz zu Ende erzählt zu sein.«

Gunthars Stirnrunzeln vertiefte sich. Er sagte immer noch nichts.

»Ihr sagtet, die Tempelritter hätten acht Männer und Frauen aus dem Dorf erschlagen?«

»Und viele andere verletzt«, bestätigte Gernot, ehe sein Vater antworten konnte.

»Und das ist alles?« fragte Jeromé. »Ich meine: Es wurde niemand ... verschleppt?«

Robins Herz machte einen erschrockenen Sprung in ihrer Brust, und auf Gernots Gesicht erschien ein Ausdruck, der zwischen Bestürzung und unterdrücktem Schrecken schwankte. »Verschleppt?« wiederholte er zögernd.

Jeromé wandte sich mit einem zugleich fragenden wie herausfordernden Blick an Hark. Nach kurzem Zögern nickte der Bauer.

»Ein Mädchen«, sagte er achselzuckend. »Ihre Mutter wurde bei dem Überfall getötet.«

»Und sie selbst?« hakte Jeromé nach. Robins Herz begann zu klopfen. Was hatte der Tempelritter vor?

»Sie war noch am Leben«, sagte Hark achselzuckend. »Ich habe sie gesehen. Aber am nächsten Morgen war sie verschwunden.«

»Sie wird weggelaufen sein«, sagte Gernot.

»Oder sie haben sie mitgenommen, um ihren Spaß mit ihr zu haben«, fügte Otto hinzu. »Worauf wollt Ihr hinaus?«

»Sie könnte ebensogut noch am Leben sein«, antwortete Jeromé. Robin sträubten sich die Haare. In der Dunkelheit neben ihr sog Salim scharf die Luft ein. Was hatte Jeromé vor?

»Und wenn?« fragte Gernot. Seine Augen wurden schmal. Es gelang ihm nicht ganz, seine plötzliche Nervosität zu überspielen.

»Vielleicht wurde sie ja auch verschleppt, weil sie etwas gesehen oder gehört hat, was sie besser nicht gesehen oder gehört hätte«, antwortete Jeromé. Er lachte. »Ich kann Euch versichern, daß das Mädchen am Leben ist, Gernot. Man hat versucht, es zu töten, aber die Mörder waren nicht gründlich genug.«

»Sie ... lebt?« fragte Gernot zweifelnd.

»Was für ein Unsinn«, sagte Otto. »Selbst wenn sie am Leben wäre, was für einen Unterschied sollte das schon machen?«

»Einen entscheidenden«, antwortete Jeromé. »Ich kann Euch versichern, Otto, daß das Mädchen lebt und sich in unserer Obhut befindet. Und daß es die wahre Identität der Mörder kennt.«

Und dann tat er etwas, das nicht nur Robin für einen Moment vor Entsetzen schier das Blut in den Adern gerinnen ließ: Er drehte sich herum, streckte den Arm aus und öffnete die Tür zu Robins Versteck, noch bevor Abbé ihn daran hindern konnte. Robin hob erschrocken die Hand, um ihre Augen vor der plötzlichen, ungewohnten Helligkeit zu schützen. Salim stieß ein überraschtes Keuchen aus, und auch Abbé sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Robin«, murmelte Hark überrascht.

»Was uns die Frage nach ihrer Identität beantwortet«, sagte Jeromé spöttisch. »Du kennst das Mädchen.«

Hark nickte nur, offensichtlich völlig überrascht von Robins plötzlichem Anblick. Gernot sah einfach nur fassungslos aus, während auf Ottos Gesicht das blanke Entsetzen erschien.

»Was soll das?« fragte Gunthar. Er wirkte eher unwillig als erschrocken. »Was bedeutet das, Abbé? Ein Versteck, um uns zu belauschen? Wer ist dieses Mädchen? Und wer ist dieser Muselmane?«

Er deutete anklagend auf Salim, der wie Robin überrascht in die plötzliche Helligkeit blinzelte, sich aber trotzdem schützend zwischen sie und die anderen geschoben hatte.

»Salims Anwesenheit hat nichts zu bedeuten«, sagte Abbé lahm. Er war vollkommen verunsichert. Jeromés Eingreifen hatte ihn ebenso überrascht wie alle anderen. »Er ist nur zu ihrem Schutz hier. Komm heraus, mein Kind. Du hast nichts zu befürchten.«

Er hatte sich wieder halbwegs gefangen, trat auf Robin zu und streckte auffordernd die Hand aus. Robin gehorchte ganz automatisch. Sie war viel zu schockiert, um irgend etwas anderes zu tun. Sie hatte Angst, und sie verstand einfach nicht, warum Jeromé das getan hatte - so wenig wie ganz offensichtlich auch Abbé. Er wirkte äußerlich gefaßt, aber Robin spürte, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Er versuchte verzweifelt, einen Ausweg aus dieser Situation zu finden.

»Was bedeutet das?!« fragte Gernot scharf. »Ich verlange Aufklärung! Auf der Stelle!«

Robin sah mit klopfendem Herzen zur Tür hin. Weder Gernot von Elmstatt noch Otto hatten sich bisher gerührt. Gernot wirkte nach wie vor einfach zu Tode erschrocken, aber das Entsetzen auf Ottos Gesicht hatte mittlerweile einer grimmigen Entschlossenheit Platz gemacht. Seine rechte Hand lag auf dem Schwert, das er gerade erst wieder eingesteckt hatte.

»Dieses Mädchen weiß, was wirklich geschehen ist«, antwortete Jeromé. »Sie hat die Mörder gesehen.«

»Dann soll sie sie uns nennen!« verlangte Gunthar.

»Ich fürchte, das ist im Moment nicht möglich.« Abbé legte Robin in einer beschützenden Geste die Hände auf die Schultern. »Wie Ihr seht, ist sie verletzt. Man hat versucht, Ihr die Kehle durchzuschneiden. Es ist uns mit Gottes Hilfe gelungen, ihr Leben zu retten, aber sie kann nicht sprechen.«

Otto lachte. »Was für eine famose Zeugin, die nicht sprechen kann!« höhnte er. »Was soll das beweisen?«

»Robin kennt die Gesichter der Mörder, die Euren Sohn getötet haben, Gunthar«, sagte Abbé. »Und ich glaube, sie weiß auch, warum es geschehen ist.«

»Wie schade, daß sie nicht reden kann«, sagte Otto böse.

»Noch nicht«, verbesserte ihn Abbé, blickte dabei aber weiter seinen Herrn Gunthar an. »Bruder Tobias ist sicher, daß ihre Sprache zurückkehren wird. Aber wir müssen ihr Zeit geben.«

»Zeit? Wozu?« fragte Otto. »Damit Ihr ihr ganz genau erklären könnt, was sie zu sagen hat?«

Gunthar machte eine ärgerliche Geste in Richtung seines Waffenmeisters, ließ Robin dabei aber keinen Moment aus den Augen.

»Ist das wahr, Kind?« fragte er. »Die Männer, die dir das angetan haben - waren es dieselben, die dein Dorf überfallen haben?«

Robin nickte. Der Druck von Abbés Händen auf ihren Schultern verstärkte sich ein ganz kleines bißchen. Sie wirkten vollkommen ruhig, aber sie konnte durch seine Haut hindurch spüren, wie sein Puls raste.

»Und du ...« Gunthar atmete hörbar ein. »Du hast auch gesehen, wer meinen Sohn getötet hat?«

Robin nickte erneut. Es kostete sie fast all ihre Kraft, Gunthars Blick standzuhalten, und fast noch mehr, nicht zu Gernot und vor allem Otto hinzusehen. Es zu tun, wäre womöglich ein tödlicher Fehler. Wenn sie Otto und Gernot jetzt entlarvte, ließ sie ihnen keine andere Wahl, als ihre Waffen zu ziehen.

»Also gut«, sagte Gunthar schweren Herzens. »Eine Woche. Nicht mehr.«

»Es mag länger dauern, bis sie ihre Sprache wiederfindet«, sagte Abbé.

»Eine Woche«, wiederholte Gunthar. »Nicht einen Tag mehr.«

»Vater!« sagte Gernot. »Das ist absurd! Begreifst du nicht, daß es nichts als ein Trick ist, um Zeit zu schinden? In einer Wochen haben sie dieses Mädchen so weit, daß es schwört, die Jungfrau Maria auf einem fliegenden Pferd gesehen zu haben!«

»Schweig!« sagte Gunthar. »Eine Woche, Bruder Abbé. Nicht eine Stunde mehr.«

Damit ging er, dicht gefolgt von Otto und seinem Sohn.

Kaum waren sie allein, da ließ Abbé Robins Schultern los und fuhr wütend zu Jeromé herum. »Habt Ihr den Verstand verloren?« Er schrie fast. »Wer hat Euch erlaubt, das zu tun?«

»Die Vernunft«, antwortete Jeromé, kaum weniger laut als er. »Habt Ihr nicht zugehört? Er wäre mit einem Heer wiedergekommen. Wir sind nicht stark genug, einer Belagerung standzuhalten.«

»Habt Ihr nicht selbst gesagt, er hätte kein Heer?«

»Er hat ein Dutzend Männer unter Waffen«, antwortete Jeromé. »Nicht genug, um uns zu besiegen, aber genug, um ein großes Blutvergießen anzuzetteln. Wollt Ihr das? Habt Ihr nicht schon genug Schaden angerichtet?«

»Was wollt Ihr damit sagen?« fragte Abbé lauernd.

Jeromé setzte zu einer Antwort an, aber dann warf er statt dessen nur einen langen Blick in Robins Gesicht und einen etwas kürzeren in Salims. Nicht vor ihnen. Und nicht jetzt.

»Wir haben auf diese Weise wenigstens Zeit gewonnen«, sagte er. »Eine Woche, um die Wahrheit herauszufinden. Und vielleicht Hilfe zu holen.«

»Ja«, murmelte Abbé. »Und zu Gott zu beten, daß er ihr bis dahin die Sprache zurückgibt.«

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