Auf Sonntag, 29. April 1945, zurückgeblickt

Der frühe Tag war erfüllt vom Peitschenknall der Gewehr-schüsse. Unten rollten LKWs ab, rollten LKWs an. Rauhe Rufe, Gewieher und Kettengeklirr. Die Feldküche schickt ihren Rauch durch unser scheibenloses Küchenfenster. Unser Herd, mit Kistenbrettern und Latten kümmerlich beschickt, qualmt, daß uns die Augen tränen.

Durch den Rauch hindurch fragt mich die Witwe: »Sag mal, hast du eigentlich keine Angst?«

»Du meinst, vor den Russen?« »Ja, schon. Ich meine, wegen Anatol. So ein vollgefressener, bulliger Kerl.«

»Och, der frißt mir aus der Hand.«

»Und macht dir ein Kind dazu«, sagt die Witwe und stochert in ihrem Herdfeuer.

Ach so! Ja, das hängt über uns allen. Bis jetzt hab ich mir aber deswegen die geringsten Sorgen gemacht. Wieso eigentlich? Ich versuche es der Witwe zu erklären. Da ist so ein Sprichwort, das ich mal gehört habe: »Auf viel begangenem Wege wächst kein Gras.« Und, da die Witwe diesen Satz für diesen Fall nicht gelten läßt: »Ich weiß nicht, ich hab ein sicheres Gefühl, als könnte mir dies nicht zustoßen. Als wenn ich mich, ganz körperlich gesprochen, dabei verschließen könnte, gegen dies äußerst Unerwünschte zusperren.«

Auch das läßt die Witwe nicht gelten. Ihr Mann war Apotheker, sie kennt sich aus. Sie sagt, daß sie leider in ihrem wohlbestückten Arzneischrank für solche Fälle nichts Hilf-reiches zur Hand habe, mit dem ich mich schützen könnte.

»Und du selbst?« frage ich zurück.

Da läuft sie doch wahrhaftig zu ihrer Handtasche, die auf dem Küchenschrank liegt, kramt ihren Personalausweis hervor und hält ihn mir hin, wobei sie auf ihr Geburtsdatum weist, so verlegen, als ob sie sich vor mir entblößte. Tatsächlich wird sie noch in diesem Jahr fünfzig werden, ich hätte sie ein halb Dutzend Jahre jünger geschätzt.

»Wenigstens die Sorge bin ich los«, meint sie. Und dann: »Na, egal. Wir müssen jetzt schon überlegen, zu wem wir gehen, wenn es doch passiert.« Sie hat ihre Beziehungen, noch durch ihren verstorbenen Mann, so versichert sie mir. »Laß man, ich finde schon Rat, das wirst du los, bestimmt.« Sie nickt entschlossen, wie sie nun den Malzkaffee mit dem endlich kochenden Wasser aufgießt. Und ich stehe da, die Hände auf dem Leib, mir ist ganz dumm. Ich bin aber nach wie vor überzeugt, daß ich diesem Unglück durch mein bloßes Nichtwollen den Weg versperren kann. Sonderbar ist, wie die Männer zuerst immer fragen: »Hast du einen Mann?« Was soll man am zweckmäßigsten antworten? Sagt man Nein, werden sie gleich schleckrig. Sagt man Ja und glaubt dadurch seine Ruhe zu bekommen, so geht die Fragerei weiter: »Wo ist er? Ist er bei Stalingrad geblieben?« (Viele unserer Mannen haben bei Stalingrad gekämpft, tragen dafür eine besondere Medaille am Band.) Ist ein lebendiger Mann vorhanden, den man ihnen vorführen kann (wie es die Witwe mit Herrn Pauli tut, obwohl er bloß ihr Untermieter ist und nichts weiter), so weichen sie erst mal einen Schritt zurück. An sich ist es ihnen egal, was sie kriegen, sie nehmen verheiratete Frauen genauso mit. Aber es ist ihnen lieber, wenn sie den Ehemann solange aus dem Weg bringen können, ihn wegschicken, einsperren oder so. Nicht aus Angst. Die haben schon gemerkt, daß hier so leicht kein Ehemann explodiert. Aber er stört sie, solange sie noch nicht völlig blau sind.

Übrigens wüßte ich nicht, wie ich auf diese Frage nach meinem Mann antworten sollte, selbst wenn ich wünschte, ehrlich zu sein. Ohne den Krieg wären Gerd und ich längst verheiratet. Als Gerd aber den Gestellungsbefehl erhielt, war es aus, er wollte nicht mehr. »Kriegswaisen in die Welt setzen? Nein, kommt nicht in Frage, ich bin selbst eine, ich weiß Bescheid.« Dabei blieb's bis heute. Trotzdem fühlen wir uns genauso aneinander gebunden wie ein beringtes Paar. Nur, daß ich seit über neun Wochen nichts mehr von ihm gehört habe; die letzte Post kam vom Westwall. Ich weiß kaum mehr, wie er aussieht. Alle Fotos sind mir verbombt, und das einzige übriggebliebene Bild in meiner Handtasche hab ich selbst vernichtet, wegen der Uniform. Wenn's auch bloß Unteroffizier war, ich hatte Furcht. Im ganzen Haus haben sie alles weggetan, was an Soldaten erinnert und die Russen reizen könnte. Und jeder verbrennt Bücher. Wenigstens geben die uns noch Wärme und Suppe, während sie sich in Rauch auflösen.

Kaum hatten wir unseren Malzkaffee mit Butterschnitten vom Plünderbrot verzehrt, kamen auch schon wieder Anatols Mannen aufgekreuzt, für die wir eine Art von Restaurant sind - bloß, daß die Gäste ihr Futter mitbringen. Ein guter Typ diesmal dabei, der beste, den ich bisher unter ihnen fand: Andrej, Feldwebel, von Beruf Schullehrer. Schmaler Schädel, eisblauer Blick, leise und klug. Erstes politisches Gespräch. Das ist nicht so schwierig, wie man denken sollte, da all die politischen und wirtschaftlichen Vokabeln Fremdwörter sind, unseren ent-prechenden Wörtern ganz ähnlich. Andrej ist orthodoxer Marxist. Er gibt nicht Hitler persönlich die Schuld am Kriege, sondern dem Kapitalismus, der die Hitlers hervorruft und Kriegsstoff häuft. Er ist der Meinung, daß die deutsche und russische Wirtschaft einander ergänzen, daß ein Deutschland, nach sozialistischen Grundsätzen aufgebaut, Rußlands natür-icher Partner sei. Mir tat dies Gespräch, ganz abgesehen von seinem Gegenstand, den ich nicht so beherrschte wie Andrej, sehr gut - einfach weil einer von ihnen mich als gleichwertige Gesprächspartnerin behandelte, mich nicht anrührte dabei, nicht mal mit den Augen, nicht das Weibstück in mir sah wie bisher alle anderen.

In unseren Zimmern war den ganzen Vormittag über Kommen und Gehen. Andrej saß auf dem Sofa und schrieb seinen Rapport. Solange er da ist, fühlen wir uns sicher. Er brachte eine russische Armeezeitung mit, ich entzifferte die vertrauten Namen der Berliner Stadtteile. Viel ist nicht mehr deutsch von unserer Stadt.

Sonst erfüllt uns stets und ständig das Gefühl des völligen Preisgegebenseins. Sind wir allein, so schreckt uns jeder Laut, jeder Tritt. Die Witwe und ich drängen uns um Herrn Paulis Bett, wie jetzt, da ich dies schreibe. Stundenlang hocken wir in dem finsteren, eiskalten Zimmer. Iwan hat uns tief unten. Zum Teil wörtlich; denn es gibt in unserem Block noch unentdeckte Hausgemeinschaften, Familien, die seit Freitag im Keller leben und nur frühmorgens ihre Wasserholer ausschicken. Unsere Männer, so scheint es mir, müssen sich noch schmutziger fühlen als wir besudelten Frauen. In der Pumpenschlange erzählte eine Frau, wie in ihrem Keller ein Nachbar ihr zugerufen habe, als die Iwans an ihr zerrten: »Nu gehen Sie doch schon mit, Sie gefährden uns ja alle!« Kleine Fußnote zum Untergang des Abendlandes. Immer wieder ekelt es mich in diesen Tagen vor meiner eigenen Haut. Ich mag mich nicht anrühren, kaum noch anschauen. Muß daran denken, was mir die Mutter so oft erzählt hat von dem kleinen Kind, das ich einmal war. Ein Baby so weiß und rosa, wie es stolze Eltern freut. Und als der Vater 1916 Soldat werden mußte, hat er am Bahnhof beim Abschied der Mutter noch eingeschärft, daß sie niemals vergessen möge, mir das schattende Spitzenhäubchen aufzusetzen, bevor sie mich in die Sonne brächte. Lilienweiß sollten Hals und Gesicht bleiben, wie es damals Zeit und Mode von gut gehaltenen Töchtern verlangten. So viel Liebe, so viel Aufwand mit Häub-chen, Badethermometern und Abendgebet für den Unflat, der ich jetzt bin.

Nun zurück, zum Sonntag. Schwer, alles zurückzurufen, es geht mir so wirr durcheinander. Gegen 10 Uhr waren all unsere Stammgäste beisammen: Andrej, Petka, Grischa, Jascha, auch der kleine Wanja, der uns wieder das Geschirr in der Küche abwusch. Sie aßen, tranken und schwatzten. Einmal sagte Wanja zu mir, mit tiefernstem Kindergesicht: »Wir Menschen sind alle böse, alle. Auch ich bin schlecht, habe Böses getan.«

Anatol erschien, schleppte einen Plattenspieler an, ich weiß nicht, woher. Zwei der Seinen folgten ihm mit den Platten. Und was lassen sie laufen, immer wieder, wohl ein dutzendmal, nachdem sie die meisten Platten kurz angespielt und verworfen haben, den Lohengrin und die Neunte, Brahms sowohl wie Smetana? Sie spielen eine Reklameplatte, wie man sie früher bei der Textilfirma C.& A. am Spittelmarkt dazubekam, wenn man ein größeres Stück kaufte:

»Gehen Sie zu C.&A., schöne Sachen gibt es da...« Und so weiter, im Foxtrott-Takt wird die ganze Konfektion durchge-trällert, und die Iwans trällern in bester Laune mit, es sagt ihnen zu.

Schon kreist wieder Schnaps um den Tisch. Anatol kriegt seinen Gierblick, den ich kenne, und drängt schließlich den ganzen Verein unter ziemlich durchsichtigen Vorwänden hinaus. Nicht einmal einen Schlüssel gibt es für diese Tür. Anatol rückt den Ohrensessel heran. Ich muß immer an das denken, was ich in der Frühe mit der Witwe am Herdfeuer besprochen habe, mache mich starr wie ein Stück Holz, konzentriere mich mit geschlossenen Augen auf das Nein.

Den Sessel rückt er wieder ab, als die Witwe mit der Suppenterrine Einlaß begehrt. Während die Witwe und ich am Tisch Platz nehmen und sogar Herr Pauli von nebenan aus seinem Zimmer gehumpelt kommt, tipp-topp rasiert und manikürt, im seidenen Schlafrock... Währenddes liegt Anatol quer über der Bettstatt, seine gestiefelten Beine baumeln vorn herab, seine schwarzen Locken sind wirr. Er schläft und schläft, sacht den Atem blasend.

Anatol schlief wie ein Kind drei Stunden lang, allein mit uns drei Feinden. Auch wenn er schläft, fühlen wir uns sicherer als allein, er ist unsere Mauer. Der Revolver steckt ihm im Hüftgurt, nun sägt er Bretter durch.

Draußen derweil Krieg, das Zentrum raucht, Schüsse peit-schen.

Die Witwe holt eine Flasche des Plünder-Burgunders, den ich in der Schupokaserne erobert habe, und schenkt uns ein, und zwar in Kaffeetassen, für den Fall, daß Russen hereinplatzen. Wir reden ganz leise miteinander, um Anatol nicht zu wecken. Es tut uns wohl, höflich und freundlich miteinander zu sein, wir genießen die stille Stunde, möchten uns gegenseitig Gutes erweisen. Die Seele erholt sich.

Gegen 16 Uhr erwachte Anatol und stürzte Hals über Kopf von dannen, irgendwelchen dienstlichen Obliegenheiten zu. Wenig später draußen an der Vordertür Gebummer. Zittern, mein Herz aus dem Takt. Gottlob bloß Andrej, der Schullehrer mit dem eisblauen Blick. Wir strahlen ihn an, die Witwe fällt ihm erleichtert um den Hals. Er lächelt zurück.

Gutes Gespräch mit ihm, diesmal nicht über Politik, sondern über Menschlichkeit. Andrej doziert, daß er »solche Sachen« ablehne, wobei er verlegen an mir vorbeischaut; daß er in der Frau den Kameraden sehe, nicht den Körper. Er ist ein Fana-tiker, seine Augen sind weit weg, während er so spricht. Er ist der Unfehlbarkeit seines Dogmas gewiß. Ich muß jetzt manches Mal darüber nachdenken, ob es ein Glück oder Unglück für mich ist, etwas Russisch zu können. Auf der einen Seite gibt es mir eine Sicherheit, die den anderen fehlt. Was ihnen grobe Tierlaute, unmenschliche Schreie sind, ist mir doch Menschensprache - die reichgegliederte, melodische Sprache eines Puschkin und Tolstoi. Zwar hab ich Angst, Angst, Angst (seit Anatol läßt sie ein wenig nach); aber ich spreche doch mit ihnen von Mensch zu Mensch, unterscheide die Übelsten von den Erträglichen, gliedere den Schwärm, mache mir ein Bild von ihnen. Zum ersten Male fühle ich auch meine Zeugenschaft. Es werden nur wenige in dieser Stadt sein, die mit ihnen reden können; die ihre Birken und Dörfer und die Bauern in Bastsandalen gesehen haben und die hastigen Neubauten, auf die sie so stolz sind - und die nun wie ich Dreck sind unter ihren Soldatenstiefeln. Dafür haben es die anderen, die kein Wort ihrer Sprache verstehen, leichter. Sie bleiben diesen Männern fremder, können tiefere Gräben legen und sich einreden, das da seien gar keine Menschen, bloß Wilde, bloß Vieh. Das kann ich nicht. Ich weiß, daß sie Menschen sind wie wir; freilich, so scheint es mir, auf einer niedrigeren Entwicklungsstufe, als Volk jünger, noch näher ihren Ursprüngen als wir. So ähnlich haben sich wohl die Teutonen aufgeführt, als sie in Rom eindrangen und sich wohlduftende, künstlich gelockte, mani- und pedikürte besiegte Römerinnen griffen. Wobei das Besiegtsein unbedingt der Paprika auf dem Fleisch ist.

Es war etwa 18 Uhr, als es plötzlich Geschrei gab im Treppenhaus. Heftiger Dactylus gegen unsere Tür: »Die Keller sind geplündert worden!« Andrej, auf unserem Sofa sitzend, nickt dazu. Er wußte es schon seit Stunden, so sagt er, und er rät uns, gleich nach unseren Sachen zu sehen.

Unten das Chaos: zerschlagene Bretterwände, abgerissene Schlösser, die Koffer aufgeschlitzt und zertreten. Wir stolpern über fremden Kram, trampeln auf Wäsche herum, die noch sauber in den Plättbrüchen liegt. Mit einem Kerzenstumpf leuchten wir in unseren Winkel, greifen dies und das, Handtücher, eine Speckseite an der Strippe. Die Witwe jammert, ihr großer Koffer sei verschwunden, in den sie ihre besten Kleidungsstücke gelegt habe. Sie kippt irgendeinen fremden, aufgerissenen Koffer im Gang aus und macht sich daran, die paar restlichen eigenen Habseligkeiten hineinzu-füllen. Mit den Händen schaufelt sie verschüttetes Mehl vom Boden, stäubt es lose in den Koffer hinein, wie von Sinnen. Links und rechts wühlen bei Kerzengeflacker die Nachbarn. Man hört schrille Ausrufe und Gejammer. Bettfedern wirbeln durch die Luft, es riecht nach vergossenem Wein und Kot.

Aufwärts. Wir schleppen unseren Kram. Andrej ist die Plünderung sichtbar peinlich. Er tröstet uns, sagt, es sei vermutlich alles nur verschmissen und durcheinandergeworfen, aber nicht verschwunden; denn die Einbrechenden hätten bestimmt bloß Alkohol gesucht. Wanja, das Kind, inzwischen auch wieder eingetroffen, verspricht der Witwe mit ernstem Blick in seinen schwarzen Augen, halb deutsch, halb russisch, daß er uns morgen früh bei Tagesschein hinuntergeleiten und uns zur Seite bleiben werde, bis alles gefunden sei, was uns gehöre.

Die Witwe weint, sie erinnert sich, immer wieder aufschluchzend, an einzelne Sachen aus ihrem Koffer; an das gute Kostüm, das Strickkleid, die festen Schuhe. Auch ich bin tief niedergeschlagen. Rechtlos sind wir, Beute, Dreck. Unsere Wut entlädt sich auf Adolf. Bange Fragen: Wo steht die Front? Wann wird Friede?

Während wir an Herrn Paulis Bett, in das er sich nach dem Mittagessen wieder zurückgezogen hatte, miteinander flüstern, hält Andrej nebenan mit den Seinen um den Mahagonitisch herum Kriegsrat. Plötzlich fliegen alle Fensterflügel auf, Pappstücke sausen durchs Zimmer, ein Knall, mich wirbelt es an die gegenüberliegende Wand. Ein Knirschen, eine Kalkwolke im Zimmer, draußen ein Mauersturz... Wie wir eine halbe Stunde später von Nachbarn erfuhren, war eine deutsche Granate aufs Nebenhaus gefallen, hatte etliche Russen verwundet und ein Pferd getötet. Am nächsten Morgen fanden wir es im Innenhof: das Fleisch sauber abgetrennt, auf blutbeschmiertem Bettlaken liegend, daneben auf rotfeuchter Erde das fettige Geschling der Eingeweide.

Wie der Abend verlief, ist mir im Augenblick entfallen. Vermutlich Schnaps, Brot, Hering, Büchsenfleisch, Beischlaf, Anatol. Nun hab ich es doch wieder: eine ganze Runde von Russen, von uns bekannten und von neuen, um unseren Tisch herum. Immer wieder zogen sie ihre Uhren, verglichen ihre Zeit, die Moskauer Zeit, die sie mitgebracht haben und die der unsrigen um eine Stunde voraus ist. Einer hatte eine dicke, ehrsame Bauernzwiebel dabei, Marke Ostpreußen, mit ölgelbem, hochgewölbtem Zifferblatt. Warum sie bloß so hinter Uhren her sind? Es ist nicht deren Geldwert; denn nach Ringen, Ohrringen, Armbändern äugen sie längst nicht so, übersehen dergleichen, wenn sie wieder eine Uhr ergattern können. Wahrscheinlich liegt es daran, daß drüben in ihrem Land noch längst nicht jeder eine Uhr bekommen kann. Er muß schon was sein, was vorstellen, bevor er solch eine heißbegehrte Armbanduhr erwischt, das heißt, sie vom Staate zugeteilt bekommt. Und nun wachsen die Uhren auf einmal wie Radieschen in ungeahnter Fülle für jeden, der sie pflücken will. Mit jeder neuen Uhr wird der Besitzer einen Machtzuwachs verspüren. Mit jeder Uhr, die er drüben verschenken und vergeben kann, wächst sein persönliches Gewicht. So wird es sein. Denn sie wissen die Uhren nicht nach ihrem Geldwert zu unterscheiden. Sie bevorzugen Stücke mit Kinkerlitzchen, zum Beispiel mit Stoppuhr, oder mit Drehzifferblatt unter einer Metallhülse. Auch ein buntes Bildchen auf dem Zifferblatt ist für sie Lockspeise.

Ich sah all die Hände der Männer auf unserem Tisch liegen und verspürte jäh Ekel. Sie kamen mir so nackt vor - was klebt alles daran? Schnell Schnaps drauf getrunken, sie rufen »Wyipitj nado«, sooft ich ansetze, und feiern jeden meiner Schlucke wie eine anerkennenswerte Tat. Diesmal außer Schnaps auch Rotwein, wohl Kellerbeute. Eine Kerze, auf eine Untertasse gepappt, gab Flackerschein und warf die slawischen Profile an die Wand. Zum ersten Mal eine Runde von echten Diskutierern. Mindes-tens drei Hochbegabte darunter: Einmal Andre, der Schullehrer und Schachspieler mit seinem eisblauen Blick; beherrscht und leise sprechend wie immer. Dann ein Kaukasier, mit Nasenhaken und Funkelblick. (»Ich bin kein Jude, ich bin ein Georgier«, so führte er sich bei mir ein.) Er ist ungemein belesen, zitiert fließend in Vers und Prosa, ist sehr beredt und so flink wie ein Florettfechter. Die dritte Intelligenzbestie ist auch ein Neuer. Ein blutjunger Leutnant, heute abend erst durch einen Splitter verwundet, mit notdürftig verbundenem Schienbein, an einem deutschen Wanderstock humpelnd, der mit allerlei Wanderplaketten aus bekannten Orten im Harz verziert ist. Der Leutnant ist weißblond und blickt düster drein. Seine Redeweise ist hämisch. Einmal sagt er: »Ich als intelligenter Mensch -«, worauf ihm der Kaukasier ins Wort fällt: »Hier sind einige intelligente Menschen - die Njemka zum Beispiel.« (Das bin ich.)

Diskussion über den Kriegsursprung, den sie im Faschismus sehen, in seiner Struktur, die zu Eroberungen drängt. Kopf-schüttelnd geben sie zu verstehen, daß nach ihrer Meinung Deutschland keineswegs einen Krieg nötig gehabt hätte - es sei doch ein reiches, wohlbestelltes, kultiviertes Land, auch jetzt noch, trotz der Zerstörungen. Eine Weile disputierten sie über den kümmerlichen Frühkapitalismus, dessen Erbe die russische Revolution antrat, und über den fortgeschrittenen, reichen, auch in der Fäulnis fortgeschrittenen Spätkapitalismus, den sie bei uns zu sehen glauben. Mit zögernden, plötzlich sehr vorsich-tigen Argumenten betonen sie, daß ihr Land erst am Beginn einer großen Entwicklung stehe, daß es von seiner Zukunft her gesehen, beurteilt, verglichen werden müsse...

Einer weist auf die Möbel ringsum (Stil 1800) und findet darin überlegene Kultur. Schließlich geraten sie auf das Thema »Degeneration« und streiten sich darüber, ob wir Deutschen degeneriert seien oder nicht. Sie genießen das Spiel; flottes Hin und Her der Argumente, Andrej lenkt das Gespräch mit ruhigem Zügelgriff. Zwischendurch bösartige Ausfälle des Blonden, Verwundeten gegen mich persönlich. Spott und Hohn über Deutschlands Eroberungspläne, seine Niederlage. Die anderen gehen nicht auf diesen Ton ein, lenken schnell ab, verweisen ihm seine Rede, zeigen Siegertakt.

In das Palaver hinein platzt Anatol, müde vom Dienst, gähnend. Er hockte sich dazu, langweilte sich aber sehr. Da kann er nicht mit. Er ist vom Land. Er hat mir erzählt, daß er auf seinem Kolchos für die Milch verantwortlich war, also etwa Molkereileiter. Darauf ich: »Ach, wie interessant.« Er: »Na, es geht, weißt du, immer Milch, bloß Milch...« Und er seufzte. Nach einer halben Stunde des Dabeisitzens zog er wieder ab, ließ die Diskutierer weiterreden.

Nebenan schlief Herr Pauli. Wieder hatte die Witwe sich in seiner Nähe ihr provisorisches Nachtlager gerichtet. Sonst ist die Lage klar: Hausrecht für einige Hausfreunde, wenn man das so nennen kann, sowie für die von Anatol eingeführten Leute seiner Truppe. Nachtrecht jedoch allein für den Häuptling Anatol. Ich bin im übrigen jetzt wirklich Tabu, wenigstens für heute. Was morgen wird? Keiner weiß es. Anatol kreuzte gegen 12 Uhr nachts wieder auf; von selbst verzog sich daraufhin die Tafelrunde. Zuletzt humpelte der Weißblonde an seinem Wanderstock hinaus und maß mich zum stummen Abschied mit einem bösen Blick.

Nun Erinnerungslücken. Trank wieder sehr viel, weiß keine Einzelheiten mehr. Finde mich erst wieder im Morgengrauen des Montags, beim Gespräch mit Anatol, das zu einem kleinen Mißverständnis führte. Ich, zu ihm: »Du bist ein Bär.« (Das Wort ist mir vertraut, Medwjed, so hieß früher ein bekanntes russisches Speiselokal an der Tauentzienstraße.)

Darauf Anatol, in der Meinung, daß ich hier Wörter durcheinanderwerfe, sehr geduldig, wie zu einem Kinde sprechend: »Nein, das ist falsch. Ein Medwjed ist ein Tier. Ein braunes Tier im Wald, es ist groß und brummt. Ich aber bin ein Tschellawek, ein Mensch.« Rückblick auf Montag, 30. April 1945

Morgenfrühe, grau und rosa. Kalt bläst es durch die Fensterhöhlen, Rauchgeschmack im Mund. Wieder Hahnenkrähen. Die frühe Stunde hab ich für mich allein. Ich wische, fege Zigarettenhülsen, Gräten und Brotkrümel auf, reibe die Schnapsringe von der Tischplatte. Dann sparsame Morgenwäsche im Bad, mit zwei Tassen voll Wasser. Zwischen fünf und sieben Uhr früh, wenn die Witwe und Herr Pauli noch schlafen, liegt meine glücklichste Stunde, soweit das Wort Glück jetzt angebracht ist. Es ist ein relatives Glück. Ich flicke und stopfe ein wenig und seife mein zweites Hemd ein. Um diese Zeit, das wissen wir, kommt uns kein Russe dazwischen.

Ab acht Uhr wieder der übliche Betrieb durch die offene Hintertür. Allerlei fremdes Mannsvolk. Plötzlich sind zwei oder drei da, drücken sich um mich und die Witwe herum, suchen uns anzufassen, sind gierig wie die Füchse. Meistens kommt aber einer von den uns bereits Bekannten und hilft uns, die Fremden abzuwimmeln. Ich hörte, wie Grischa ihnen das Tabu steckte, wie er Anatols Namen nannte. Und ich bin ganz stolz darauf, daß es mir wirklich gelungen ist, mir einen der Wölfe zu zähmen, wohl den stärksten aus dem Rudel, damit er mir den Rest des Rudels fernhalte.

Gegen zehn Uhr stiegen wir zu den Buchhändlersleuten hinauf, hinter deren ausgezeichneten Sicherheitsschlössern immer noch ein Dutzend Hausbewohner Zuflucht sucht. Auf unseren Klopf-Dactylus ließ man uns hineinschlüpfen; es war ein Treffen der Hausbewohner angesetzt.

Gedränge von Männern und Frauen. Ich erkannte das Kellervolk gar nicht so schnell wieder. Manche sehen unglaublich verändert aus. Fast alle Frauen haben mit einem Mal graues oder weißgesträhntes Haar; ihnen fehlt die gewohnte Friseurfarbe. Auch die Gesichter wirken fremd und zerrüttet und alt. Wir plazieren uns um den Tisch, in großer Hast, voll Angst, daß unsere »Versammlung« den Russen auffallen und von ihnen mißdeutet werden könnte. In schnellstem Tempo, so schnell ich sprechen kann, teile ich mit, was ich an Neuigkeiten aus russischen Zeitungen weiß und von den Russen, hauptsächlich von Andrej und Anatol, erzählt bekam: Kreis um Berlin geschlossen; alle Vororte besetzt, bloß Tiergarten und Moabit noch umkämpft; massenhaft Generäle gefangen; Hitler soll tot sein, doch Genaues weiß man nicht; Goebbels soll Selbstmord begangen haben; Mussolini soll von Italienern erschossen worden sein; die Russen stehen an der Elbe, haben sich dort mit den Amerikanern getroffen und verbrüdert.

Gierig horchen alle, das alles war hier neu. Ich schaute mich um, fragte die Hamburgerin nach ihrer Tochter, nach Stinchen mit dem Kopfverband. Und ich bekomme mit s-pitzen S-Lauten die Antwort, daß die Achtzehnjährige auf den Hängeboden der Wohnung hinaufgezogen sei und dort oben unter der Küchendecke alle Nächte und den größten Teil der Tage verbringe. Von Hängeböden ahnen die Russen nichts. Solche komischen Kabusen kennen sie bei sich zu Hause nicht. Früher tat man die Koffer hinauf; noch früher sollen die Hausmädchen dort genächtigt haben. Jetzt vegetiert also Stinchen in dem engen, muffigen Gelaß, mit Bettzeug, Nachtgeschirr, Kölnisch Wasser. Und sooft Schritte hörbar werden oder sonstwie Lärm ertönt, zieht sie, so sagt die Mutter, schnell die Tür zu ihrem Gelaß zu. Jedenfalls ist Stinchen noch Jungfrau.

Wir tappten wieder abwärts. Längst ist unser Haus Soldatenhaus. Überall Geruch von Gäulen. Stücke von Pferdemist liegen herum, an den Soldatenstiefeln hereinge-schleppt. Sie tun sich keinen Zwang an, die Sieger. Sie pissen an die Wände, wo immer sie wollen. Urinlachen stehen auf den Treppenpodesten und unten im Hausflur. Es heißt, daß sie es in den verlassenen, ihnen preisgegebenen Wohnungen nicht anders machen.

In unserer Küche wartete schon, aufrecht wie eine Schildwache, das Kind Wanja, sein Automatengewehr in Bereitschaft. Mit hundetreuem Blick erbot er sich zum Kellergeleit. Wieder Abstieg in das Dunkel. Im Hinterflur lagen noch etliche Russen herum und pennten in den Tag hinein, aufrichtigem Bettzeug, das sie sich irgendwo zusammenge-lesen haben. Im Winkel unter der Wendeltreppe lag uns einer im Weg, von dem eine Lache ausging. Brummend rückte er auf Wanjas Fußtritte hin beiseite. Wanja mit seinen sechzehn Jahren ist bereits Sergeant und hält auf seinen Rang. Andrej hat mir erzählt, daß er als junger Fremdarbeiter auf einem ostpreußischen Gut gearbeitet hat und sich den kämpfend vordringenden russischen Truppen anschloß, worauf er dank irgendwelcher Heldentaten rasch die Rangleiter hinaufklomm.

Im Hauskeller tasteten wir herum, suchten nach den Sachen der Witwe. Sachen, die ich nicht kenne und die die Witwe gar nicht mehr so genau kennen wollte, denn sie nahm und griff sich, was immer ihr brauchbar erschien. Beim matten Licht aus den Oberlichtfenstern, unterstützt von Wanjas Stablampe, sammelten wir Kartoffeln und Zwiebeln und nahmen von einem Bord heil gebliebene Gläser mit Eingemachtem herunter.

Ein Kerl näherte sich, Schlitzaugen, machte schweinische Redensarten, mit deutschen Wörtern untermischt. Wanja darauf, an dem Kerl vorbei, in die Luft hinein: »Schon gut, genügt.« Und der Schlitzäugige trollte sich.

Mittagessen. Noch haben wir alles reichlich. Im Vergleich zu den mageren Mahlzeiten meiner einsamen Wirtschaft oben in der Dachwohnung führe ich jetzt ein fettes Leben. Keine Brennesseln mehr, dafür Fleisch, Speck, Butter, Erbsen, Zwiebeln, Gemüsekonserven. Herr Pauli futtert auf seinem Schmerzenslager wie ein Scheunendrescher. Bloß bei dem Birnenkompott fing er an zu schimpfen und zog sich einen langen, scharfen Glassplitter aus den Zähnen. Auch ich holte mir einen scharfen Zacken aus dem Mund. Das Kompottglas gehörte zu unserer Keller-Ausbeute, war zerbrochen gewesen.

Immer noch Krieg draußen. Und unser neues Morgen-und Abendgebet: »Dies alles verdanken wir dem Führer.« Ein Satz, der in den Friedensjahren tausendmal als Lob und Dank auf Plakate gemalt, in Reden ausgesprochen wurde. Nun schlägt er, unverändert im Wortlaut, in seinem Inhalt um, wird zu Hohn und Spott. Ich glaube, sowas nennt man eine dialektische Umkehrung.

Stiller Nachmittag. Anatol war mit seinen Mannen unterwegs. Es heißt, sie besprechen eine Feier für den 1. Mai. Wir bangen vor diesem Feiertag. Alle Russen, so heißt es, bekommen dann Schnaps zugeteilt.

Kein Anatol. Statt seiner erschien spät abends gegen 21 Uhr ein kleiner Kerl, schon älter, pockennarbig, mit zerschlitzten Wangen. Herzklopfen. Solch wüstes Gesicht!

Doch erstaunlich gute, beflissene Manieren und überaus gewählte Redeweise. Der erste Soldat auch, der mich »Graschdanka« nennt, »Bürgerin« - die russische Anrede für fremde Frauen, die man nicht »Genossin« titulieren kann. Er stellte sich vor als der neue Adjutant von Anatol, der von diesem beauftragt sei, ihn für das Abendbrot anzumelden und das Nötige dafür heranzubringen. Dies alles draußen vor der Vordertür, während ich noch die Kette vorgelegt hielt.

Ich ließ ihn ein, bot ihm einen Stuhl an. Er war offenbar begierig, sich in ein Gespräch mit mir einzulassen. Gewiß weiß er, wie wenig Vertrauen sein Gesicht einflößt, und ist deshalb doppelt bemüht, auf andere Art zu gefallen. Er berichtete, daß er im Kaukasus zu Hause sei, in einer Gegend, die auch Puschkin besucht und wo er manche Anregung für sein Werk gewonnen habe. Ich verstand nicht alles, er drückte sich gebildet aus, formte lange, umständliche Sätze. Immerhin konnte ich auf das Stichwort »Puschkin« hin einige Titel nennen, so den Boris Godunow und den Postmeister. Ich erzählte ihm, daß dieser Postmeister vor ein paar Jahren in Deutschland verfilmt worden sei, was ihn sichtlich freute. Kurz, das reine Salongeplauder, sehr wunderlich. Ich kenne mich mit diesen Burschen nicht aus, bin immer aufs neue überrascht, womit sie uns überraschen.

Plötzlich in der Küche Lärm und Männerstimmen. Etwa Anatol? Der kleine Kaukasier meint, nein, geht aber sofort mit mir in die Küche, aus der soeben mit allen Zeichen des Schreckens die Witwe geflüchtet kommt, schreiend: »Vorsicht, der Petka!«

Petka? Herrgott, ja, den gibt es auch noch. Petka mit dem Bürstenhaar und den Holzfällerpratzen, die so bebten, als er sein peinliches Romeogestammel auf mich losließ.

Zu dritt dringen wir in die Küche vor. Dort steht auf der Anrichte ein kleines, versiegendes Hindenburglicht. Dazu das Geflacker einer sterbenden Taschenlampe, geschwungen von einem Russen, den ich noch nicht gesehen habe. Der andere freilich ist zweifellos Petka, ich höre es an seiner Stimme. Seit vorgestern (ja, es war wirklich erst vorgestern) ist seine Liebe zu mir in Haß gegen mich umgeschlagen. Petka, der verdrängte Sibiriak, kommt auf mich zu, da er mich sieht. Seine Borsten sind gesträubt (die Mütze ist werweißwo). Seine kleinen Augen glitzern. Er ist stockbesoffen.

In der Ecke am Fenster steht eine Nähmaschine. Petka reißt das ganze Ding an dem verschlossenen Deckel vom Boden hoch und schleudert es zu mir herüber quer durch die Küche. Krachend knallt das Möbel auf die Fliesen. Ich ducke mich, rufe dem kleinen Kaukasier zu: »Hol Anatol!«, drücke mich hinter den anderen, fremden Soldaten, der mit Petka herkam, flehe ihn um Hilfe gegen den Betrunkenen an. Petka schlägt nun mit nackten Fäusten nach mir, trifft aber infolge seiner Schlagseite hoffnungslos daneben. Unvermutet bläst er dann das kleine Notlicht auf der Anrichte aus. Nun versagt auch die Batterie der Taschenlampe völlig, wir sind im Dunkeln. Ich höre Petka keuchen, rieche die Fuselfahne. Angst habe ich eigentlich gar nicht, bin viel zu beschäftigt damit, Petka auszuweichen, ihm ein Bein zu stellen, und spüre auch um mich herum die Bundesgenossen. Endlich haben wir ihn alle miteinander zur Hintertüre gelotst. Die Stablampe gibt wieder ein paar Licht-fetzen von sich. Wir drücken Petka die Wendeltreppe hinab, schon fällt er etliche Stufen hinunter. Im Stolpern ruft er mir zu, ich sei schlecht, ein Unflat - und den Mutterfluch.

Ein Uhr nachts, also schon Dienstag, 1. Mai. Ich hockte im Ohrensessel, war so hundemüde. Der kleine Adjutant war wieder gegangen, wollte nun wirklich Anatol mitbringen. Ich horchte, duselte... Längst waren die Witwe und Herr Pauli schlafen gegangen. Ich wagte es nicht, wartete...

Endlich Klopfen an der Vordertür. Wieder der Kleine. Diesmal ist er beladen mit Speck, Brot, Heringen, einem Kochgeschirr voll Schnaps. Stolpernd vor Schläfrigkeit suche ich in der Küche Teller und Gläser zusammen, richte den runden Tisch, wobei der Kleine hilft. Zierlich ringeln sich die Heringsfilets, sauber entgrätet. Ich gähne, der Kleine tröstet mich: »Gleich kommt Anatol.«

Tatsächlich ist er zehn Minuten später da, zusammen mit dem düsterblonden Leutnant, der immer noch an seinem deutschen Wanderstab humpelt. Anatol zieht mich auf seine Knie, gähnt: »Ich, schlafen...«

Kaum sitzen wir zu viert beim Essen und Trinken, da klopft es wieder draußen. Einer von Anatols Mannen, der Anatol mitsamt seinem Adjutanten zum Kommandanten holen soll. Irgendwas scheint los zu sein in dieser Nacht; oder hängt alles mit der Maifeier zusammen? Anatol steht seufzend auf, entschwindet. Schnell beißt der Kleine nochmals kräftig in sein Speckbrot, läuft kauend hinterdrein.

Weg sind sie. Es bleibt der Düsterblonde. Unruhig stakt er an seinem Stock durchs Zimmer, setzt sich wieder hin, starrt mich an. Die Kerze flackert. Ich sacke beinahe vom Stuhl vor Schlaf. Mir sind alle Vokabeln aus dem Kopf gefallen.

Der Weißblonde stiert vor sich hin. Er sagt, er will hierbleiben. Ich will ihm die hintere Kammer zeigen. Nein, hier in diesem Zimmer will er bleiben. Ich lege ihm eine Decke auf das Sofa. Nein, er will ins Bett, so quengelt er, bockig, eintönig, wie ein übermüdetes Kind. Gut - soll er. Ich lege mich, angezogen, wie ich bin, aufs Sofa. Nein, ich soll zu ihm ins Bett kommen. Ich mag nicht. Da wird er mir auf dem Sofa lästig. Ich drohe mit Anatol. Der Düsterblonde lacht grob: »Der kommt die Nacht nicht mehr.«

Ich stehe auf, will nach vorn in die Kammer gehen oder nebenan zur Witwe, irgendwohin. Da gibt er nach, ist es zufrieden, auf dem Sofa zu liegen, wickelt sich in die Decke. Nun lege ich mich angezogen auf das Bett, hab nur die Schuhe abgestreift.

Wenig später schrecke ich hoch, höre im Dunkel den Stock näher tappen. Wieder ist er da, will zu mir ins Bett. Ich bin trunken von Müdigkeit, wehre mich, lalle irgendwas, mag nicht. Er läßt nicht nach, zähes, trübes Drängen, freudlos. Ein paarmal wiederholt er mürrisch: »Ich bin ein junger Mensch.« Er ist höchstens zwanzig.

Einmal stoße ich ihn beim Wehren an das verwundete Bein. Er stöhnt auf, beschimpft mich, schlägt mit stumpfer Faust nach mir. Dann beugt er sich aus dem Bett heraus, sucht am Boden herum. Erst nach einer Weile begreife ich, daß er nach seinem Stock sucht, den er vor dem Bett liegengelassen hat. Es ist ein knotiger Wanderstock. Wenn er mir im Dunkel damit eins über den Kopf zieht, ist es aus. Ich versuche, ihm die Hände festzuhalten, zerre ihn von der Bettkante weg. Wieder fängt er an zu drängen. Ich flüstere: »Das ist ja wie bei Hunden...« Ein Satz, der ihm ausnehmend gefällt, denn er wiederholt ihn mürrisch und ausdauernd: »Ja - gut so - wie bei Hunden - sehr gut - Hundeliebe - Hundeliebe -.« Zwischendurch fallen wir beide für Minuten in erschöpften Schlaf, dann drängt und wühlt er wieder... Ich bin so wund, so kaputt, wehre mich im Halbschlaf dumpf weiter, er hat ganz kalte Lippen...

Gegen 5 Uhr, beim ersten Hahnenschrei, kam er mühsam hoch, krempelte sich das Hosenbein auf und hob den schmuddligen Mullverband von seiner gezackten Wunde. Ich, unwillkürlich davor zurückschreckend: »Kann man helfen?« Er schüttelt den Kopf, stiert mich eine Weile an - und spuckt dann unvermittelt vor mein Bett, spuckt Verachtung. Er ging. Ein Alpdruck wich. Ich schlief noch drei Stunden brunnentief.

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