KAPITEL 25

Später war sie Salim sehr dankbar dafür, daß er den Moment nicht ausgenutzt hatte - obwohl sie im Grunde nicht wirklich verstand, wieso. Aber er hatte sich für den Rest der Zeit darauf beschränkt, ihr zu zeigen, wie sie mit dem Schwert umzugehen hatte, und wenn er die Wahrheit gesagt und ihr nicht nur geschmeichelt hatte, dann mußte sie wohl ganz erstaunliche Fortschritte gemacht haben - und weiterhin machen.

Sie gingen nun jeden Tag auf den Dachboden hinauf, und noch vor Ablauf der ersten Woche nahm Salim ihr das Kinderspielzeug weg und gab ihr ein richtiges Schwert: Eine schartige, alte Klinge, die so stumpf war, daß man sich kaum noch daran verletzen konnte, aber auch so schwer, daß sie Mühe hatte, sie überhaupt zu heben. Aus dem Spiel begann ganz allmählich und, fast ohne daß sie es merkte, Ernst zu werden.

In der Mitte der zweiten Woche ließ Jeromé sie zu sich rufen. Robin sah dem Gespräch mit einem unguten Gefühl entgegen. Jeromé hatte in den vergangenen anderthalb Wochen nur sehr wenig mit ihr gesprochen. Es war nicht so, daß er ihr aus dem Weg gegangen wäre, aber er machte auch kein Hehl daraus, daß er ihre Anwesenheit in der Komturei aufs höchste mißbilligte.

»Setz dich, Kind«, begann er. Er hatte Robin in Abbés Officium befohlen, was dem Gespräch einen noch offizielleren - und damit bedrohlicheren - Anstrich verlieh, was wahrscheinlich auch ganz seiner Absicht entsprach. Robin nahm gehorsam an dem langen Tisch Platz und sah den Tempelritter mit einer Mischung aus Furcht und Erwartung an.

»Wie fühlst du dich?« fragte er.

»Gut«, antwortete Robin, was ganz und gar der Wahrheit entsprach. Die Wunde an ihrem Hals schmerzte jetzt kaum noch, und die regelmäßige Bewegung und vor allem das gute und reichliche Essen, das sie bekam, hatten ein Übriges dazu getan, ihre Genesung rasche Fortschritte machen zu lassen. Ihre Stimme war immer noch heiser, und das Reden ermüdete sie schnell, aber ansonsten fühlte sie sich wohl wie schon lange nicht mehr.

»Das freut mich«, sagte Jeromé. »Aber ich muß dir auch sagen, daß mir Dinge zu Ohren gekommen sind, die mich weniger erfreuen.« Er ging um den Tisch herum und nahm am Ende der langen Tafel Aufstellung. Robin fühlte sich winzig und verloren. Sie wünschte sich, Salim wäre hier.

»Ich halte nichts davon, lange um die Dinge herumzureden«, fuhr Jeromé fort. »Du und Salim, ihr trefft euch täglich auf dem Heuboden über dem Tor. Was tut ihr dort?«

»Herr?« fragte Robin erschrocken.

»Lüge nicht auch noch!« donnerte Jeromé. Sein Zorn war nicht gespielt, und plötzlich begriff Robin, daß er sie nicht zu einem Gespräch hierhergerufen hatte, sondern zu einem Verhör. »Was ihr dort tut, will ich wissen!« Offenbar hatte er eine ziemlich klare Vorstellung davon, was sie und Salim bei ihren täglichen Treffen auf dem Dachboden taten, und als sie den Zorn in Jeromés Augen sah, da war sie um ein Haar versucht, ihm die Wahrheit zu sagen. Doch dann dachte sie wieder an Salims Warnung. Jeromé und die anderen Tempelritter durften auf keinen Fall erfahren, was dort wirklich geschah. Sie senkte wortlos den Blick.

»Du schweigst«, sagte Jeromé. »Es ist dir peinlich, wie? Aber das, was ihr dort treibt, das scheint dir nicht besonders unangenehm zu sein. Schämst du dich denn gar nicht? War deine Mutter eine gottesfurchtige Frau?«

Robin nickte.

»Aber anscheinend nicht gottesfürchtig genug«, donnerte Jeromé, »denn sonst hätte sie dir zweifellos beigebracht, daß das, was ihr treibt, eine Todsünde ist. Weißt du, was eine Todsünde ist?«

Robin nickte abermals, auch wenn sie Jeromés Entrüstung nicht vollständig verstand. Selbst wenn sich Salim und sie der fleischlichen Lust hingegeben hätten, wie Jeromé offensichtlich glaubte, wäre das doch harmlos im Vergleich zu dem Morden und Töten, das in den letzten Wochen stattgefunden hatte, und im Vergleich zu der Lüge, mit der Jeromé höchstpersönlich dafür gesorgt hatte, daß der feige Mörder Gernot von Elmstatt noch immer frei und unbescholten herumlaufen konnte.

Der Tempelritter atmete hörbar ein und schwieg einen Moment. Als er weitersprach, klang seine Stimme merklich ruhiger; beinahe schon versöhnlich. »Mein liebes Kind, ich glaube, du verstehst gar nicht, was ich dir sagen will. Dieser Sklave ist ein Heide. Schlimmer noch, ein Muselmane, und damit Gottes und unser aller erklärter Feind! Dich ihm hinzugeben ist mehr als eine kleine Sünde. Man könnte es als Ketzerei bezeichnen. Hast du dich ihm schon gänzlich hingegeben?«

»Nein!« antwortete Robin erschrocken. »Wir haben nur...«

Jeromé schnitt ihr mit einer raschen Handbewegung das Wort ab. »Ich will nicht wissen, was ihr getan habt«, sagte er. »Wenn du die Wahrheit sagst und du wirklich noch unberührt bist, dann ist deine Seele vielleicht noch nicht gänzlich verloren. Aber du mußt Buße tun. Du wirst dich nicht weiter mit diesem Sklaven treffen, und du wirst bis zum nächsten Freitag zweihundert Rosenkränze beten. Was mit Salim zu geschehen hat, werde ich noch entscheiden.«

Er seufzte, schob einen Stuhl zurück und setzte sich nun doch. Er stützte die Ellbogen auf den Tisch, vergrub sein Gesicht in den Händen und seufzte mehrmals hintereinander und sehr tief. Robin vermochte nicht zu sagen, ob er auf diese Weise betete oder einfach nur seine Gedanken sammelte - aber sie hatte zugleich auch das Gefühl, daß es womöglich nichts von alledem war, sondern nur ein genau einstudiertes Schauspiel, um sie einzuschüchtern, und daß er in Wahrheit etwas vollkommen anderes von ihr wollte.

Aber was?

»Was soll ich nur mit dir tun, Kind?« murmelte er. Erst danach nahm er die Hände herunter, seufzte noch einmal und sah sie bekümmert an. »Kannst du mir das sagen?«

»Ich... ich verstehe nicht«, sagte Robin stockend.

»Und wie könntest du auch«, seufzte Jeromé. »Sag mir, Kind: Magst du Bruder Abbé?«

Robin sah ihn alarmiert an. Sie nickte, sagte aber nichts. Doch sie spürte, daß sie sich jetzt jedes Wort, das sie sprach, doppelt gründlich überlegen mußte; nicht nur um ihretwillen.

»Dann solltest du vielleicht wissen, in welch große Schwierigkeiten du ihn bringst«, fuhr Jeromé fort. »Du bist eine Gefahr für ihn, weißt du das? Für uns alle hier, aber für ihn am allermeisten.«

»Eine ... Gefahr?«

»Du verstehst es nicht einmal, wie?« fragte Jeromé mit einem traurigen Lächeln. »Du dürftest nicht hier sein. Allein deine Anwesenheit hier verstößt gegen unsere Regeln, und das aufs schwerste. Käme allein diese Tatsache den falschen Leuten zu Ohren, so wäre es um ihn geschehen. Er würde in Ungnade fallen, möglicherweise mit Schimpf und Schande davongejagt - oder Schlimmeres.«

»Wollt Ihr, daß ich fortgehe?« fragte Robin.

»Wenn es nur so einfach wäre«, seufzte Jeromé und schüttelte den Kopf. »Bei allem ist es doch so, daß wir dich brauchen. Der Mord an deiner Familie und allen anderen aus deinem Dorf darf nicht ungesühnt bleiben, und du bist nun einmal die einzige, die weiß, was wirklich geschehen ist. Es wird eine Untersuchung geben, sowohl von weltlicher als auch kirchlicher Seite. Und jetzt, wo Otto entkommen ist, ist dies nun einmal der einzige Ort, an dem du sicher bist. Siehst du nun das Dilemma, in dem wir uns alle befinden?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Robin. »Ich werde wieder lügen müssen.«

In Jeromés Augen blitzte es kurz und zornig auf, aber er beherrschte sich. »Manchmal ist es der Wahrheit dienlicher, sie nicht sofort auszusprechen, sondern den richtigen Moment abzuwarten«, sagte er. »Wichtig ist, daß wir die Wahrheit kennen.« Seine Stimme wurde eine Winzigkeit schärfer. »Kennen wir sie?«

»Herr?«

»Ich möchte gerne glauben, daß alles nur gelogen ist«, sagte Jeromé. »Aber ist es das? Diese böse Verleumdung über einen der unseren, der sich angeblich mit einer Frau aus eurem Dorf getroffen hat... ist es wirklich nur eine Verleumdung?«

»Das weiß ich nicht, Herr.« Robin wich seinem Blick aus.

»Und eben das zu glauben, fällt mir schwer«, sagte Jeromé. »Du kannst mir die Wahrheit sagen. Ich habe nicht vor, sie gegen jemanden zu benutzen, wenn es das ist, was du fürchtest. Wenn einer unserer Brüder wirklich vom rechten Weg abgekommen ist, so wird dieses Geheimnis diesen Raum hier nicht verlassen, darauf hast du mein Wort. Aber ich muß die Wahrheit wissen, um uns alle zu schützen.«

»Aber ich sage die Wahrheit!«

Jeromés Stimme wurde wieder eine Spur schärfer. »Du hast schon einmal gelogen«, sagte er.

Das war so ungeheuerlich - und zugleich so unverfroren! -, daß es Robin im wahrsten Sinne des Wortes die Sprache verschlug und sie Jeromé nur mit offenem Mund anstarren konnte. Erst nach einer geraumen Weile war sie überhaupt fähig, auch nur ein paar fast gestammelte Worte hervorzubringen. »Aber... aber Ihr... Ihr habt es doch selbst von mir verlangt!«

»Und wer hat von dir verlangt, nicht zu verraten, daß du ihn in eurem Dorf gesehen hast?« wollte Jeromé wissen.

Robin schossen die Tränen in die Augen - Tränen der Wut und des Zorns, nicht der Angst. Jeromé konnte das allerdings nicht wissen, und so sah er für einen kleinen Augenblick deutlich zufrieden aus, glaubte er Robin doch nun genau da zu haben, wo er sie haben wollte.

Am liebsten wäre sie aufgesprungen und einfach aus dem Zimmer gelaufen, ganz egal, was Jeromé gesagt hätte. Warum quälte er sie so? Er wußte die Wahrheit doch sowieso!

»Wen willst du schützen?« fragte Jeromé geradeheraus. Warum sagte sie es ihm eigentlich nicht? Sie war Abbé nichts schuldig. Was er für sie getan hatte, war nichts im Vergleich mit dem, was ihr durch seine Schuld angetan worden war. Wenn hier jemand in der Schuld eines anderen stand, dann er in ihrer.

Die Tür flog auf, und Abbé stürmte herein. »Was geht hier vor?« fragte er scharf. Jeromé wollte antworten, aber Abbé ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen, sondern fuhr in noch schärferem, fast schon schreiendem Ton fort: »Wer hat Euch die Erlaubnis gegeben, Robin zu verhören?«

»Ich habe sie nicht verhört«, verteidigte sich Jeromé. »Ich habe lediglich...«

»Schweigt!« unterbrach ihn Abbé. Jeromé wollte aufstehen, aber Abbé machte eine zornige Handbewegung, die ihm nicht nur das Wort abschnitt, sondern ihn die begonnene Bewegung auch nicht zu Ende führen ließ, so daß er wieder auf den Stuhl sank. Obwohl er weiter stocksteif aufgerichtet und mit gestrafften Schultern dasaß und mit unbewegtem Gesicht zu Bruder Abbé aufsah, schien er gleichsam in sich zusammenzusinken.

Abbé wandte sich an Robin. »Geh hinaus!«

Robin sprang auf, rannte regelrecht aus dem Raum und warf die Tür hinter sich zu. Als sie weiterstürmen wollte, wäre sie um ein Haar gegen Salim geprallt.

»Das war Rettung im letzten Augenblick, wie?« fragte er grinsend.

»Ja«, antwortete Robin verwirrt. »Wenn Bruder Abbé nicht gekommen wäre ...« Sie unterbrach sich, als sie Salims Stirnrunzeln bemerkte. »Hast du etwa... ?«

»Wer, glaubst du, hat ihm gesagt, wo er dich findet?«

Robin wollte etwas darauf erwidern, aber Salim schüttelte rasch den Kopf und ergriff sie bei den Schultern. »Nicht hier«, sagte er. »Sie werden es nicht schätzen, belauscht zu werden.«

Das hatte Robin nicht vor. Aber obwohl die Tür hinter ihnen sehr dick war, konnte sie Abbés Stimme mittlerweile wieder deutlich hören, und auch wenn sie die Worte nicht verstand, so war doch deutlich, daß er jetzt wirklich schrie. In jener Nacht im Turm, da hatte sie geglaubt, daß Abbés Kampfeswille ein für allemal und unwiderruflich gebrochen war. Ein fataler Irrtum, dem auch Jeromé offenbar erlegen war.

Sie gingen nebeneinander den Gang hinab, und als sie die Treppe erreicht hatten, fragte Robin: »Du beobachtest mich?«

»Du hast eine komische Art, deine Dankbarkeit auszudrücken«, murrte Salim. »Wenn du es genau wissen willst: Abbé hat mir aufgetragen, ein wenig auf dich und Jeromé zu achten. Nicht umsonst, wie sich ja gerade gezeigt hat. Was wollte er von dir?«

Robin blieb stehen. »Warum willst du das wissen?«

Ganz kurz blitzte es wütend in Salims Augen auf. Aber er beherrschte sich und sagte nur: »Weil er gefährlich ist. Für uns alle. Viel gefährlicher als Gernot und Otto zusammen. Wenn wir ihn gewähren lassen, dann könnte es sein, daß er zu Ende bringt, was die beiden angefangen haben. Man beginnt bereits zu reden.«

»Über dich und mich, ich weiß«, sagte Robin, aber Salim schüttelte nur den Kopf.

»Das meine ich nicht. Es spielt keine Rolle. Aber das Gerücht macht die Runde, daß Bruder Abbé ... ein Auge auf dich geworfen hat.«

»Ist das wahr?« entfuhr es Robin.

»Keine Sorge«, antwortete Salim grimmig. »Wenn es so wäre, dann würde ich es ihm ausstechen. Ich lasse nicht zu, daß er dich anrührt.«

Robin schauerte. So, wie er es sagte, klang es überzeugend.

»Niemand würde es wagen, es laut auszusprechen«, fuhr Salim fort. »Nicht einmal Jeromé. Aber er ist geschickt in solchen Dingen. Eine Andeutung hier, ein Hochziehen der Braue da, ein wissendes Lächeln im richtigen Moment... manchmal kann man mehr sagen, wenn man nichts sagt, weißt du? Jeromé ist ein Intrigant.«

»Aber warum denn nur?«

»Er will auf Abbés Stuhl«, antwortete Salim. »Er neidet ihm seine Position, seit er hier ist. Am Ende ist es immer dasselbe. Macht. Es geht immer nur um Macht.«

»Um Macht?« Fast hätte Robin gelacht. Sie sah sich demonstrativ in dem kahlen Raum um. Abgesehen von der Größe (und vielleicht Bruder Abbés Privatgemach) unterschied sich die Komturei kaum von dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war; manche Häuser dort waren nicht annähernd so ärmlich gewesen.

»Um was für Macht?«

»Vielleicht um die über die Welt«, sagte Salim.

Und es hörte sich kein bißchen scherzhaft an.

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