KAPITEL 22

Noch vor Ablauf der Stundenfrist, um die Salim gebeten hatte, setzten Gunthars Männer zum letzten Ansturm auf den Turm an. Er begann mit einem Chor allmählich anschwellender, lauter werdender Stimmen, Kriegsgeschrei, mit dem die Männer draußen sich selbst aufpeitschten und das keinem anderen Zweck diente, als sie ihre eigene Furcht vergessen zu lassen, aber Robin spürte es schon einen Moment zuvor. Für einen ganz kurzen Augenblick war es, als... hielte der gesamte Turm den Atem an. Eine unheimliche Stille breitete sich aus, und Robin hob den Kopf.

Jeromé hatte ihr angeboten, ihr einen Raum zuzuweisen, in dem sie abwarten konnte, aber das hatte sie abgelehnt. Warten worauf? Daß das Unausweichliche geschah und die endgültige Apokalypse über sie alle hereinbrach? Sie war sich der Tatsache vollkommen bewußt, daß sie alle den nächsten Morgen wahrscheinlich nicht mehr erleben würden, aber wenn es etwas gab, was noch schlimmer war als dieser Gedanke, dann war es die Vorstellung, allein in einem Zimmer zu sitzen und tatenlos darauf zu warten. Sie hatte den Templern vorgeschlagen, sich um die Verletzten zu kümmern, und Jeromé hatte dieses Angebot dankend angenommen.

Auch wenn sich ihre Verluste - wie Xavier es zynisch ausgedrückt hatte - in akzeptablen Grenzen hielten, so hatten sie doch schwere Verluste erlitten, und es gab kaum jemanden, der nicht auf die eine oder andere Art verwundet worden war. Eine helfende Hand wurde überall gebraucht, auch wenn es nicht die geschickteste war.

Jetzt ließ Robin den angefeuchteten Stoffstreifen sinken, den sie in den Händen hielt - das Verbandszeug war ihnen längst ausgegangen, so daß sie sich mit allem möglichen behelfen mußten - und lauschte. Für eine Sekunde wurde es still, vollkommen. Das Schweigen konnte sie erklären: Die Männer, die an den Gucklöchern und Schießscharten standen, sahen, was draußen geschah, und erstarrten für den Moment vor Schrecken, sammelten sich vielleicht und versuchten, irgendwie mit ihrer Furcht fertigzuwerden..., aber unter dieser Stille war noch etwas anderes, eine Anspannung, die stärker und stärker wurde. Die Bestie zerrte wieder an ihrer Kette.

Und zerriß sie.

Draußen hob das Kampfgeschrei der Angreifer an, und fast im gleichen Moment hörte man wieder jenen auf so schreckliche Weise harmlos anmutende Laut, mit dem jeder Angriff begann: Das dumpfe Geräusch, mit dem Pfeile und Bolzen gegen die Wände prallten, manchmal ins Holz fuhren, aber auch in Fleisch, ein Geräusch, das dem von Hagel nicht unähnlich war, nur weicher, bösartiger. Gunthars Männer waren keine guten Schützen. Sie trafen selten, aber sie trafen.

Der Mann, dessen linkes Bein sie gerade verbunden hatte, stand auf, griff mit grimmiger Miene nach dem Schwert, das neben ihm an der Wand lehnte, und humpelte aus dem Raum. Robin folgte ihm. Es gab noch andere Verletzte zu versorgen, aber plötzlich verließ sie der Mut. Es war so sinnlos. Warum eine Wunde verbinden, die im nächsten Moment wieder geschlagen wurde? Wozu einen Schmerz lindern, wenn das Schwert, das neuen und schlimmeren zufügen würde, schon gezogen war? Dies war der letzte Angriff. Jeder hier wußte es, auch wenn es keiner wagte, die Worte laut auszusprechen. Abbé und die anderen Ritter hatten Gunthars Entschlossenheit ebenso unter-, wie die Wehrhaftigkeit dieses Turms überschätzt. Die Angreifer würden die Entscheidung jetzt erzwingen, und Robin erkannte auf den Gesichtern der Männer, die sich auf dem Treppenabsatz vor ihr versammelten, daß dies jedem einzelnen von ihnen klar war.

Die Tür zerbarst schon unter dem ersten Ansturm. Das Holz, so dick wie ihr Arm und hart und schwer wie Stein, zersplitterte wie unter dem Faustschlag eines zornigen Riesen, als es von der improvisierten Ramme getroffen wurde. Einer von Abbés Männern wurde von den Trümmern getroffen und quer durch den Raum geschleudert, ein zweiter brach zusammen, als ein Speer an dem verkohlten Ende des Rammbocks vorbeistieß und seinen Schild einfach durchbohrte. Draußen gellten Schreie auf, ein dumpfes Poltern und Krachen und dann flackernder Feuerschein, als die Verteidiger Steine aus den oberen Fenstern und vom Dach warfen und brennendes Öl auf die Angreifer hinabregnen ließen. Der schmale Bereich vor der Tür, den sie von ihrem Standpunkt aus sehen konnte, schien sich in einen Ausschnitt der Hölle zu verwandeln, schlimmer und erbarmungsloser, als jede Phantasie ihn sich hätte ausmalen können. Robin sah einen brennenden Mann, der kreischend umhertaumelte und dabei fast grotesk mit den Armen schlug, wie ein großer Vogel mit brennendem Gefieder, Krieger, die von Steinen und Pfeilen getroffen zu Boden sanken, manchmal aber auch einfach weiter stürmten, als wären sie plötzlich unempfindlich gegen Schmerzen, oder hätten nicht einmal bemerkt, daß sie verwundet worden waren.

Nichts von alledem vermochte die Angreifer aufzuhalten.

Auch der Leiterwagen mit der improvisierten Ramme hatte Feuer gefangen. Seine vordere Hälfte brannte lichterloh, und der Turm wirkte wie ein riesiger Kamin, der die Flammen ansog. Von einem Augenblick auf den nächsten verwandelte sich die Tür in eine offenstehende Ofenklappe, durch die Flammen und eine Woge brüllender Hitze hereinschossen. Selbst die Verteidiger oben an der Treppe wichen keuchend und nach Luft ringend zurück, und aus dem unteren Geschoß hallte ein Chor gellender Entsetzensschreie herauf.

Dann sprangen die ersten Soldaten durch die Flammenwand herein, Schilde und Arme schützend vor die Gesichter gerissen und brüllend vor Schmerz und Wut, Dämonen gleich, die direkt aus dem Schlund der Hölle kamen. Allein der Anblick reichte wohl, um die verbliebenen Verteidiger endgültig zu demoralisieren. Manche warfen einfach ihre Waffen weg und flohen in Panik die Treppe herauf, und die wenigen, die mutig oder auch verzweifelt genug waren, Widerstand zu leisten, wurden einfach niedergerannt. Nur wenigen gelang es, über die Barrikade nach oben zu klettern und nach den hilfreich ausgestreckten Armen ihrer Kameraden zu greifen.

Die Verfolger waren ihnen direkt auf den Fersen. In Hitze und Rauch schien das gesamte untere Geschoß zu einem See aus schmelzendem Licht zu verschwimmen, in dem Schatten waberten wie tödliche Raubfische. Robin sah nur Schemen, das Blitzen von Metall, und hörte dann erneut gellende Schreie, als der Kampf um die Barrikade losbrach. Noch bevor die letzten Flüchtenden ganz hinübergeklettert waren, wurde sie von einer Hand grob bei der Schulter gepackt und zurückgezerrt.

Es war Xavier. »Weg hier!« schrie der Tempelritter. »Bring dich in Sicherheit!« Er und die beiden anderen rissen ihre Schilde in die Höhe und bahnten sich fast gewaltsam einen Weg zur Barrikade hin.

»Deus lo volt!« schrie Xavier. Robin wußte nicht, was diese Worte bedeuteten, aber die beiden anderen Templer griffen es auf und schrien es nun ebenfalls, und was immer es hieß, es schien ihnen neuen Mut und neue Kraft einzuflößen, denn die drei Tempelritter allein warfen die erste Welle der Angreifer zurück. Ihre Schwerter fuhren mit furchtbarer Gewalt unter die Männer und warfen sie zurück. Wer nicht unter den Hieben der wie in Raserei kämpfenden Tempelritter fiel, der stürzte schreiend in die Flammen zurück oder suchte sein Heil in der Flucht. Es war tatsächlich, als wäre der Zorn Gottes über die Angreifer gekommen, um sie mit einem einzigen Hieb hinwegzufegen.

Aber es war nur der schiere Mut der Verzweiflung, und am Ende war auch er der Übermacht nicht gewachsen. Die Templer warfen auch noch eine zweite Welle zurück, doch der Feuerschein am Fuße der Treppe erlosch jetzt rasch, und je mehr die flackernde Helligkeit abnahm, desto größer wurde die Zahl der Angreifer, die die Treppe heraufdrängten. Ein Pfeilhagel schlug den Tempelrittern entgegen. Die meisten gingen fehl oder zerbrachen an den hochgerissenen Schilden der drei Ritter, aber eines der Geschosse streckte einen Mann fast unmittelbar neben Robin nieder, ein anderes bohrte sich mit solcher Wucht in Xaviers Arm, daß der Templer zurückgeworfen wurde und gegen die Wand prallte. Sofort raffte er sein Schwert wieder auf und warf sich in den Kampf, beinahe ohne den Pfeil zu beachten, der in seinem Oberarm steckte.

Doch es war das Ende. Gunthars Männer rissen mit langen Stangen und Seilen, an denen sie eiserne Haken befestigt hatten, die Barrikade auseinander, und hinter ihnen drängten weitere, ausgeruhte Kämpfer heran. Angeführt wurden sie von keinem anderen als Gunthar von Elmstatt selbst.

Jeromé stürzte sich unverzüglich auf ihn, aber Gunthar wich nicht zurück. Sein Gesicht war blutüberströmt und verzerrt vor Haß und Anstrengung, und er schien in einen wahren Blutrausch verfallen zu sein. Jeder hätte damit gerechnet, daß Jeromé ihn niederringen würde, denn er war viel größer, jünger und auch stärker als er, doch es war ganz im Gegenteil Gunthar, der den Tempelritter mit einem Hagel wütender Hiebe vor sich hertrieb. Jeromé taumelte zurück. Es gelang ihm, die wütenden Schläge mit Schild und Schwert zu parieren, nicht jedoch, einen eigenen Angriff zu starten. Schließlich stolperte er und fiel rücklings zu Boden, und Gunthar riß sein Schwert mit beiden Händen hoch über den Kopf, um zu einem letzten vernichtenden Hieb auszuholen, der Jeromés verzweifelt hochgerissenen Schild vermutlich gespalten hätte.

»Gunthar! Haltet ein!«

Der Schrei ertönte irgendwo auf der Treppe über ihnen, und er war so durchdringend und laut, daß er selbst das Getöse der Schlacht übertönte und zu Gunthar durchdrang. Gunthar hob mit einem Ruck den Kopf - und erstarrte mitten in der Bewegung. Seine Augen wurden groß.

Auch Robin drehte sich herum, wie fast alle anderen auch, und Salim sagte im gleichen Moment noch einmal: »Haltet ein, Gunthar, oder ich schwöre im Namen Eures eigenen Gottes, daß Ihr auch noch Euren zweiten Sohn verliert!«

Er stand auf halber Höhe der nächsten Treppe und hatte Gernots rechten Arm so weit auf seinen Rücken gedreht, daß Elmstatt vor Schmerz keuchte. Salims andere Hand hielt einen Dolch, dessen Klinge er an Gernots Kehle drückte. Der scharfe Stahl hatte bereits seine Haut geritzt, und Blut lief an seinem Hals hinab.

Gunthar stand einen Atemzug lang wie erstarrt da, dann ließ er ganz langsam das Schwert sinken und trat einen Schritt zur Seite. Jeromé stand hastig auf und ergriff wieder sein Schwert, aber Gunthar beachtete ihn gar nicht. Überall rings um ihn herum kam der Kampf zum Erliegen, als die Männer ihre Waffen sinken ließen und zu Salim und seinem Gefangenen emporblickten.

»Laß... ihn los!« sagte er, mit einer leisen, zitternden Stimme, in der sich Haß, Zorn und Hilflosigkeit miteinander mischten. »Laß ihn los, du verfluchter Heide, oder...«

»Oder was?« fragte Salim. Er zerrte mit einem Ruck am Arm seines Gefangenen, und Gernot keuchte vor Schmerz. Noch eine Winzigkeit mehr, dachte Robin, und er würde seinen Arm brechen. »Wollt Ihr mich töten? Das könnt Ihr gewiß. Aber ebenso gewiß schneide ich Eurem Sohn vorher die Kehle durch!«

Gunthar preßte die Kiefer aufeinander, daß man seine Zähne knirschen hören konnte. Sein Waffenmeister Otto erschien neben ihm. Er hatte ein blutiges Schwert im Gürtel stecken und trug einen Bogen und einen einzelnen Pfeil in der Rechten.

»Ich kann ihn treffen.«

Gunthar schüttelte abgehackt den Kopf. »Er würde Gernot trotzdem töten«, sagte er düster. »Was willst du, Sarazene?«

Jeromé antwortete an Salims Stelle. »Legt Eure Waffen nieder, Gunthar«, sagte er. »Befehlt Euren Männern den Rückzug, und ich garantiere für Gernots Leben!«

Gunthar lachte böse. »Was ist das Wort eines Templers schon wert?« fragte er verächtlich. »Ihr werdet ihm nichts tun, aber dieser Wilde dort oben...«

»... wird ihm kein Haar krümmen«, fiel ihm Jeromé ins Wort. »Es ist genug Blut geflossen, Gunthar. Die Wahl liegt jetzt bei Euch - wir können alle sterben, oder alle weiterleben.«

»Glaubt ihm nicht«, sagte Otto. »Er ist ein Templer!«

In Gunthars Gesicht arbeitete es, und in seinen Augen erschien ein Ausdruck so grenzenloser Qual, daß er Robin trotz allem einfach nur leid tat.

»Ich garantiere für Euer Leben!« sagte Jeromé. »Wir wollen nur mit Euch reden, Gunthar. Alles, was wir verlangen, ist ein Gespräch mit Euch, Eurem Sohn und...« Er deutete auf Otto. »... ihm.«

Gunthar sah ihn unsicher an. Er traute ihm nicht, fürchtete aber auch um das Leben seines Sohnes.

»Ich schwöre bei Gott, daß wir keinen Verrat planen«, rief Jeromé mit erhobener Stimme. »Jedermann hier soll mein Zeuge sein! Schickt Eure Männer fort. Sie mögen ihre Verwundeten mitnehmen und gehen. Ich garantiere Euch freien Abzug, wenn Ihr Euch bereit erklärt zuzuhören, was wir zu sagen haben!«

»Das ist eine Falle!« sagte Otto. »Hört nicht auf ihn, Herr! Sie werden über uns herfallen, sobald unsere Männer gegangen sind.«

»Schweig!« sagte Gunthar. Otto brach tatsächlich ab, aber er wurde mit jedem Augenblick nervöser. Sein Blick wollte immer wieder in Robins Richtung wandern.

»Also gut«, sagte Gunthar schweren Herzens. »Zieht Euch zurück. Verlaßt den Turm!«

Er mußte seine Aufforderung nicht wiederholen. Diejenigen von seinen Männern, die noch gehen konnten, zogen sich hastig zurück oder kümmerten sich um ihre verwundeten Kameraden. Waffen wurden eingesteckt oder auch einfach zu Boden geworfen, und Jeromé wandte sich mit einer entsprechenden Geste an Salim.

»Laß ihn los.«

Salim zögerte, einen winzigen Moment nur, aber doch lange genug, daß Jeromé sich zu ihm herumdrehte und ihm einen zornigen Blick zuwarf. Erst dann zog er den Dolch von Gernots Hals weg und versetzte ihm einen Stoß, der ihn haltlos die Treppe hinunterstolpern ließ.

Gernot fand im letzten Moment Halt am Treppengeländer, fuhr wütend zu Salim herum und funkelte ihn an. »Dafür wirst du bezahlen, du Hund!« drohte er. »Ich reiße dir das Herz aus dem Leib!«

Salim grinste.

»Nicht jetzt, Gernot«, sagte Jeromé. Er schob sein Schwert in die Scheide zurück und wandte sich wieder zu Gunthar um. »Ihr seid verletzt, Gunthar. Soll sich jemand um Eure Wunden kümmern?«

Gunthar wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht und ließ die Bewegung in eine wegwerfende Geste übergehen. »Das ist nichts«, sagte er barsch. »Sagt, was Ihr mir zu sagen habt!«

»Nicht hier.« Jeromé machte eine einladende Bewegung. »Bitte folgt mir.«

Sie gingen die Treppe wieder hinauf. Otto stürmte dicht hinter Gunthar her, und er hatte sich nun nicht mehr gut genug in der Gewalt, um sich nicht nach Robin umzusehen, die hinter Xavier den Abschluß bildete.

Sie gingen in einen Raum im nächsthöheren Stockwerk, wo Abbé auf sie wartete. Der Tempelritter stand an der zugigen Maueröffnung und blickte hinaus, und er drehte sich auch nicht herum, als er die Tür und das Geräusch ihrer Schritte hörte. Robin konnte sein Gesicht nur von der Seite sehen, aber das, was sie darin erblickte, ließ sie schaudern. Abbé war ein gebrochener, besiegter Mann. Er mußte dem Verlauf des Kampfes vom Guckloch aus gefolgt sein, und natürlich hatte er auch gesehen, daß Gunthars Männer sich zurückzogen, aber sein Blick drückte keine Zufriedenheit aus, nicht einmal Erleichterung. Er wirkte einfach nur... leer. Robin kannte dieses Gefühl. Sie kannte es nur zu gut.

Salim, der als letzter hereingekommen war, schloß die Tür hinter sich und nahm mit verschränkten Armen davor Aufstellung, während Jeromé eine einladende Bewegung zum Tisch machte. »Bitte nehmt Platz.«

Gunthar verzog verächtlich das Gesicht. »Danke. Ich bin nicht hier, um Freundlichkeiten auszutauschen.«

»Das trifft sich gut.« Abbé drehte sich mit einer müden Bewegung von er Maueröffnung weg und sah Gunthar an. »Wir alle sind müde, Gunthar. Es ist zuviel geschehen. Ihr erinnert Euch an Robin, das Mädchen aus dem Dorf?«

Er wies auf Robin, und Gunthars Blick folgte der Bewegung. Er wirkte überrascht, fast als hätte er ihre Anwesenheit bis jetzt noch nicht einmal bemerkt.

»Ich sagte Euch, daß wir die Hoffnung hätten, sie würde ihre Sprache wiederfinden«, fuhr Abbé fort. »Sie hat sie wiedergefunden, und wir wissen nun, was sich in jener Nacht wirklich zugetragen hat.«

»Aus dem Mund einer Bauerndirne?« fragte Otto verächtlich. Sein Blick irrte durch den Raum, wie der eines verängstigten Tieres, das verzweifelt nach einem Fluchtweg sucht.

»Wenn Ihr gestattet, Gunthar, so werdet Ihr sie aus meinem Mund hören«, sagte Jeromé, ohne Otto auch nur eines Blickes zu würdigen. »Das Sprechen bereitet ihr noch immer große Mühe. Es würde zu lange dauern, so daß Ihr mir gestatten mögt, Euch zu erzählen, was ich aus ihrem Mund erfahren habe. Natürlich könnt Ihr mich jederzeit unterbrechen und Euch selbst mit einer Frage an sie wenden. Seid Ihr damit einverstanden?«

»Das ist grotesk!« sagte Otto.

Gunthar nickte.

»Das Mädchen war in jener Nacht draußen bei der alten Kapelle, nahe ihres Dorfes«, begann Jeromé. »Wenn ich sie richtig verstanden habe, so hatte sie dort Blumen auf eines der Gräber gelegt. Als sie gerade nach Hause gehen wollte, da sah sie eine Anzahl Reiter, die sich der Kapelle näherten. Sie bekam Angst und hat sich versteckt.«

»Reiter? Wen?« Gunthar sah seinen Sohn an.

»Reiter, die Kleider wie diese hier trugen.« Jeromé deutete auf sich selbst. »Die Kleider von Tempelrittern. Sie legten eine letzte Rast bei der Kapelle ein - um ihre Pläne zu besprechen. Robin hat sie belauscht.«

»Und zweifellos auch erkannt«, sagte Otto. »Wie lange sollen wir uns diesen Unsinn noch anhören?«

»Schweig, Otto«, sagte Gunthar noch einmal. »Laß sie reden.«

»Sie hat sie erkannt«, bestätigte Jeromé. »Und sie hatte große Angst - immerhin mußte sie mit anhören, wie diese Männer den Mord an ihrer Familie planten, und an allen, die sie kannte.«

»Ist das wahr?« fragte Gunthar.

Robin nickte, und Jeromé fuhr fort: »Sie hat gewartet, bis die Männer wieder fort waren, dann ist sie losgelaufen, um ihre Leute zu warnen. Aber natürlich kam sie zu spät. Sie mußte hilflos mit ansehen, wie die vermeintlichen Tempelritter ihre Mutter erschlugen, und die Überlebenden wie Vieh zusammengetrieben wurden. Wären Eure Söhne nicht im letzten Moment erschienen, Gunthar, dann hätten sie den Ort zweifellos schon an diesem Abend niedergebrannt und alle seine Bewohner getötet.«

Robin sah, wie Abbé überrascht blinzelte und zwischen Salims Brauen eine steile Falte erschien. Aber sie hielt Gunthars bohrendem Blick eisern Stand. Jeromé hatte ihr eingeschärft, was sie zu sagen hatte - und er hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß nicht nur ihr Leben davon abhing, was sie antwortete.

»Warum sollte jemand so etwas tun?« fragte Gunthar.

»Aus dem gleichen Grund, aus dem er die Geschichte mit dem angeblichen Tempelritter konstruiert hat, der eine Affäre mit einer Frau aus dem Dorf gehabt haben soll«, antwortete Jeromé. »Um uns in Mißkredit zu bringen.«

»Das ist doch lächerlich!« sagte Otto. Seine Stimme war um eine Spur schriller geworden, und sein Blick klebte nun regelrecht an Robins Gesicht. Auch Gernot wirkte nervös, aber auf eine vollkommen andere, fast verwirrte Art.

»Ich höre mir das nicht länger an!«

»Nur noch einen kleinen Moment«, sagte er, wobei er seinen Blick zum ersten Mal direkt an Otto wandte. »Wir sind auch gleich am Ende... Gernots Erscheinen rettete dem Mädchen das Leben, aber den feigen Mördern mußte wohl klar gewesen sein, daß sie um ihr Geheimnis wußte, denn nachdem sie Euren Bruder erschlagen haben, Gernot, kamen sie zurück, um Robin zu entführen. Sie verschleppten sie an einen Ort ganz hier in der Nähe, wo sie ihr die Kehle durchschnitten. Sie hielten sie für tot und ließen sie dort liegen - zweifellos, damit man sie findet und uns ihren Tod auch noch anlastet.«

»Was für eine phantasievolle Geschichte«, sagte Otto höhnisch. »Wahrlich, Jeromé, Ihr solltet Euch einen Teppich besorgen und Euch zu Euren muselmanischen Freunden auf einen Basar setzen, um Märchenerzähler zu werden. Wie schade nur, daß Ihr nichts davon beweisen könnt.«

»Aber wir können sie beweisen«, sagte Jeromé.

Otto starrte ihn an, und auch Gernot wurde eine Spur blasser.

»Robin hat den Mann erkannt, der versucht hat, sie zu töten«, fuhr Jeromé fort. »Den Anführer der vermeintlichen Tempelritter. Der gleiche Mann, der Gernot verletzt und vermutlich auch Gundolf getötet hat, Gunthar.«

»Wer?« fragte Gunthar.

Robin hob die Hand und deutete auf Otto. »Er«, sagte sie.

»Das ist grotesk!« sagte Otto. Seine Stimme wurde schrill. Gunthar sah einfach nur verwirrt aus, während sein Sohn alle Mühe hatte, sich seine Erleichterung nicht offen anmerken zu lassen.

»Sie lügt!« behauptete Otto. »Ihr... Ihr werdet ihr diese absurde Geschichte doch nicht etwa glauben!«

»Vergangene Nacht«, fuhr Jeromé fort, »drang ein maskierter Mann in die Komturei ein und versuchte Robin zu töten. Sie konnte entkommen, aber Bruder Tobias wurde schwer verletzt und wird vielleicht sterben. Jemandem war wohl daran gelegen, einen womöglich gefährlichen Zeugen zu beseitigen.«

»Und das war selbstverständlich auch ich«, höhnte Otto.

»Wo wart Ihr vergangene Nacht?« fragte Jeromé. »Auf jeden Fall nicht bei Gunthar und seinen Männern.«

»Ich war auf Burg Elmstatt«, antwortete Otto nervös. »Dafür gibt es Zeugen.«

»Daran zweifle ich nicht«, erwiderte Jeromé spöttisch. »Aber sagt, Otto: Woher habt Ihr die Verletzung an Eurer rechten Hand?«

Otto hob die Hand und ballte sie zur Faust. Ein schmaler, längst durchgebluteter Verband spannte sich über den Handrücken und zwischen Daumen und Zeigefinger. »Von einem Eurer tapferen Krieger«, antwortete er böse. »Leider könnt Ihr ihn nicht mehr fragen - er ist nicht ganz so gut weggekommen, fürchte ich.«

»Abbé - was soll das?« fragte Gunthar. »Habt Ihr mich herkommen lassen, um mich mit haltlosen Vorwürfen zu konfrontieren oder den Fieberphantasien eines Kindes?«

Abbé wollte antworten, aber Jeromé hob rasch die Hand und wandte sich wieder an Otto. »Noch eine letzte Frage«, sagte er. »Ihr tragt einen wunderschönen Dolch, Otto. Würdet Ihr ihn uns einmal zeigen?«

Otto schürzte nur widerborstig die Lippen, aber Gunthar deutete ein Nicken an, und nach einem weiteren Zögern zog Otto die Waffe aus dem Gürtel und warf sie mit einer trotzigen Bewegung auf den Tisch. Es war ein prachtvoller, fast handlanger Dolch mit einer doppelseitig geschliffenen Klinge und edelsteinbesetztem Griff. Seine Spitze war abgebrochen.

»Eine wunderschöne Waffe«, sagte Jeromé. »Schade nur, daß sie beschädigt ist. Aber ich glaube, ich kann Euch behilflich sein.« Er griff unter sein Gewand, zog ein sauber zusammengefaltetes weißes Tuch heraus und legte es neben dem Messer auf den Tisch. Beinahe schon zu langsam faltete er es auseinander. Unter dem weißen Tuch kam ein winziger Metallsplitter zum Vorschein. Es war die abgebrochene Spitze des Dolches.

»Wie es der Zufall will, paßt dieses Stück haargenau dazu«, fuhr Jeromé fort. »Aber vielleicht ist es ja gar kein Zufall, und vielleicht sollte dieses Stück Eisen jetzt eigentlich in Robins Herz stecken, nicht wahr?«

Otto schwieg, aber Gunthar sog scharf die Luft ein und fragte: »Woher habt Ihr das?«

»Aus Robins Zimmer«, antwortete Jeromé. »Es steckte in der Wand neben der Tür, genau dort, wo der Mörder sie angriff. Er hat sie verfehlt, und das Messer fuhr gegen die Wand und brach ab.« Er schüttelte tadelnd den Kopf. »Ich bin sicher, Ihr habt es nicht einmal bemerkt, Otto. Ihr solltet wirklich besser auf Eure Waffen achten.«

»Das ist lächerlich!« sagte Otto. Seine Stimme war schrill, und seine Rechte lag verkrampft auf dem Schwertgriff. »Was soll dieser Irrsinn? Ihr glaubt doch nicht wirklich, daß...«

»Du verdammter Hund!« heulte Gernot. Er warf sich warnungslos auf Otto, riß ihn herum und stürzte zusammen mit ihm halb über den Tisch. »Du warst es! Du hast Gundolf umgebracht!« Er holte mit der unversehrten Hand aus und schlug Otto drei-, vier-, fünfmal hintereinander mit der geballten Faust ins Gesicht, bevor es Jeromé und seinem Vater gelang, ihn zurückzureißen.

»Laßt mich!« brüllte er, scheinbar außer sich vor Wut. »Ich bringe ihn um! Ich reiße ihm das Herz aus dem Leib!«

Otto stemmte sich benommen in die Höhe. Seine Lippe war aufgeplatzt, und auch aus seiner Nase lief ein dünnes, rotes Rinnsal.

Gunthar ließ den Arm seines Sohnes los, drehte sich langsam zu Otto herum und fragte dann ganz leise: »Ist das wahr?«

Otto schwieg. Gunthar sah ihn noch einen weiteren Augenblick lang starr und fast ausdruckslos an, dann schlug er ihm mit dem Handrücken ins Gesicht. Nicht einmal besonders hart, aber Otto taumelte trotzdem einen halben Schritt zurück und hob die Hand an den Mund.

»Warum?« fragte Gunthar. »Warum hast du das getan?«

Otto schwieg weiter, aber Gernot versuchte sich loszureißen und keuchte haßerfüllt: »Laßt mich! Laßt mich eine halbe Stunde mit diesem Hund allein, und er wird uns alle Fragen beantworten!«

Gunthar schüttelte traurig den Kopf. Er wirkte zutiefst erschüttert. »Er wird reden, Gernot«, sagte er leise. »Aber nicht jetzt. Bringt ihn hinaus.«

Xavier trat zur Tür und rief zwei Bewaffnete herein, die offenbar zu genau diesem Zweck schon bereitgestanden hatten. Es waren große, ausgesucht kräftige Männer, die Otto auf einen entsprechenden Befehl Jeromés hin entwaffneten und seine Hände auf den Rücken banden.

»Bringt ihn zu Gunthars Männern«, sagte Jeromé. »Gernot - Ihr geht besser mit, nur damit es nicht zu einem Mißverständnis kommt.«

»Du wirst ihn nicht anrühren«, sagte sein Vater. »Ich rede selbst mit ihm.«

Gernot nickte und drehte sich mit steinernem Gesicht herum, um Otto und den beiden Männern zu folgen. Erst, als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten, fuhr Gunthar fort:

»Es tut mir leid. Ich weiß, daß das billige Worte sind, die mein Handeln nicht rechtfertigen können, aber ich kann Euch nur um Verzeihung bitten.«

»Euch trifft keine Schuld«, sagte Abbé. »Ihr wurdet ebenso getäuscht wie wir. Danket Gott, daß die Wahrheit am Schluß doch noch ans Licht gekommen ist.«

»Und bedankt Euch bei diesem Mädchen«, fugte Xavier - nicht nur zu Robins Überraschung - hinzu. »Wäre sie nicht gewesen und hätte unser Herr sie nicht auf wunderbare Weise überleben lassen, so wäre ein noch viel größeres Unheil geschehen.«

»Und Ihr hättet niemals erfahren, wer Euren Sohn wirklich getötet hat«, fügte Jeromé hinzu.

Gunthar starrte fast eine Minute lang aus aufgerissenen, blicklosen Augen und ohne etwas zu sagen ins Leere, dann atmete er tief und hörbar ein und drehte sich mit einer hölzern wirkenden Bewegung zu Robin um.

»Ich danke dir«, sagte er. »Was dir angetan wurde, kann nie wieder gutgemacht werden, doch wenn es dir an irgend etwas fehlt oder du einen Wunsch hast, dann komm zu mir. Elmstatt steht in deiner Schuld, so lange es existiert.«

Er ging ohne ein weiteres Wort. Kaum hatte er die Tür hinter sich geschlossen, da wandte sich Jeromé an Salim und sagte: »Geh und behalte Gernot im Auge, und vor allem Otto. Es wäre nicht besonders glücklich, wenn er entkäme - oder gar einem Mordanschlag zum Opfer fiele.«

Salim verschwand ohne ein weiteres Wort, und endlich fand Robin die Gelegenheit, Jeromé die Frage zu stellen, die sie schon die ganze Zeit über quälte, ohne daß sie sie bisher auszusprechen gewagt hätte.

»Warum haben wir das getan?«

»Wir?« Jeromé schmunzelte - aber irgendwie wirkte es drohend, fand Robin.

»Gernot«, sagte sie mühsam, und nicht nur Jeromé verstand, was sie meinte. Es war Abbé, der antwortete, nicht Jeromé, obwohl er von dieser neuen Version der Geschichte im ersten Moment mindestens ebenso überrascht worden war wie Otto und Gernot selbst.

»Es war das einzige, was Sinn machte«, sagte er. »Gunthar hätte die Wahrheit nicht ertragen. Er hätte sie nicht hören wollen oder wäre daran zerbrochen. Du kannst einem Mann nicht innerhalb weniger Tage seinen Sohn nehmen und ihm sagen, daß sein anderer Sohn der Mörder ist.« Er sah hoch. »Ihr habt richtig gehandelt, Bruder Jeromé. Und du auch, Robin.«

»Ich habe gelogen«, flüsterte Robin.

»Die Wahrheit wird an den Tag kommen«, antwortete Abbé. »Aber nicht jetzt. Es ist nicht der richtige Moment dafür.« Er lächelte. »Zerbrich dir nicht den Kopf, mein Kind. Das ist Politik. Davon verstehst du nichts.«

Robin sah ihn wortlos an, und plötzlich war ihr kalt. Das waren fast die gleichen Worte, die Gernot gebraucht hatte - nur einen Augenblick, bevor er Otto den Befehl gab, sie zu töten. Und sie begann sich zu fragen, ob der Unterschied zwischen Bruder Abbé und Gernot von Elmstatt wirklich so groß war, wie sie bisher geglaubt hatte.

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