Donnerstag, 3. Mai, mit Rest von Mittwoch

Etwas Komisches: Während ich mit dem Polen zur Pumpe gegangen war, hatte sich Petka bei der Witwe eingefunden, mein Ex-Schänder mit dem Bürstenhaar, der Zertrümmerer unserer Nähmaschine. Offenbar war ihm aber diese trunkene Tat entfallen, denn er war, so sagt die Witwe, äußerst freundlich zu ihr. Er brachte einen schönen gelben Lederkoffer angewuchtet, so das richtige Petka-Format, ein anderer hätte ihn kaum hochgekriegt. Den Inhalt hat er vor der Witwe ausgebreitet und ihr bedeutet, sie brauche nur zu wählen, alles gehöre ihr. Dagegen »nix, nix, nix« für mich, verstanden! Na, das war natürlich bloß Gerede. Er hätte ja die Witwe niemals hindern können, nach seinem Weggang den Kram an mich weiterzuschenken. Wahrscheinlich hat er seine großartige Bescherung mir unterbreiten und damit den Versuch machen wollen, nochmals das, was er Liebe nennt, zu ergattern - mal eben schnell und zum Abschied, denn er hat zu der Witwe wirklich den Abschiedsgruß »Doswidanja« gesagt und ihr bedeutet, daß sein ganzer Haufen von dannen ziehe...

Mit ziemlicher Selbstüberwindung hat die Witwe das Geschenk zurückgewiesen, hat Petka mitsamt seinem Koffer wieder auf die Reise geschickt. Übrigens nicht aus moralischen Hemmungen! »Wie komm' ich dazu«, meint sie, die aus gutem deutschem Bürgerhause stammt. »Meinen Koffer hat man ja auch verschleppt.« Ihre Bedenken waren rein praktischer Art. »Ich kann die Sachen ja doch nicht anziehen«, so sagt sie. »Der Koffer stammt aus einem der Häuser hier herum; und wenn ich mich in Kleidern daraus zeige, muß ich riskieren, daß ich der wirklichen Besitzerin in die Finger laufe.« Bloß zwei Paar Schuhe hat sie sich herausgefischt, da konnte sie nicht widerstehen, es war genau ihre Schuhgröße. Es sind braune Straßenschuhe, Allerweltsmuster, außerdem, so sagt die Witwe, lassen sie sich leicht schwarz kremen und sind dann gut getarnt. Sie will mir ein Paar von den Schuhen überlassen, ich könnte sie auch gebrauchen, hab nur das Paar an meinen Füßen. Leider sind die Schuhe mir zu klein.

Den ganzen Nachmittag über war Ruhe; wir sahen keinen von unseren Bekannten mehr, weder Anatol noch Petka, Grischa, Wanja, Jascha oder den Schullehrer Andrej. Dafür erschien bei Anbruch der Dämmerung pünktlich der Major, mit seinem pummeligen usbekischen Schatten und mit noch jemand - gottlob nicht der düsterblonde Leutnant an seinem Stock. Nein, ein kleines, rotbäckiges Bürschlein in blauem Matrosenanzug, achtzehn Jahre alt, Sowjetmarine. Es scheint, daß sie Berlin auch vom Wasser her erobert haben. Seen haben wir ja genug. Das Matröslein sieht aus wie ein Schuljunge und lächelt treu- herzig über beide Backen, als er mich halblaut fragt, ob er mich um etwas bitten dürfe.

Bitte sehr! Und ich winke ihn zum Fenster hin, durch das noch immer Brandgeruch hereinweht. Der Matrose ersucht mich dann höflich, ganz kindlich, ich möchte doch so gut sein und ihm ein Mädchen besorgen - aber ein sauberes und ordentliches müßte es sein, ein gutes und liebes - er würde ihm auch zu essen bringen.

Ich starre den Knaben an, habe Mühe, nicht mit Gelächter herauszuplatzen. Das ist denn doch die Höhe. Jetzt fordern sie von ihren besiegten Lustobjekten bereits Sauberkeit und Bravheit und einen edlen Charakter! Fehlt bloß noch ein polizei-liches Führungszeugnis, ehe man sich für sie hinlegen darf! Aber der Kleine blickt so hoffnungsfroh drein, hat die so zarte Haut eines guten Mutterkindes, daß ich ihm nicht böse sein kann. Ich schüttle also mit dem nötigen Bedauern mein Haupt, sage ihm, daß ich erst seit kurzer Zeit in diesem Hause wohne, kaum Leute kenne und ihm leider nicht sagen kann, wo ein gutes, braves Mädchen für ihn zu finden sei. Er nimmt es betrübt zur Kenntnis. Mir zuckt es in den Fingern, ihm hinter die Ohrlöffel zu fahren und nachzufühlen, ob er dort schon trocken ist. Aber ich weiß, daß auch der scheinbar sanfteste Russe jäh zum wilden Tier werden kann, wenn man ihn oder sein Selbst-gefühl antastet. Bloß wissen möchte ich, warum ich mir immer-fort Kuppelpelze verdienen soll. Wahrscheinlich, weil ich hier herum die einzige bin, die ihre Wünsche sprachlich versteht.

Mein Matrose verzog sich wieder, nachdem er mir dankend seine Kinderpfote gereicht hatte. Warum bloß diese Knäblein so emsig hinter Weiblichem her sind? Daheim würden sie damit wohl noch warten, obwohl sie früher heiraten als unsere Männer. Wahrscheinlich wollen gerade diese Soldatenknaben, wie ja auch der sechzehnjährige Wanja, der Treppenschänder, sich unter ihren älteren Kameraden als vollgültige Männer aus-weisen.

Tja, mit dem wilden Drauflosschänden der ersten Tage ist es nichts mehr. Die Beute ist knapp geworden. Und auch andere Frauen sind, wie ich höre, inzwischen genau wie ich in festen Händen und Tabu. Über die beiden Sauf- und Jubelschwestern hat die Witwe inzwischen Genaueres vernommen; danach sind bei ihnen bloß Offiziere zugelassen, die es Nichtberechtigten oder gar Hundsgemeinen schwer verübeln, wenn sie Einbrüche in ihr Bettrevier machen. Allgemein versucht ein jeder, der nicht schon zum Abmarsch bereitsteht, etwas Festes, ihm Gehöriges zu finden, und ist bereit, dafür zu zahlen. Daß es bei uns mit dem Essen elend bestellt ist, haben sie begriffen. Und die Sprache von Brot und Speck und Heringen - ihren Hauptgaben - ist international verständlich.

Mir hat der Major alles mögliche mitgebracht, ich kann nicht klagen. Unter dem Mantel trug er einen Packen Kerzen. Dazu weitere Zigarren für Pauli. Der Usbek war schwer beladen, kramte nacheinander eine Büchse Milch, eine Büchse Fleisch und einen Kanten salzstarrenden Specks heraus; dann einen in Lappen gewickelten Butterkloß von mindestens drei Pfund, mit Wollhärchen verschmiert, die die Witwe gleich abklaubte, und, als wir dachten, es käme nichts mehr, noch einen Kissenbezug, in den viel Zucker gefüllt war, schätzungsweise fünf Pfund! Das sind fürstliche Morgengaben. Herr Pauli und die Witwe staunten.

Die Witwe lief, um die Gaben in ihrem Küchenschrank zu verstauen. Herr Pauli und der Major qualmten einander freund-schaftlich an, und ich saß dabei und grübelte. Dies ist eine neue Sachlage. Es läßt sich keinesfalls behaupten, daß der Major mich vergewaltigt. Ich glaube, daß ein einziges kaltes Wort von mir genügt, und er geht und kommt nicht mehr. Also bin ich ihm freiwillig zu Diensten. Tue ich es aus Sympathie, aus Liebebedürfnis? Da sei Gott vor. Einstweilen hängen mir sämtliche Mannsbilder mitsamt ihren männlichen Wünschen zum Hals heraus, kann mir überhaupt nicht vorstellen, daß ich mich noch einmal im Leben nach diesen Dingen sehnen könnte. Tue ich es für Speck, Butter, Zucker, Kerzen, Büchsen-fleisch? Ein wenig bestimmt. Es hat mich bedrückt, an den Vorräten der Witwe mitzehren zu müssen. Ich freue mich, daß ich ihr nun, durch die Hände des Majors, auch etwas geben kann. Ich fühle mich freier so, esse mit besserem Gewissen. Andererseits mag ich den Major, mag ihn um so mehr als Menschen, je weniger er als Mann von mir will. Und viel wird er nicht wollen, das spüre ich. Sein Gesicht ist bleich. Die Kniewunde macht ihm zu schaffen. Wahrscheinlich sucht er menschliche, weibliche Ansprache mehr als das bloß Sexuelle. Und die gebe ich ihm gutwillig, ja gern. Denn unter den Mannsviechern der letzten Tage ist er doch der erträglichste Mann und Mensch. Ihn kann ich überdies lenken. Das würde ich mir bei Anatol nicht so ohne weiteres zutrauen, obwohl Anatol mir gegenüber die Gutmütigkeit selber war. Aber so gierig, so Bulle, so stark! Unwillkürlich würde er mir doch eine kleine Ohrfeige hauen, bei der ich ans Zähnespucken käme - einfach so, aus Überschuß an Kraft, aus Bärenhaftigkeit. Mit dem Major hingegen läßt sich reden. Womit ich die Frage aber noch nicht beantwortet habe, ob ich mich nun als Dirne be-zeichnen muß, da ich ja praktisch von meinem Körper lebe und für seine Preisgabe Lebensmittel beziehe.

Wobei ich, während ich dies schreibe, erst einmal überlegen muß, warum ich mich so moralisch gehabe und so tue, als sei der Dirnenberuf tief unter meiner Würde. Es ist immerhin ein altes, ehrwürdiges Gewerbe und reicht hinauf bis in die höchsten Kreise. Ein einziges Mal allerdings nur hab ich mit einer solchen Frau gesprochen; das heißt mit einer eingetragenen, offiziell diesem Beruf nachgehenden Frau. Es war auf einem Schiff im Mittelmeer, irgendwo nahe der afrikanischen Küste; ich war sehr früh aufgestanden und trieb mich an Deck herum, während noch Matrosen die Planken schrubbten. Eine Frau war auch schon auf, mir unbekannt, dicklich, bescheiden angetan, zigarettenrauchend. Ich stellte mich zu ihr an die Reling, sprach sie an. Sie konnte ein paar Brocken Englisch, nannte mich MISS, bot mir eine Zigarette aus ihrer Schachtel und lächelte dazu. Später fing mich der Obersteward ab und teilte mir in dramatischem Flüsterton mit, das da sei eine schlechte Person; man müsse sie mitnehmen, lasse sie aber nur in der Frühe, wenn gewöhnlich noch keiner von den Passagieren auf sei, an Deck. Ich sah sie später nicht mehr, sehe aber noch ihr dickliches, freundliches Frauengesicht vor mir. Was das schon heißt - schlecht!

Aber könnte ich, vom Moralischen mal ganz abgesehen, in dieses Gewerbe hineinrutschen, mir darin gefallen? Nein, niemals. Es geht mir wider die Natur, kränkt mein Selbstgefühl, zerstört meinen Stolz - und macht mich körperlich elend. Da also hat es keine Not. Ich steige aus diesem Gewerbe, wenn ich mein derzeitiges Tun schon so nennen muß, mit tausend Freuden aus - wenn ich nur mein Essen wieder auf andere, angenehmere, meinem Stolz besser zusagende Weise verdienen kann.

Gegen 22 Uhr verstaute der Major seinen Usbeken hinter der Küche in die Kammer. Wieder klirrt ein Koppel am Bettpfosten, baumelt der Revolver herab, krönt die Soldatenmütze den Pfostenknauf. Aber die Kerze brennt noch, und wir erzählen uns allerlei. Das heißt, der Major erzählt, er berichtet mir von seinen Familienverhältnissen und kramt aus seiner Brieftasche kleine Photobildchen heraus. Zum Beispiel ein Bild von seiner Mutter, die zu weißem Haar wilde, schrägschwarze Augen hat. Sie stammt aus dem Süden des Landes, wo von jeher die Tataren saßen, und hat einen weißblonden Sibirier geheiratet. Äußerlich hat der Major viel von seiner Mutter. Sein Wesen wird mir nun aus dieser nordsüdlichen Blutmischung verständlich: seine Sprunghaftigkeit, der Wechsel von Hast und Schwere, von Feuer und Melancholie, seine lyrischen Aufschwünge und die plötzliche Mißlaune hinterher. Er war verheiratet, ist seit langem geschieden, war offenbar ein schwieriger Partner, wie er selber gesteht. Kinder hat er keine. Das ist etwas sehr Seltenes bei einem Russen. Ich merkte es daran, daß sie immer gleich fragten, ob ich Kinder hätte, und mir gegenüber kopfschüttelnd ihre Verwunderung darüber kundtaten, daß es bei uns so wenig Kinder gibt und so viele Frauen ohne Kind. Auch der Witwe wollen sie gar nicht glauben, daß sie keine Kinder hat.

Noch ein Photo zeigt mir der Major, das Porträt eines sehr gut aussehenden, streng gescheitelten Mädchens, Tochter eines polnischen Universitätsprofessors, bei dem der Major im letzten Winter in Quartier lag.

Als der Major meine familiären Verhältnisse anbohrt, weiche ich aus, mag davon nicht sprechen. Er will dann wissen, welche Schulbildung ich genossen habe, vernimmt achtungsvoll, was ich ihm vom Gymnasium und den gelernten Fremdsprachen und meinen Reisen kreuz und quer durch Europa berichte. Er sagt anerkennend: »Du hast eine gute Qualifikation.« Wundert sich dann unvermittelt, daß die deutschen Mädchen alle so schlank und fettlos seien - ob wir so wenig zu essen bekommen hätten? Er malt sich dann aus, wie es wäre, wenn er mich mitnähme nach Rußland, wenn ich seine Frau wäre, seine Eltern kennenlernte... Er verspricht, mich dort mit Hühnchen und Sahne dickzufüttern, denn vor dem Krieg habe man bei ihm daheim recht gut gelebt... Ich lasse ihn spinnen. Fest steht, daß meine »Bildung« - die er freilich nach bescheidenem Russenmaßstab mißt - ihm Achtung einflößt, mich in seinen Augen begehrenswert macht. Gewiß ein Unterschied zu unseren deutschen Männern, für die nach meinen Erfahrungen Belesenheit keineswegs den Reiz einer Frau erhöht. Im Gegenteil, instinktiv hab ich mich stets ein bißchen dümmer und unwissender gestellt den Männern gegenüber oder hab doch hinterm Berge gehalten, bis ich sie näher kannte. Der deutsche Mann möchte stets der Klügere sein und sein kleines Frauchen belehren. Die Sowjetmänner wissen nichts von kleinen Frauchen fürs traute Heim. Bildung steht dort so hoch im Kurs, ist ein so rares, so gesuchtes, dringend benötigtes Gut, daß man sie von Staats wegen mit strahlendem Nimbus umgibt. Hinzu kommt, daß Wissen sich dort bezahlt macht, was auch der Major sagen will, als er mir nun darlegt, daß ich in seiner Heimat bestimmt »qualifizierte Arbeit« finden würde. Schönen Dank, du meinst es gut, aber damit bin ich ein für allemal bedient. Bei euch gibt es zu viel Abendkurse. Ich mag keine Abendkurse mehr. Ich mag Abende für mich.

Er sang wieder, leise, melodisch, ich höre es gern. Er ist redlich, reinlichen Wesens, aufgeschlossen. Aber fern und fremd und so unausgebacken. Wie sind wir Westler alt und überklug - und sind jetzt doch Schmutz unter ihren Stiefeln.

Ich weiß von der Nacht nur, daß ich tief und fest geschlafen und sogar freundlich geträumt habe; und daß ich am Morgen mit unendlichen Umschreibungen, wie »Kino im Kopf«, »Bilder vor geschlossenen Augen«, »nicht richtige Sachen im Schlaf« das russische Wort für »Traum« aus dem Major herausfragte. Auch so eine Vokabel, die im Soldatenwörterbuch fehlt.

Als der Major gegen sechs Uhr früh zur Kammer ging, um den Usbeken herauszuklopfen, blieb drinnen alles still. Er holte mich heran, ängstlich und aufgeregt, in der Meinung, daß dem Asiaten etwas zugestoßen sein müsse - vielleicht eine Ohnmacht oder gar Überfall und Mord? Gemeinsam rüttelten wir an der Klinke, pochten gegen das Holz der Tür. Nichts, kein Laut: doch sah man, daß innen der Schlüssel steckte. So fest schläft kein Mensch, nicht mal ein Asiat. Ich jagte nach vorn, schüttelte die Witwe wach, flüsterte ihr unsere Besorgnisse ins Ohr.

»Ach was«, gähnte die Witwe. »Der will bloß allein hierbleiben und nachher sein Glück bei dir versuchen.«

Wohl zitiert Herr Pauli des öfteren die »weibliche Verschla-genheit« der Witwe. In diesem Falle aber glaube ich ihr nicht und lache sie aus.

Schließlich entschwindet der Major, nachdem er mehrfach auf seine Armbanduhr geschaut hat. (Eine russische Uhr, er hat es mir gleich zu Beginn unserer Bekanntschaft anhand des Herstellungszeichens bewiesen.)

Kaum ist er weg - wer erscheint im Korridor, ausgeschlafen und straßenfein? Der Herr Usbeke!

Er tappt auf mich zu, sieht mich mit seinen verquollenen, nun eigentümlich trüben Äuglein an, zieht aus der Manteltasche ein Paar Seidenstrümpfe, noch in der Papierschlaufe, und sagt, indem er mir die Dinger hinhält, auf gebrochen Russisch: »Willst du? Ich geb sie dir. Verstehst du mich?«

Klar verstehe ich, mein dicker Liebling! Weit reiße ich die Vordertür auf und zeige ihm, wo der Weg langgeht. »Ab dafür«, sage ich auf deutsch. Er versteht und zottelt von dannen, sieht mich nochmals mit vorwurfsvollen Quetschaugen an und stopft die Strümpfe wieder in seine Tasche.

Eins zu null für die »weibliche Verschlagenheit«!

Загрузка...