Dienstag, 1. Mai 1945, nachmittags

So angstvoll haben wir heute den Tag begonnen, saßen ab acht Uhr fix und fertig da und harrten böser Dinge. Doch es begann wie immer. Plötzlich war die Küche voll von Manns-bildern, bekannten und unbekannten. Einer kam in weißem Kittel daher, stellte sich als Bäcker vor und versprach mir flüsternd Mehl und Brot, viel Mehl und Brot, wenn ich mit ihm - (er sprach es nicht aus, was sie meistens »lieben« oder gar »heiraten« oder schlicht »schlafen« nennen, machte bloß schräge Augen).

Rufe von der Straße her, die alle Kerls im Nu aus unserer Küche verschwinden ließen. Wenig später standen sie in zwei Reihen ausgerichtet unten unter dem Ahorn. Anatol spazierte vor ihnen auf und ab, jeder Zoll ein Oberleutnant, aber ein gemütlicher: Er hatte die Hände in den Taschen seiner Lederjacke vergraben und hielt eine Rede. Satzbrocken drangen zu mir herauf: »... Erster Mai... naher Sieg... lustig sein, doch den Ukas des Genossen Stalin im Sinn behalten...« etcetera. Er zwinkerte dabei seinen Leuten verschmitzt zu, und die Männer grinsten zurück. Andrej trat vor, stellte eine Frage und erhielt Antwort. Noch zwei, drei Männer hoben die Hand wie in der Schule, fragten etwas, sprachen freiweg. Ich sah nichts von Strammheit und Zackigkeit. Der Genosse Oberleutnant gibt sich als Genosse. Während der Zeremonie heulten drüben an der Schule die Kartjuschas weiter und zogen Feuerspuren über den schwefelgelben Himmel.

Mir war elend und wund, ich schlich wie eine lahme Ente. Die Witwe kramte ihren Arzneischrank vom Hängeboden herunter, wo sie ihn versteckt hat, und gab mir eine Blechdose mit einem Rest Vaseline.

Hab darüber nachdenken müssen, wie gut ich es bisher gehabt, daß mir in meinem Leben die Liebe niemals zur Last und immer zur Lust war. Bin nie gezwungen worden, hab mich niemals zwingen müssen. So wie es war, war es gut. Es ist nicht das Allzuviel, was mich jetzt so elend gemacht hat. Es ist der mißbrauchte, wider seinen Willen genommene Körper, der mit Schmerzen antwortet.

Ich muß an eine verheiratete Schulfreundin denken, die mir zu Anfang des Krieges einmal gestand, daß sie sich in einem gewissen Sinne nun, ohne Mann, da der ihre eingezogen war, körperlich wohler fühle als vorher in der Ehe, da ihr der Vollzug dieser Ehe stets schmerzhaft und unerfreulich gewesen, was sie ihrem Manne aber nach Kräften verheimlicht habe. Frigide nennt man sowas wohl. Ihr Körper war nicht bereit. Und frigide blieb ich bisher bei all diesen Beiwohnungen. Es kann, es darf nicht anders sein, ich will tot und gefühllos bleiben, solange ich Beute bin.

Über Mittag konnte ich zufällig zwei Menschenleben retten. Es fing damit an, daß ein Deutscher, ein mir unbekannter älterer Mann, an unsere Vordertür klopfte und nach mir rief, das heißt, »nach der Dame, die Russisch kann«.

Ich, treppab mit ihm, sehr zögernd, zugegeben, denn der Mann brabbelte was von Revolvern und Erschießen. Unten standen die beiden alten Postrats und, Erleichterung, etliche von Anatols Mannen, Unteroffiziere. (Ich unterscheide dank Anatols Elementar-Unterricht die Grade schon ziemlich genau.) Er stand bereits mit dem Gesicht zur Mauer, stumm, mit hängenden Schultern, den Kopf gesenkt, in Pantoffeln. Sie hatte den Kopf gedreht und plapperte über ihre Schulter weg immer die gleichen schnellen Sätze.

Was war los? Folgendes: Das Flüchtlingsmädel, das bei den Postratsleuten in Untermiete wohnte und noch am Samstag morgen zu uns von Schlußmachen und Nichtmehrkönnen gejammert hatte, ist im Treppenhaus mit einem Revolver in der Manteltasche erwischt worden. Sie hat das Schießding wohl noch aus ihrer Heimat mitgebracht, niemand weiß es. Sie riß sich los, raste treppauf und entkam ihren Verfolgern im Gewirr der Dachmansarden. Seither ist sie verschwunden. Nun hat man in den Zimmern der Postrats alles durcheinandergeworfen und fand, oh Schreck, schließlich ein Foto, auf dem das Mädel im Brustbild mit einem SS-Soldaten zu sehen ist. Das Bild haben sie hier unten, sie zeigen es mir, ich muß bestätigen, daß dies die Königsbergerin ist. Der SS-Mann ist wohl ihr Verlobter oder auch ihr Bruder; er hat den gleichen dicken Kopf wie sie.

Und nun wollen die Russen, nachdem sie die beiden Alten als Geiseln verhaftet haben, diese sofort erschießen, wenn sie nicht das Mädel herschaffen, wenn sie nicht sagen, wohin das Mädel geflüchtet ist.

Erst mal kann ich einen Irrtum aufklären. Die Russen haben die beiden Alten für des Mädchens Eltern gehalten. Sie sind noch an richtige Familien gewöhnt, diese Männer; sie kennen unser verwirrtes, vereinzeltes, durcheinandergewürfeltes Hau-sen nicht. Als sie hören, daß es sich um Fremde handelt, bei denen das Mädel bloß wohnte, ändern sie bereits ihren Ton. Die alte Frau, die während unseres Hin- und Herredens die Russen und mich genau in ihrem Angstblick hielt, bricht nun in eine Redepause ein und glaubt sich zu nützen, indem sie die Verschwundene beschimpft, sie schlecht macht: Man habe ihnen die Person einfach in die Wohnung gesetzt, sie habe ihnen nichts als Ärger und Unordnung gebracht, man habe sie dicksatt gehabt, wundere sich über gar nichts - und wenn sie wüßte, wo das Mädel sei, so würde sie's schon sagen, sie habe keinen Grund, das zu verschweigen. Und so weiter.

Bestimmt würde die Frau das Mädel preisgeben, wenn sie könnte. Immerfort wiederholt sie ihr angstbebendes Geschwa-fel, während der Mann stumpf und dumpf dasteht, das Gesicht zur Mauer gekehrt.

Ich rede und rede, erkläre den Russen, daß das Mädel mit seinem Revolver bestimmt keine Tötungsabsichten gegen die Russen hatte, daß es, wie ich selbst gehört hätte, Selbstmord plante und sich vermutlich längst irgendwo erschossen habe - vielleicht werde man bald ihre Leiche finden. (Das Wort für Selbstmord, ssamo-ubiestwo, steht auch nicht im deutsch-russischen Soldatenwörterbuch. Ich habe es aus Andrej herausgefragt.)

Allmählich lockerte sich die Stimmung. Ich konnte es wagen, die Postratsleute in komischer Form als vollendete Trottel hinzustellen, die von nichts eine Ahnung hätten. Schließlich hatte sich auch der Mann herumgedreht. Aus seinem offen-hängenden Mund seiberten Speichelfäden wie bei einem Säugling. Die Frau schwieg, ihre hellen, irren Altfrauenaugen flitzten zwischen mir und den Russen hin und her. Am Ende durften beide lebend abziehen.

Mir wurde noch aufgetragen, allen Zivilisten im Hause mitzuteilen, daß beim nächsten Waffenfund das ganze Gebäude vom Keller bis zum Söller heruntergebrannt würde, nach Kriegsrecht. Das Mädel aber, so schworen die Männer, würden sie finden und liquidieren.

Ganz verwandelt sind meine fröhlichen Wodkatrinker. Gar nicht wiederzuerkennen! Sie geben auch mir gegenüber kein Zeichen davon, daß sie mir über dem runden Tisch viele Male zugetrunken haben. Es ist kein Verlaß auf ihr Gejodel. Offenbar ist Dienst Dienst für sie und Schnaps Schnaps - zumindest für diese drei Burschen. Ich muß es mir merken, muß vorsichtig sein mit ihnen.

Ich war hinterher ganz zufrieden mit mir, aber auch ängstlich. Auf diese Art werde ich bekannt wie ein bunter Hund, und daran liegt mir nichts. Ich gebe es zu, daß ich Furcht habe und im Verborgenen bleiben möchte. Als ich ging, kam der Mann, der mich geholt hatte, hinterdrein, bat mich, einen Ausdruck zu übersetzen, den er oft von Russen gehört: »Gitler Durak.« Ich übersetze: »Hitler ist ein Schafskopf.« Das sagen sie uns immerzu triumphierend, als sei es ihre Entdeckung.

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