KAPITEL 2

Es hatte das erwartete Donnerwetter gegeben, und auch wenn ihre Mutter sie nicht geschlagen hatte, so war es doch schlimmer ausgefallen als erwartet. Am Schluß hatte Robin ihrer Mutter natürlich doch von Helle und dem fremden Ritter erzählt; schon, weil ihr Treffen mit dem jungen Tempelritter weitaus mehr Fragen aufgeworfen als beantwortet hatte und sie vor lauter Neugier schier platzte. Am Anfang hatte ihre Mutter ihr gar nicht geglaubt und ihr auf den Kopf zugesagt, daß sie sich das alles nur ausgedacht habe, um einer Bestrafung zu entgehen, aber nachdem Robin hartnäckig bei ihrer Geschichte blieb, wurde sie immer nachdenklicher und ernster. Schließlich hatte sie Robin aufgefordert, die ganze Geschichte noch einmal und in aller Ausführlichkeit zu erzählen, und nachdem sie das getan hatte, wurde sie noch stiller. Robin faßte all ihren Mut zusammen und fragte ihre Mutter, was Helle und der fremde Ritter denn nun eigentlich taten. Zu ihrer Überraschung hatte ihre Mutter dieses Mal nicht unwillig reagiert, sondern, im Gegenteil, gelacht. Dann war sie sehr ruhig geworden und hatte Robin beiseite genommen. Sie hatten lange und in einem für Robin neuen, sehr vertrauten Ton miteinander gesprochen. Danach wußte Robin eine Menge mehr über den Unterschied zwischen Männern und Frauen, der wohl doch größer war, als sie bisher angenommen hatte. Sie hatte längst nicht alles verstanden, denn ihre Mutter hatte oft in Andeutungen und Umschreibungen geredet, und den meisten direkten Frage war sie ausgewichen, fast als wäre ihr die Antwort peinlich. Immerhin hatte sie begriffen, daß es da noch eine ganz andere, aufregende und vielleicht sogar ein bißchen verbotene Welt zu entdecken gab.

Und schon drei Tage später hatte sie Jan wiedergesehen.

Diesmal war es ganz und gar kein Zufall. Im Gegenteil: Robin, die das Gefühl hatte, an einem wichtigen Wendepunkt ihres Leben angelangt zu sein, war nun wild entschlossen, auch die letzten Geheimnisse des Lebens zu ergründen. Jeden Abend kurz vor Sonnenuntergang versteckte sie sich am Dorfrand und wartete auf Helle, und schon am dritten Tag wurde ihre Geduld belohnt, als die hübsche junge Frau erschien und sich aus dem Ort schlich. Robin folgte ihr, und eine halbe Stunde später verschwand Helle in dem verlassenen Gotteshaus. Robin wartete, bis Jan wieder herauskam, um ihn anzusprechen.

Wie sie erwartet hatte, war er alles andere als begeistert, sie wiederzusehen. Aber immerhin bedrohte er sie nicht mehr mit dem Schwert, und er machte auch keine Anstalten, ihr den Kopf abzureißen.

Ganz im Gegenteil: Er war sogar froh, sie zu sehen. Immerhin hatte er nichts anderes zu tun, als herumzusitzen und darauf zu warten, daß das Treffen zwischen Helle und seinem Herrn seinem Höhepunkt und damit auch seinem Ende zutrieb - was meistens zwei oder auch schon mal drei Stunden dauern konnte. Ihn plagte schlichtweg die Langeweile, und dazu kam, daß Robin keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für ihn machte. Immerhin war er ein richtiger Ritter, und wer aus dem Dorf konnte sich schon rühmen, einen der Krieger Gottes persönlich zu kennen?

Wie sich zeigte, trafen sich Helle und Jans Herr regelmäßig zweimal die Woche - immer dienstags und freitags. Wie selbstverständlich folgten auch Robins und Jans Begegnungen diesem Rhythmus. Robin überschüttete den jungen Tempelritter nur so mit Fragen, die er allesamt geduldig und sehr ausführlich beantwortete. Robin begriff rasch, daß Jan große Freude daran hatte, Geschichten zu erzählen. Und er kannte eine Menge spannender Geschichten! Er erzählte von seiner Erziehung zum Ritter, von wilden Kämpfen und abenteuerlichen Reisen und vor allem von Outremer, dem Königreich Gottes im Heiligen Land. Robin klebte geradezu an seinen Lippen und sog jedes Wort in sich auf, und im Laufe der Zeit geschah etwas Erstaunliches: Ihre Welt wurde größer. Zwar begann sie nach einer Weile zu argwöhnen, daß vielleicht nicht alles stimmte, was Jan ihr erzählte - der schwarzhaarige Ritter war gerade einmal siebzehn Jahre alt und somit zwar schon Manns genug, um an der Seite anderer Ritter in die Schlacht zu reiten und gegen die Heiden zu kämpfen, aber zugleich auch noch genug Kind, um sich in der Bewunderung eines Jüngeren zu sonnen und seine eigenen Heldentaten vielleicht etwas mehr herauszustreichen, als angemessen war.

Aber das spielte keine Rolle. Niemand konnte sich Geschichten wie diese ausdenken, ohne wenigstens etwas davon wirklich erlebt zu haben, und Robin begriff zumindest eines mit erschütternder Gewißheit: daß die Welt größer war, als sie bisher geglaubt hatte. Unendlich viel größer. Sie endete immer noch am Meer im Norden, dem Fluß und den Hügeln, aber sie wußte nun, daß sie dahinter weiterging und voller unbekannter, exotischer Länder war, voller Abenteuer und Geheimnisse, die es zu ergründen gab, aber auch voller schrecklicher Gefahren und großer Herausforderungen. Und mit jedem Wort, das sie hörte, jeder neuen Geschichte, die Jan erzählte - gleich ob ausgedacht oder wahr - wuchs in ihr der Entschluß, diese Welt eines Tages kennenzulernen. Sie wollte - sie mußte! - mit eigenen Augen sehen, wie es dort draußen zuging!

Und an jenem schicksalhaften Abend stellte sie Jan die Frage, die ihr schon seit ihrem zweiten oder dritten Treffen wie keine andere auf der Zunge brannte, die sie aber bisher nicht auszusprechen gewagt hatte.

»Was muß ich tun, um Ritter zu werden?«

Jan starrte sie an, als hätte sie ihn gefragt, warum die Sonne morgens aufging. Es dauerte eine geraume Weile, bis er seine Sprache wiederfand, und auch dann war seine Antwort nicht besonders geistreich: »Was... hast du gesagt?«

»Ich will Ritter werden«, sagte Robin noch einmal und mit großem Ernst. »Genau wie du.«

»Du weißt nicht, was du da redest«, sagte Jan. Er klang plötzlich fast unwirsch, fast als hätte sie etwas gesagt, worüber er sich ärgerte. Robin verstand das nicht.

»Oh doch«, beharrte sie. »Ich habe es mir genau überlegt. Ich will all diese fremden Länder und Menschen sehen, von denen du erzählt hast. Ich will ins Heilige Land! Ich will gegen die Sarazenen kämpfen und... und die Kirche sehen, in der unser Heiland zu Grabe getragen wurde.«

Jan sah sie lange und sehr ernst an, dann sagte er leise: »Du glaubst doch gar nicht an ihn.«

Robin war schockiert, nicht ob dieser ungeheuerlichen Unterstellung - die vielleicht gar keine war -, sondern weil sie einfach nicht verstand, woher er das wissen konnte! Tatsächlich war Robin kein besonders gläubiger Mensch. Sie versammelte sich sonntags zusammen mit allen anderen zum gemeinsamen Gebet, und selbstverständlich betete sie auch mit ihrer Mutter vor den Mahlzeiten und vor dem Schlafengehen. Aber es waren nur Worte, die sie sprach. Mit dem Herzen war sie niemals wirklich dabeigewesen. Sie hatte Mühe, sich mit einem Gott anzufreunden, der zuließ, daß ehrliche Menschen im Winter verhungerten und Neugeborene ertränkt wurden, nur weil sie das falsche Geschlecht hatten.

Aber wie um alles in der Welt konnte Jan das wissen?

Der junge Tempelritter sah sie noch einige Augenblicke auf die gleiche, unangenehm durchdringende Weise an, aber er war dann doch diplomatisch genug, nicht auf einer Antwort zu bestehen. Er sagte nur noch einmal: »Du weißt ja gar nicht, was du da sagst.«

»Aber du selbst hast mir doch...«

»Ich habe dir von meinen Abenteuern erzählt«, fiel ihr Jan ins Wort. »Von den Reisen, die ich zusammen mit meinem Herrn unternommen habe, und all den fremden Menschen und Ländern, die wir gesehen haben. Vielleicht war das ein Fehler.«

»Wieso?« fragte Robin. »Ist es denn nicht wahr?«

»Doch«, antwortete Jan. Dann zuckte er mit den Schultern, rettete sich in ein verlegenes Lächeln und fügte hinzu: »Mehr oder weniger.«

Robin schwieg. Sie wollte Jan nicht unnötig in Verlegenheit bringen. Außerdem hatte sie das Gefühl, daß Jan mehr erzählen würde, wenn sie ihn einfach reden ließ. Sie hatte mit ihrer Frage irgend etwas in ihm angerührt.

Jan riß einen Grashalm aus, steckte ihn zwischen die Lippen und lehnte sich mit geschlossenen Augen gegen die große Buche, in deren Schutz sie sich niedergelassen hatten, vielleicht zwanzig oder dreißig Schritte von der Kapelle entfernt und damit weit genug, um drinnen nicht gehört zu werden, aber zugleich auch nah genug, daß Jan seiner Aufgabe gerecht wurde.

»Du machst dir ein falsches Bild vom Leben eines Ritters, Robin«, sagte er leise. »Die Erziehung ist hart, und sie dauert Jahre. Ich war acht, als ich zu Bruder Abbé kam, und es wird wahrscheinlich noch einmal so lange dauern, bis meine Ausbildung wirklich abgeschlossen ist... wenn überhaupt.«

»Das würde mich nicht schrecken«, behauptete Robin.

»Du willst kämpfen lernen«, sagte Jan. »Du willst lernen, wie man mit dem Schwert umgeht, dem Morgenstern und der Lanze. Du würdest dabei verletzt werden.«

»Ich habe mich schon oft verletzt«, sagte Robin leichthin.

»Du wirst dir Schnittwunden einhandeln, Prellungen und Knochenbrüche«, fuhr Jan unbeirrt fort. »Du wirst Schmerzen und Entbehrungen erleiden, die du dir jetzt nicht einmal vorstellen kannst! Und das ist noch der angenehmste Teil der Erziehung.«

»Aber du...«

»Du mußt deine Familie verlassen«, fuhr Jan fort. »Du liebst doch deine Mutter?«

»Natürlich«, antwortete Robin impulsiv.

»Du würdest sie nie wiedersehen«, sagte Jan ernst. »Und auch alle anderen nicht, die du kennst. Du würdest dein ganzes Leben hinter dir lassen, um es gegen endlose Jahre harter Arbeit und Entbehrungen einzutauschen. Du müßtest die niedrigsten Arbeiten verrichten, von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang. Würde es dir Freude bereiten, drei Jahre lang Pferdeställe auszumisten, bevor du das erste Mal auch nur ein Schwert anrühren darfst?« Er schnaubte wütend. »Und in der Zeit dazwischen, wenn du gerade keinen Pferdemist schaufelst oder Feuerholz hackst, bis dir die Hände bluten, endlose Exerzitien und Gebete.« Er sah Robin streng ins Gesicht: »Betet ihr vor dem Essen, deine Mutter und du?«

»Natürlich«, antwortete Robin.

»Sag mir ein Vaterunser auf«, verlangte Jan. Als sie nicht sofort gehorchte, fügte er noch hinzu: »Auf französisch.«

»Das kann ich nicht«, antwortete Robin.

»Du müßtest es aber«, beharrte Jan grimmig. »Und zwar nicht nur eines, sondern dreißig, vor jeder Mahlzeit. Vor Sonnenaufgang mußt du eine Stunde beten und eine weitere nach Sonnenuntergang. Bei der kleinsten Verfehlung wirst du hart bestraft - manchmal nur für ein Lachen oder einen falschen Blick. Für einen unkeuschen Gedanken mußt du dich stundenlang kasteien, und wenn dein Herr es von dir verlangt, dann stehst du einen halben Tag mit nackten Füßen im Schnee und betest zweihundert Ave-Maria.«

»Warum?«

»Allein für diese Frage würdest du zehn Klafter Holz hacken, mit einem stumpfen Beil«, antwortete Jan. Er schüttelte heftig den Kopf, stockte plötzlich und starrte einen Moment aus mißtrauisch zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit hinter Robin - als hätte er etwas gehört, was seine Aufmerksamkeit erweckte. Seine Hand tastete nach dem Schwert, das neben ihm im Gras lag, zog sich aber zurück, bevor sie die Waffe erreichte, und er entspannte sich und ließ den Hinterkopf wieder gegen den Baum sinken, als habe er nur ein Tier gehört.

»Aber du... du hast doch dieses Leben auch gewählt!« sagte Robin verständnislos. Die Bitterkeit, die plötzlich in Jans Stimme war, erschreckte sie zutiefst. Sie war verwirrt. Bisher hatte sie geglaubt, daß der junge Ritter nicht nur stolz auf das war, was er war, sondern sein Leben als Tempelritter auch über alles liebte. War es möglich, daß er all diese Geschichten und Abenteuer nicht nur erfunden hatte, um sie zu beeindrucken, sondern auch und vielleicht sogar vor allem, um sich selbst etwas vorzumachen, sich ein Leben einzureden, das es in Wahrheit gar nicht gab? Und wenn ja, warum? Weil er die Wirklichkeit nicht ertragen hätte?

»Das habe ich nicht«, sagte Jan bitter. »Mein Vater hat die Entscheidung für mich getroffen. Und glaube bloß nicht, daß ich sie nicht schon bereut hätte. Jeden, jeden und jeden Tag, seit ich diese verfluchte Komturei das erste Mal betreten habe!«

»Aber ich dachte, du wärst stolz darauf, ein Ritter zu sein!«

»Ein Ritter?« Jans Stimme wurde bei diesen beiden Worten schrill, aber er lachte nicht. »Du glaubst, das wäre ich? Ich will dir sagen, was ich bin: Ich bin sein Büttel!« Er deutete auf die Kapelle. »Ich bin nichts als ein Laufbursche, der den Dreck wegräumen darf. Und meine bisher größte Belohnung besteht darin, darauf zu achten, daß das schmutzige Geheimnis eines geilen alten Bocks nicht an den Tag kommt!«

Darauf wußte Robin nun gar nichts mehr zu erwidern. Zum zweiten Mal innerhalb weniger Tage war ihre Welt aus den Fugen geraten. Sie hatte gerade erst angefangen zu begreifen, daß es jenseits der Wälder und des Flusses noch eine andere, viel aufregendere und größere Welt gab, und nun sollte sie glauben, daß sie vielleicht schlimmer war als die, die sie bisher kannte? Das konnte und wollte sie nicht.

Als sie wieder zu Jan hochsah, hatte er sich beruhigt. Der Zorn auf ein Schicksal, gegen das er vollkommen machtlos war, war so schnell wieder verraucht, wie er gekommen war. Er kaute auf seinem Grashalm herum und lächelte sogar - auch wenn sie nun argwöhnte, daß das, was sie bisher für den Ausdruck eines tiefen inneren Friedens in seinen Augen gehalten hatte, in Wahrheit nichts anderes als Resignation darstellte. »Aber selbst wenn du dumm genug wärst, all das auf dich zu nehmen, Robin, so gibt es noch zwei weitere Gründe, die es dir vollkommen unmöglich machen, ein Tempelritter zu werden. Der eine ist deine Herkunft. Nur wer adeligen Geblüts ist, darf ein Tempelritter werden.«

»Adelig? Bist du das denn?« Robin blinzelte verwirrt. Der einzige Edelmann, den sie kannte, war der Lehnsherr, der alle paar Jahre ins Dorf kam, um sich huldigen zu lassen, und sich mit seinem Gefolge über einen Gutteil der ohnehin knappen Vorräte hermachte, bevor er wieder verschwand und die Dörfler drei Kreuze hinter ihm her machten in der Hoffnung, daß sein nächster Besuch möglichst lange auf sich warten lassen würde. Doch dafür kamen dann seine Steuerschätzer und -eintreiber um so öfter. Nein, der Lehnsherr war kein guter Mensch, und nach allem, was Robin aus den Gesprächen der Erwachsenen aufgeschnappt hatte, waren die meisten anderen Adeligen auch nicht besser. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß auch Jan zu dieser Sorte von Menschen gehören sollte. Trotzdem mußte sie sich beherrschen, um nicht ganz instinktiv ein Stück von ihm wegzurücken.

»Oh ja, das bin ich. Wenn auch nur...« Er lächelte und deutete einen winzigen Zwischenraum zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand an. »... ein ganz Kleiner. Mein vollständiger Name lautet Jan von Tronthoff.«

»Tronthoff?« Robin runzelte die Stirn und tat so, als müsse sie angestrengt nachdenken. »Davon habe ich noch nie gehört.«

»Und was besagt das?« Jan hob besänftigend die Hand, obwohl sie gar nicht auf seine Frage reagiert hatte. »Das war gemein. Verzeih. Es besagt wirklich nichts, ob du von Tronthoff gehört hast oder nicht. Niemand hat das, weißt du? Das Baronat meines Vaters liegt hoch oben im Norden, fast schon im Dänischen, und es besteht aus nicht viel mehr als einem zugigen Turm auf einer Felsspitze, den mein Vater sein Schloß nennt, und einem halben Dutzend Bauernhöfe und einer Handvoll Fischer, aus denen er gerade genug herauspressen kann, um das Dutzend Halsabschneider zu bezahlen, das er seine Armee nennt. Ich glaube, die Summe, die er dem Orden stiften mußte, damit sie mich aufnehmen, hat sein gesamtes Vermögen verschlungen.«

»Aber warum hat er es dann getan?« wunderte sich Robin. Sie wunderte sich auch noch über etwas anderes - nämlich über den Haß, den sie in Jans Stimme vernommen hatte, als er über seinen Vater sprach.

»Weil er ein geltungsbedürftiger alter Narr ist«, antwortete Jan, nun scheinbar leidenschaftslos. »Es hat ihm wohl alles bedeutet, seinen einzigen Sohn zu einem Tempelritter gemacht zu haben. Ein von Tronthoff, der nach Jerusalem zieht, um gegen die Heiden zu kämpfen! Pah!«

Er spie seinen Grashalm aus, zupfte sich einen neuen und sagte: »Sei froh, daß du nicht adelig bist, Robin. Du wirst vielleicht immer arm bleiben, aber dein Leben ist dafür um vieles einfacher.«

Robin wußte nicht, was sie sagen sollte. Das Gespräch bereitete Jan sichtlich Unbehagen, vielleicht sogar Schmerz, und das wollte sie nicht. Vielleicht nur, um das Thema zu wechseln, sagte sie: »Du... hast von zwei Gründen gesprochen, warum ich kein Tempelritter werden kann. Was ist der andere?«

»Nur Männer können Tempelritter werden«, antwortete Jan, »und du bist ein Mädchen.«

»Woher...« Robin brach ab und biß sich ärgerlich auf die Unterlippe. Jans Worte hatten sie so überrascht, daß sie sich nun praktisch selbst verraten hatte. Trotzdem versuchte sie noch ein letztes Mal, sich herauszureden. »Ich meine: Wie kommst du auf diese verrückte Idee?«

Jan seufzte. »Du hältst mich für dumm, wie? Ich könnte dich jetzt auffordern, dein Gewand hochzuheben, um mich vom Gegenteil zu überzeugen, aber das ist gar nicht nötig.« Er lächelte. »Hat dir noch nie jemand gesagt, daß du hübsch bist?«

»Hübsch? Ich?« Jan nahm sie auf den Arm. Helle war hübsch, und Gese, die Frau des Müllers. Vielleicht noch ihre Mutter - aber sie doch nicht!

»Du wirst einmal eine sehr schöne Frau«, behauptete Jan, »und es wird nicht einmal sehr lange dauern. Aber das ist es nicht allein. Es gibt auch hübsche Knaben. Nur«, fügte er nach einem Blinzeln und grinsend hinzu, »daß man ihre Brüste nicht sieht, wenn sie sich vorbeugen.«

»Oh«, machte Robin verlegen. Sie sah an sich herab. So, wie sie jetzt dasaß, in das grobe und viel zu große Gewand gehüllt, das nicht nur vom Stoff her weit mehr Ähnlichkeit mit einem Sack als einem wirklichen Kleidungsstück hatte, sah man absolut nichts. Tatsache war aber, daß ihre Brüste vor bereits gut zwei Jahren angefangen hatten zu sprießen. Sie hatten noch längst nicht die Größe wie die ihrer Mutter oder gar die Helles, waren offensichtlich aber bereits verräterisch genug - jedenfalls für einen solch aufmerksamen Beobachter wie Jan von Tronthoff.

»Und noch etwas«, sagte Jan. »Bei einem unserer Treffen neulich war Blut im Gras, dort, wo du gesessen hast. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder, du leidest an dem schlimmsten Fall von Hämorrhoiden, von dem ich je gehört habe, oder du bist ein Mädchen.«

Er schien auf eine ganz bestimmte Reaktion zu warten, aber als diese nicht kam, sondern Robin ihn nur weiter betroffen anblickte, wurde er wieder sehr ernst und fragte leise und kopfschüttelnd: »Hat dich deine Mutter denn gar nichts über deinen Körper gelehrt?«

»Doch«, antwortete Robin. »Nur...«

»Nur nicht genug, scheint mir«, seufzte Jan. »Gerade das, was unumgänglich notwendig war, und wahrscheinlich nicht einmal das. Es ist immer dasselbe. Also nimm einen guten Rat von mir an, Robin - ist das überhaupt dein richtiger Name?«

Robin nickte. Ohne daß sie etwas dagegen tun konnte, begannen ihre Hände und Knie leicht zu zittern. Sie fühlte sich ertappt, und das Gefühl, ausgerechnet Jan belogen zu haben, machte es besonders schlimm.

»Bleib ruhig dabei, dich für einen Jungen auszugeben, wenigstens Fremden gegenüber, von denen du nicht weißt, ob du ihnen trauen kannst. Aber du solltest dich schnüren, und wenn du fühlst, daß sich... gewisse Tage ankündigen, dann sorge dafür, daß dein eigener Körper dich nicht verrät.«

Auch daraufsagte Robin nichts. Sie konnte es gar nicht. Alles, was sie zustande brachte, war ein angedeutetes Nicken, von dem sie nicht einmal wußte, ob Jan es überhaupt zur Kenntnis nahm. Die ganze Situation war ihr so peinlich, daß sie am liebsten vor Scham im Boden versunken wäre.

»Und was... was wirst du jetzt tun?« fragte sie schließlich. Sie warf einen raschen, ängstlichen Blick zur Kapelle hin. Wenn Jan seinem Herrn erzählte, wie dreist sie ihn belegen hatte, dann war es um sie geschehen.

Auch Jan sah in die gleiche Richtung, aber er schien an etwas vollkommen anderes zu denken, denn er runzelte kurz die Stirn, sah dann wieder Robin an und schüttelte den Kopf. »Das eine oder andere scheint dir deine Mutter ja doch über Männer verraten zu haben«, sagte er. »Aber keine Angst. Ich habe ein Keuschheitsgelübde abgelegt, und ich halte mich daran.«

Er seufzte, hob beide Hände vor die Augen und drehte sie ein paarmal hin und her, ehe er mit einem schiefen Grinsen, das Robin nicht verstand, hinzufügte: »Na ja. Meistens.«

Er lachte. Robin stimmte aus reiner Höflichkeit in dieses Lachen ein, als aus der Dunkelheit hinter ihr eine Mistgabel geflogen kam, deren rechte Zinke sich in Jans linkes Auge bohrte und seinen Schädel an den Baum nagelte.

Robin erstarrte. Sie begriff weder wirklich, was geschah, noch war sie in der Lage zu schreien, einen klaren Gedanken zu fassen oder sich gar zu bewegen. Jan spuckte röchelnd Blut und Schleim, und noch mehr Blut lief aus seiner ausgestochenen Augenhöhle, seiner Nase und seinen Ohren, und plötzlich begannen seine Glieder wie wild zu zucken, seine Blase und sein Darm entleerten sich gleichzeitig, und endlich fiel auch die Lähmung von Robin ab. Sie war immer noch nicht in der Lage, auch nur den mindesten Laut von sich zu geben, aber sie konnte sich wenigstens wieder bewegen.

Hilflos streckte sie die Arme nach der Mistgabel aus, aber sie wagte es nicht, sie herauszuziehen. Trotz seiner gräßlichen Verletzung lebte Jan noch immer, und obwohl sie ganz genau wußte, wie absurd dieser Gedanke war, hatte sie Angst, ihm Schmerzen zuzufügen.

Die Entscheidung wurde ihr abgenommen. Sie hörte schwere Schritte, wandte den Blick und sah Olof heranstürzen. Allerdings hatte Robin im allerersten Moment fast Mühe, ihn überhaupt zu erkennen. Er stürmte mit gesenkten Schultern und vorgestrecktem Schädel heran, schnaubend wie ein wütender Stier. Sein Gesicht war hochrot und zu einer Grimasse verzerrt, die Robin mit blankem Entsetzen erfüllte, denn sie begriff mit unerschütterlicher Gewißheit, daß er auch sie töten würde. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. Ihre Kehle war noch immer wie zugeschnürt.

Olof stürmte heran, riß die Mistgabel aus Jans Schädel und traf Robin dabei - vermutlich nicht einmal mit Absicht - mit dem Stiefel an der Schläfe. Vielleicht rettete ihr das sogar das Leben, denn Robin fiel wie vom Blitz getroffen zur Seite, so daß Olof sie möglicherweise für tot hielt.

Sie verlor jedoch nicht einmal das Bewußtsein, war für einen kurzen Moment jedoch vollkommen gelähmt, so daß sie nicht einmal mehr atmen konnte. Olof würdigte sie keines Blickes, sondern packte seine Forke dicht hinter der Gabel, drehte sich schwerfällig herum und begann breitbeinig und schnaubend auf die Kapelle zuzustapfen. Er bewegte sich nicht sehr schnell, aber auf eine Art, die es ihm irgendwie unmöglich zu machen schien, auch nur einen Moment innezuhalten.

Endlich konnte Robin wieder atmen, und im gleichen Moment erwachte auch ein gräßlicher, hämmernder Schmerz in ihrem Kopf. Mit einem gedämpften, keuchenden Schrei sog sie die Lungen voller Luft, setzte sich auf und wimmerte, als die plötzliche Bewegung den Schmerz zwischen ihren Schläfen zu nie gekannter Schärfe explodieren ließ. Blut lief über ihr Gesicht, und auch ihre Hände waren voller Blut. Sie wußte nicht einmal, ob es ihr eigenes war, aber sie wagte es auch nicht, in seine Richtung zu sehen, aus der furchtbaren Angst heraus, er könnte noch am Leben sein. Statt dessen hob sie - durch schlechte Erfahrung gewarnt, diesmal sehr vorsichtig - den Kopf noch ein Stückchen höher und hielt nach Olof Ausschau.

Sie hatte Schwierigkeiten zu sehen. Ihr eigenes Blut lief ihr in die Augen, und der Schmerz war so schlimm geworden, daß alles zu verschwimmen schien. Trotzdem sah sie, daß er die Kapelle mittlerweile erreicht hatte, aber Schwierigkeiten zu haben schien, die Tür zu öffnen.

Sie mußte Helle und den Tempelritter warnen. Olof hatte den Verstand verloren. Er würde jeden töten, den er dort drinnen fand, und wahrscheinlich würde er hinterher zurückkommen und sie auch noch umbringen, wenn er feststellte, daß sie doch noch am Leben war. Vielleicht würde er gar das ganze Dorf auslöschen. Zuzutrauen war es ihm in seiner Raserei.

Sorgsam darauf bedacht, nicht in Jans zerstörtes Gesicht zu blicken, streckte sie die Hand aus und griff nach Jans Schwert. Sie wußte nicht, warum. Sie konnte mit dieser Waffe rein gar nichts anfangen und war ohne sie vermutlich weit besser dran als mit ihr. Das einzig Sinnvolle, was sie in diesem Moment überhaupt hätte tun können, wäre sich umzudrehen und davonzulaufen, um im Dorf nach Hilfe zu rufen. Aber das hätte den sicheren Tod für Helle und Bruder Abbé bedeutet.

So sprang sie zwar auf, stürzte aber nicht davon, sondern packte Jans Schwert und rannte ebenfalls auf die Kapelle zu, im gleichen Moment, in dem es Olof offenbar gelungen war, die Tür einzuschlagen und hindurchzustürmen. Nur einen Augenblick später hörte sie Helle drinnen schrill aufschreien, und fast gleichzeitig hörte sie auch das zuerst wütende, dann erschrockene Schreien eines Mannes. Ihre Stimme funktionierte mittlerweile wieder, aber nun war es zu spät, um einen Warnschrei auszustoßen.

Statt dessen beschleunigte sie ihre Schritte noch mehr und erreichte nach drei oder vier schweren Herzschlägen den Eingang.

Das Grauen, das sich ihr darbot, stand dem draußen keinen Deut nach. Zwar gingen wohl die meisten Verwüstungen, die sie sah, eher auf das Konto der Zeit oder auf das von Bruder Abbé, der in dem kleinen Raum Platz für Helle und sich geschaffen hatte - die drei Bankreihen waren zerschlagen und zu zwei unordentlichen Haufen beiderseits der Tür aufgeschichtet, und der kleine Altar stand schräg, als wollte er jeden Moment zusammenbrechen - aber auch Olof hatte durch sein Wüten zu der Zerstörung beigetragen. Bruder Abbé, der ein überraschend kleiner, fettleibiger Mann war und ganz nebenbei vollkommen nackt, hockte benommen zwischen den Überresten des Betstuhls und betastete mit der linken Hand sein Gesicht. Es war blutüberströmt und begann bereits anzuschwellen. Vermutlich hatte es ebenfalls Bekanntschaft mit Olofs Forkenstiel gemacht. Helle lag mit ausgebreiteten Armen auf dem Bauch, und Olof stand mit gespreizten Beinen über ihr und stützte sich mit aller Gewalt auf die Mistgabel, deren Zinken er fast zur Gänze in ihren Rücken gerammt hatte. Gerade, als Robin die Tür erreichte, riß er sie heraus und stieß einen Schrei aus, der kaum noch etwas Menschliches hatte. Dann wirbelte er seine Waffe herum und richtete sie gegen Bruder Abbé.

Die Reaktion des Ritters überraschte Robin. Sie hätte geschworen, daß er keine Chance hatte, dem heimtückischen Angriff auszuweichen, nicht in der unglücklichen Lage, in der er sich befand, und noch dazu verletzt. Aber Bruder Abbé wich der Mistgabel mit einer unerwartet geschickten Drehung des Oberkörpers aus, so daß sich die Zinken dicht neben seiner Schulter in die Wand gruben, statt ihn zu durchbohren, und er tat noch ein übriges und streckte blitzschnell den Arm aus, um Olof die Forke zu entreißen.

Seine Kraft reichte nicht dazu. Olof war ein Bulle von einem Mann, und die Raserei, in die er verfallen war, gab ihm noch zusätzliche Kraft. Bruder Abbé knurrte wütend, trat ihm mit dem nackten Fuß vors Schienbein und erschütterte ihn diesmal immerhin so weit, daß er ins Wanken geriet. Der Tempelritter ließ keinen weiteren Angriff folgen, sondern nutzte die Atempause, um auf die Füße zu kommen und rasch zwei, drei Schritte Abstand zwischen sich und den Tobenden zu bringen. Darüber hinaus raffte er noch eine abgebrochene Armlehne an sich, um sich damit zu verteidigen.

Eine Aufgabe, die er mit überraschender Bravour meisterte. Trotz allem konnte Robin nicht anders, als ihn einfach bewundernd anzustarren. Was er tat, sah schlechterdings lächerlich aus - Robin bot sich der Anblick eines kleinen, dicken und sehr blassen nackten Mannes, der wie ein Ball hin und her hüpfte und an dem es überall wabbelte und schlackerte, der aber der Forke seines Gegners fast wie durch Zauberei immer wieder entging. Nicht Olof war es, der ihn traf, sondern er, der mit seinem Knüppel eine Anzahl harter Schläge auf Olofs Händen und Schulter landete, einmal sogar am Kopf. Hätte er es mit einem normalen Gegner zu tun gehabt, so hätte am Ausgang des Kampfes wohl kaum ein Zweifel bestanden. Schon nach kurzer Zeit blutete Olof aus einem Dutzend übler Platzwunden, und seine Hände und Unterarme waren total zerschlagen.

Bruder Abbés Pech war, daß Olof offenbar vollkommen tollwütig geworden war und anscheinend keinen Schmerz mehr spürte. Es war kein sehr fairer Kampf, und schließlich kam es, wie es kommen mußte: Olofs Mistgabel fand ihr Ziel. Eine der doppelt handlangen Zinken durchbohrte Abbés rechten Unterarm, und der Tempelritter taumelte zurück und ließ seinen Knüppel fallen. Olof schrie triumphierend auf und stocherte mit der Mistgabel nach seinem Gesicht. Abbé entging dem Angriff durch einen blitzschnellen Sprung, verlor dadurch aber das Gleichgewicht und wäre um ein Haar gestürzt. Der Kampf war entschieden, begriff Robin. Olof würde womöglich an den Verletzungen sterben, die Abbé ihm zugefugt hatte, aber zuvor würde er den Templer töten, daran bestand nicht mehr der geringste Zweifel.

Bruder Abbé taumelte, prallte gegen die Wand und wich einem weiteren Stoß der Forke aus. Dabei fiel sein Blick das erste Mal auf Robin, die noch immer unter der Tür stand. Seine Augen weiteten sich.

»Junge!« schrie er. »Mein Schwert!«

Robin reagierte ganz automatisch. Sie riß den rechten Arm in die Höhe und schleuderte das Schwert in Abbés Richtung, und der Tempelritter überraschte sie - und wohl auch Olof - ein zweites Mal, in dem er ihren ungeschickten Wurf durch um so größeres eigenes Geschick wettmachte und der Waffe nicht nur habhaft wurde, sondern sie sogar am Griff auffing. In einer weit ausholenden, halbkreisförmigen Bewegung schleuderte er die Scheide davon, und nun, da er ein Schwert in der Hand hatte, wendete sich das Blatt schnell und endgültig.

Der Tempelritter ging zum Angriff über, und er tat es kompromißlos und mit einer Brutalität, die Robin schockiert hätte, wäre sie überhaupt noch in der Lage gewesen, irgend etwas zu empfinden. Abbé schlug dreimal hintereinander blitzschnell zu. Sein erster Hieb kappte Olofs Mistgabel dicht über den Zinken. Sein zweiter Hieb kostete Olof den größten Teil des verbliebenen Stiels und sämtliche Finger der rechten Hand. Aber vermutlich spürte er nicht einmal Schmerz, denn Abbés dritter Hieb folgte unmittelbar darauf und spaltete seinen Schädel. Olof fiel wie ein nasser Sack zu Boden, und Bruder Abbé ließ schwer atmend sein Schwert sinken, legte die Waffe dann gänzlich zu Boden und preßte die Hand auf seinen durchstochenen Unterarm. Er gab jedoch keinen Schmerzenslaut von sich, sondern ging mit schnellen Schritte zu Helle hin, ließ sich neben ihr auf ein Knie sinken und drehte sie auf den Rücken. Helles Augen standen weit offen, waren aber ohne Leben. Erstaunlicherweise war auf ihren Zügen weder Schmerz noch Schrecken zu lesen; allerhöchstem so etwas wie Erstaunen.

Robin ging vorsichtig näher. »Ist sie ... tot, Herr?« fragte sie stockend.

Abbé nickte abgehackt. »Ja. Was für eine Verschwendung! Sie war so ein verdammt hübsches Frauenzimmer.« Er schüttelte den Kopf, sah dann wieder zu Robin hoch, machte dann eine befehlende Geste zum Altar hin und sagte: »Hol meine Kleider, Junge!«

Ganz automatisch gehorchte Robin; vielleicht, weil da etwas in Abbés Stimme war, was es ihr einfach unmöglich gemacht hätte, nicht zu gehorchen. Autorität. Sie hatte niemals eine solche Autorität in der Stimme eines Menschen gehört. Auch Jan hatte nicht annähernd so geklungen. Rasch brachte sie Abbé seine Kleider, die er neben denen Helles achtlos zu Boden geworfen hatte, senkte aber beschämt den Blick, bis sie an dem entsprechenden Geräusch hörte, daß der Tempelritter wohl dabei war, sein Kettenhemd überzustreifen.

Als sie den Kopf hob, begegnete sie Abbés Blick, und ihr wurde klar, daß der Templer sie die ganze Zeit über angestarrt hatte.

»Mein Wappenrock«, befahl er.

Robin sah sich suchend um. Sie entdeckte das Kleidungsstück erst nach einigen Augenblicken. Abbé hatte es nicht zu Boden geworden, wie den Rest seiner Kleidung, sondern über das kleine Kruzifix über dem Altar gehängt; wie um das, was er hier tat, vor den Augen des geschnitzten Heilands zu verbergen. Sie reichte es ihm und sah zu, wie Abbé den Wappenrock überstreifte. Es war ein schlichtes, weißes Gewand, dessen einziger Schmuck aus einem blutroten Kreuz mit gespaltenen Enden auf der Brust bestand. Nachdem Abbé es angelegt hatte, suchte er seinen Waffengurt, band ihn um und hob als letztes sein Schwert auf. Ebenso ruhig wie bisher trat er auf Robin zu und setzte ihr die Schwertspitze an die Kehle.

»So, und jetzt will ich wissen, wer du bist, Bursche«, sagte er. »Und vor allem, wie du an mein Schwert kommst.«

Robin wich keuchend zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß, aber Abbé und vor allem sein Schwert folgten ihr unbarmherzig. »Ich... ich wußte nicht, daß es Euer Schwert ist, Herr!« stammelte sie. »Wirklich! Das ist die Wahrheit!«

»Und woher hast du es?«

»Von Jan«, antwortete Robin hastig. »Ich dachte, es wäre sein Schwert!«

»Und das hat er dir einfach so gegeben? Du lügst!«

»Er ist tot«, antwortete Robin. »Olof hat ihn mit seiner Mistgabel erstochen. Er hat mich auch niedergeschlagen!«

»Tot?« Auf Abbés Gesicht erschien ein betroffener Ausdruck. Er machte das Kreuzzeichen, trat einen halben Schritt zurück und senkte das Schwert - aber nur ein kleines Stückchen. »Gott sei seiner armen Seele gnädig. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage: Wer bist du? Und was suchst du hier überhaupt?«

Robins Gedanken überschlugen sich. Was würde Abbé tun, wenn sie ihm die ganze Geschichte erzählte? Möglicherweise würde er sie töten, und sei es nur, um sein Geheimnis zu bewahren. Zugleich aber spürte sie, wie gefährlich es war, diesen Mann belügen zu wollen. Bruder Abbé wirkte selbst in Rüstung und Wappenrock nicht sehr viel beeindruckender als vorhin - er hatte einen Kahlkopf und einen kurzgeschnittenen, etwas löcherigen Vollbart, der sich zwar redliche Mühe gab, seine hängenden Speckwangen aber nicht wirklich verbergen konnte. Seine wulstigen Lippen und die kleinen, glitzernden Schweinsäuglein, die in der Masse seines Gesichtes fast unterzugehen schienen, ließen ihn verschlagen wirken. Trotzdem spürte sie, daß dieser Mann über einen messerscharfen Verstand verfügte und nicht leicht zu hintergehen wäre.

Sie entschloß sich, die Wahrheit zu sagen. Mochte Abbé hinterher mit ihr machen, was er wollte. Sie befand sich ohnehin in einem Zustand, in dem sie sich kaum noch vorstellen konnte, den nächsten Morgen zu erleben.

Was sie zu erzählen hatte, schien Abbé zumindest nicht unmittelbar dazu zu bewegen, ihr die Kehle durchzuschneiden. Er hörte ihr einige Augenblicke lang zu, steckte dann sein Schwert ein und wandte sich um, gab Robin jedoch mit einer Geste zu verstehen, daß sie weiterreden sollte. Er ging zu Helles Kleid hinüber, ließ sich in die Hocke sinken und riß einen langen Streifen aus dem Stoff. Dann schob er den Ärmel seines Kettenhemdes in die Höhe, und Robin sah, daß die Stichwunde in seinem Unterarm noch immer heftig blutete. Sie überlegte, ob sie ihm ihre Hilfe anbieten sollte, aber Abbé kam auch mit einer Hand ganz gut damit zurecht, sich einen Verband anzulegen. Er schien eine Menge Übung in solcherlei Dingen zu haben.

Als er seinen Verband fertig angelegt hatte, war auch Robin mit ihrem Bericht zu Ende - sehr viel hatte es ja ohnehin nicht zu erzählen gegeben.

Abbé betrachtete sie kopfschüttelnd. »Jan«, murmelte er und verzog mißbilligend das Gesicht. »Ich bin enttäuscht. Ich hatte große Hoffnungen in ihn gesetzt. Ich hätte niemals geglaubt, daß er so pflichtvergessen sein könnte. Wäre er nicht so ein vielversprechender Knappe gewesen, müßte ich zufrieden sein, daß Gott ihm seine gerechte Strafe für seine Pflichtvergessenheit hat zuteil werden lassen. Acht Jahre Ausbildung! Was für eine Verschwendung!«

Er seufzte, drehte sich um und sah einen kurzen Moment auf Helles leblosen Körper hinab. »Hilf mir, ihr das Kleid anzuziehen!«

Natürlich gehorchte Robin ohne Widerspruch. Mit vereinten Kräften streiften sie der Toten das Kleid über und legten sie dann wieder dorthin, wo Robin sie am Anfang gesehen hatte.

»Wer ist das?« Abbé deutete auf Olof.

»Olof«, antwortete Robin. »Helles Mann.«

»Das habe ich mir fast gedacht«, sagte Abbé finster. »Was für ein ... Tier. Es ist nicht schade um ihn.«

»Er hat Helle oft geschlagen«, sagte Robin unsicher. »Und auch andere. Er war in unserem Dorf nicht sehr beliebt.« Das war zwar die Wahrheit, aber sie kam sich trotzdem schäbig dabei vor, denn sie wollte damit dem Tempelritter im Grunde genommen nur nach dem Munde reden.

»Dieses Mal hat er sich den Falschen ausgesucht.« Abbé rieb sich versonnen den verletzten Arm, während er sich aufmerksam im Raum umsah. Nacheinander hob er einen Leinenbeutel, ein silbernes Tablett mit Brot, Käse und Weintrauben und zwei ebenfalls silberne Trinkgefäße vom Boden auf, die er allesamt in seinem Beutel verstaute. Dasselbe tat er mit zwei der drei Kerzen, die die Kapelle beleuchteten. Endlich verstand Robin auch, was er da tat: Er verwischte sorgfältig alle Spuren seines Hierseins.

Schließlich brannte nur noch eine einzige Kerze. Abbé nahm sie in die Hand, löschte die Flamme aber noch nicht, sondern wandte sich wieder zu Robin um.

»Kannst du reiten?« fragte er.

»Reiten? Nein.«

»Dann wirst du es lernen müssen«, sagte der Tempelritter gleichmütig. »Ich habe wenig Lust, den ganzen Weg zu deinem Dorf neben dir herzuschleichen.«

»Zu meinem... Dorf?« wiederholte Robin verständnislos.

»Natürlich zu deinem Dorf.« Abbé blies die Kerze aus, und nahezu vollkommene Dunkelheit senkte sich über das Innere der Kapelle. »Wir haben noch ein paar Dinge zu besprechen, aber dafür ist unterwegs noch Zeit genug. Geh voraus.«

Robin tastete sich durch die Schwärze zum Ausgang. Draußen blieb sie stehen und wartete auf Abbé.

»Du wartest hier«, befahl er barsch. »Laß dir nicht einfallen wegzulaufen, ich bin sofort zurück.«

Er verschwand hinter der Kapelle, kehrte aber tatsächlich schon nach einigen Augenblicken zurück. Er trug jetzt einen weißen Mantel, auf dem sich das Kreuzsymbol mit den gespaltenen Enden wiederholte, und führte zwei Pferde am Zügel.

»Jan?« fragte er.

Robin deutete stumm in die Richtung, in der der tote Junge lag. Um nichts auf der Welt wollte sie noch einmal dorthin, aber Abbé fragte sie nicht nach dem, was sie wollte, sondern machte eine befehlende, grobe Geste, und Robin gehorchte auch diesmal.

Sie gingen zu dem Baum, unter dem Jans Leichnam lag. Abbé band die Zügel der beiden Pferde an einen tiefhängenden Ast, ging hin und ließ sich neben Jan auf die Knie sinken. Er drehte den Toten auf den Rücken, setzte dazu an, das Kreuzzeichen auf seiner Stirn zu machen, und sog plötzlich und scharf die Luft zwischen den Zähnen ein.

»Großer Gott!«, keuchte er. »Er lebt ja noch.«

Robin fuhr entsetzt zusammen. »Was?!«

»Er ist noch am Leben«, wiederholte der Tempelritter. Einen Atemzug lang starrte er reglos auf Jan hinab, dann stand er auf, zog sein Schwert und stieß es ihm ins Herz.

Robin wandte sich schaudernd ab. Ihr wurde übel vor Entsetzen, und sie mußte sich mit aller Macht beherrschen, um sich nicht zu übergeben. Sie war fest davon überzeugt gewesen, daß der junge Tempelritter tot war, tot sein mußte! Nun begriff sie, daß sie es sich wohl nur eingeredet hatte. Großer Gott, was hatte sie ihm angetan!

Sie konnte hören, wie Abbé eine Zeitlang hinter ihr herumhantierte, wagte es aber nicht, sich umzudrehen, bis der Templer sie grob an der Schulter packte und zu einem der Pferde stieß. Robin sträubten sich im wahrsten Sinne des Wortes die Haare, als sie sah, daß Abbé Jans Leichnam vor dem Sattel über den Pferderücken gelegt hatte.

»Nein«, murmelte sie. »Bitte nicht!«

Statt auf ihren Protest zu reagieren, ergriff Abbé sie kurzerhand bei den Hüften und hob sie auf das Pferd. Im allerersten Moment schlug nackte Panik in ihr hoch, so heftig, daß sie um ein Haar sofort aus dem Sattel gesprungen und davongerannt wäre. Aber dann begegnete sie Abbés Blick und wagte es nicht.

»Du mußt dich einfach nur festhalten«, sagte Abbé. »Es ist nicht schwer. Um alles andere kümmere ich mich.«

Robin konnte nur nicken. Sie war noch immer wie gelähmt. Auch als Bruder Abbé sich neben ihr mit einer kraftvollen Bewegung in den Sattel schwang, sich zur Seite beugte und nach den Zügeln ihres Reittieres griff, schwieg sie weiter.

Sie legten auch den größten Teil des Weges zum Dorf in bedrückendem Schweigen zurück. Wie Abbé gesagt hatte, war das Reiten gar nicht so schwer - wobei sie ja eigentlich gar nicht wirklich ritt, sondern ihre Schenkel mit aller Kraft gegen den Pferdeleib preßte und mit den Händen den Sattelknauf umklammerte. Alles andere übernahm Bruder Abbé.

Erst, als sie das kleine Wäldchen auf halber Strecke passierten, brach der Tempelritter das Schweigen. »Du hast Jan gemocht?« fragte er.

Robin nickte. Als Abbé nach einem Augenblick nicht reagierte, wurde ihr klar, daß er die Bewegung gar nicht gesehen hatte und sagte: »Ich glaube, ja.«

»Und ihr habt euch gut unterhalten.« Abbé seufzte. »Er hat dir von seinem Leben als Ritter erzählt, seinen Abenteurern und Reisen... das war schon immer sein größter Fehler. Er war ein Aufschneider. Das Gebot der Bescheidenheit hat ihm nicht viel bedeutet.«

»Er hat euch sehr bewundert, Herr«, sagte Robin. Das war gelogen, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, Jan diese kleine Unwahrheit schuldig zu sein.

»Und das ging jetzt schon seit vier Wochen so«, fuhr Abbé fort, ruhig und in nachdenklichem, fast gelassenem Ton. »Vermutlich war ihm einfach nur langweilig. Und so ist es dann passiert... er hat dir von mir erzählt. Und du? Wem hast du von ihm erzählt? Deinen Eltern? Deinen Freunden? Alles natürlich unter dem Siegel der Verschwiegenheit.«

»Niemanden!« protestierte Robin. »Ich schwöre, daß ich niemandem...«

»Lüg nicht!« herrschte Bruder Abbé sie an. »Und hüte dich, einen falschen Eid abzulegen!«

Robin schwieg einen Augenblick, dann sagte sie leise: »Nur meiner Mutter. Aber die hat es bestimmt niemandem verraten. Sie hat mir versprochen, es niemandem zu sagen!«

Der Tempelritter lachte rauh. »Oh ja. Außer ihrer besten Freundin vielleicht, natürlich gegen deren Ehrenwort, niemandem etwas zu sagen. Und die wiederum hat es ihrer besten Freundin erzählt, selbstverständlich gegen das heilige Versprechen, kein Sterbenswörtchen davon weiterzugeben.« Er schüttelte den Kopf. »Es wundert mich fast, daß es so lange gedauert hat, bis die Geschichte schließlich bei Olof angekommen ist.«

Robin starrte ihn an. »Ihr meint...«

»Ich meine«, unterbrach sie Bruder Abbé, »daß du dir folgendes für den Rest deines Lebens merken solltest: Wenn du willst, daß etwas möglichst schnell die Runde macht, dann erzähle es einem Weibsbild, am besten unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Wenn du nicht willst, daß es bekannt wird, dann erzähl es ihr erst gar nicht.«

Das hatte Robin nicht gemeint. Was Bruder Abbé mit seinen Worten wirklich gesagt hatte, war, daß es ihre Schuld war. Hätte sie ihr Versprechen nicht gebrochen, dann hätte Olof niemals von dem geheimen Treffen zwischen Helle und dem Tempelritter erfahren und wäre nicht heute hier aufgetaucht, um dieses fürchterliche Blutbad anzurichten. Ebensogut, dachte sie bitter, hätte sie Jan und Helle auch gleich selbst erschlagen können.

Sie wollte etwas sagen, aber in diesem Moment drangen gedämpfte Laute aus der Dunkelheit zu ihnen, und als Robin erschrocken hochsah, glaubte sie etwas (jemanden?) davonhuschen zu sehen. Vielleicht nur ein Tier, das vor ihnen floh, vielleicht aber auch etwas anderes. Waren das nicht... Schritte gewesen?

Auch der Tempelritter schien das Geräusch gehört zu haben, denn er richtete sich kerzengerade im Sattel auf. Seine Hand senkte sich auf das Schwert, und der Blick seiner kleinen Schweinsäuglein bohrte sich in die Dunkelheit. Nach einem Moment ließ seine Wachsamkeit allerdings schon wieder nach.

Robin entspannte sich dagegen überhaupt nicht. Im Gegenteil. Sie wurde immer nervöser, sah sich immer hektischer um. Als sie das letzte Mal ein solches Warnsignal ignoriert hatte, hatte es Jan und Helle das Leben gekostet.

»Hast du Freunde, Junge?« fuhr Bruder Abbé fort. »Geschwister?«

»Nein«, antwortete Robin. »Ich habe keine Geschwister. Nur meine Mutter. Mein Vater lebt schon lange nicht mehr.«

»Aber du hast doch sicher Freunde in eurem Dorf«, bohrte Bruder Abbé weiter. »Jungen in deinem Alter - oder vielleicht gar schon ein Mädchen?« Er lächelte. »Nur keine Scheu. Du hast ja selbst gesehen, daß auch ich der Liebe nicht ganz abgeneigt bin.«

»Judith«, gestand Robin. »Die Tochter unseres Nachbarn ... und Gese. Aber sie ist schon älter. Ungefähr wie Helle.«

»Dann halte dich an sie«, sagte Bruder Abbé. »Eine erfahrene Frau kann dir eine Menge beibringen... liebst du deine Mutter?«

»Natürlich.«

»Und natürlich liegt dir auch viel an deinen Freunden, dem Nachbarsmädchen und an dieser Gese. Und wahrscheinlich auch noch an dem einen oder anderen. Euer Dorf ist sehr klein. Da kennt jeder jeden. Also hör mir zu: Wenn wir jetzt in dein Dorf kommen, dann wirst du gar nichts sagen. Ich rede, und du wirst einfach nur zuhören. Und wenn man dich fragt, ob das, was ich sage, die Wahrheit ist, dann wirst du es bestätigen. Wenn ich dabei bin, und auch später. Wenn du nicht sicher bist, was du sagen sollst, dann sagst du, daß du dich nicht mehr erinnerst, weil alles so schrecklich war und du so große Angst hattest. Hast du das verstanden?«

Robin nickte.

»Das will ich hoffen«, sagte Abbé mit einem dünnen, angedeuteten Lächeln. »Denn wenn nicht, dann werde ich wiederkommen. Ich werde dir kein Haar krümmen, aber ich werde deine Mutter töten, deine kleine Freundin, Gese und jeden anderen aus deinem Dorf, der dir etwas bedeutet.«

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