Sonntag, 22. April 1945, 1 Uhr nachts

Ich lag oben auf dem Bett, es wehte durch die zerbrochenen Scheiben, ich döste so vor mich hin, an den Füßen einen Ziegelstein, in Stunden auf winzigen Gasflämmchen heiß ge-macht. Gegen 20 Uhr klopfte Frau Lehmann: »Kommen Sie herunter, es gibt jetzt keinen Alarm mehr und keine Sirenen. Die anderen sind schon alle unten.«

Halsbrecherischer Treppenabstieg. Ich blieb einmal mit dem Absatz an einer Stufenkante hängen. Todesschreck, konnte mich eben noch am Geländer fangen. Weiter, mit weichen Knien. Ich suchte und tastete lange und herzklopfend in dem stockfinsteren Gang herum, bis ich die Hebel der Kellertür fand.

Drinnen ein neues Bild. Wer eben kam, hat sich ein Bett auf-geschlagen. Überall Kissen, Deckbetten, Liegestühle. Mühsam würge ich mich zu meinem Sitzplatz durch. Das Radio ist tot, es gibt keine Funkzeichen vom Flughafen mehr. Matt blinzelt die Petroleumlampe. Etliche Bomben fallen, dann ist Ruhe. Siegismund erscheint, hält immer noch die Fahne hoch. Gardinenschmidt murmelt was von Bernau und Zossen, wo nun die Russen stehen sollen: Siegismund verkündet dagegen die nahe Wende. Wir hocken, die Stunden schleichen dahin, Artillerie bollert, mal ferner, mal nah. »Gehen Sie nicht mehr in Ihren vierten Stock«, ermahnt mich die Apothekerswitwe. Und sie bietet mir ein Nachtlager in ihrer Wohnung in der ersten Etage an. Wir klimmen aufwärts auf der hinteren Wendeltreppe. (Früher mal »Aufgang für Dienstboten und Lieferanten«.) Die Treppe ist eine enge Spindel. Es knirscht von Glassplittern unter meinen Füßen, es pfeift durch die offenen Luken. Eine Couch nimmt mich auf, vorn in der Kammer gleich neben der Küche, gönnt mir zwei Stunden Schlaf unter einer fremd riechenden Wolldecke. Bis gegen Mitternacht Bomben nahebei fielen und wir wieder kellerwärts flüchteten. Elend lange Nacht-stunden, bin zu müde, um jetzt hier unten weiterzuschreiben...

Am nächsten Morgen gegen 10 Uhr in der Dachwohnung. Bis gegen 4 Uhr hatten wir im Keller ausgeharrt. Allein klomm ich aufwärts unters Dach, wärmte mir eine Rübensuppe auf dem müden Gas, schälte Kartoffeln, kochte mein letztes Ei, d.h., ich aß es fast flüssig, und sprengte mir dann den letzten Rest Kölnisch Wasser auf den Leib. Komisch, wie viele Dinge man jetzt zum letztenmal tut, das heißt zum letztenmal bis auf weiteres, auf unbegrenzte, sicherlich lange Zeit. Woher sollte mir ein neues Ei kommen? Woher Parfüm? Also führe ich mir diese Genüsse sehr bewußt, sehr andächtig zu Gemüte. Nachher kroch ich angezogen ins Bett, schlief auf Stottern bei unruhigen Träumen. Nun muß ich los, einkaufen...

Wieder unterm Dach, 14 Uhr. Draußen Regengepladder, und keine Zeitung mehr. Trotzdem drängte sich das Volk pünktlich zu den aufgerufenen Zuteilungen, zu denen irgendwelche Zettel oder Extrablätter aufgefordert haben sollen. Wir haben jetzt eine Art Mundpost. Alles spricht sich herum.

Wir bekommen Vorschüsse, wie es offiziell heißt, und zwar auf Fleisch, Wurst, Nährmittel, Zucker, Konserven und Kaffee-Ersatz. Ich faßte an einem Schlangenschwanz Posten, stand zwei Stunden im Regen und bekam schließlich 250 Gramm Grütze, 250 Gramm Haferflocken, 2 Pfund Zucker, 100 Gramm Kaffee-Ersatz und eine Büchse Kohlrabi. Noch fehlen Fleisch und Wurst und Bohnenkaffee. Beim Fleischer am Eckhaus Gewimmel, nach beiden Seiten endlose Schlange in Vierer-reihen, unter Güssen von Regen. Nee! In meiner Schlange knisterte es von Parolen: Köpenick sei bereits von den Unsrigen aufgegeben, Wünsdorf besetzt, die Russen stünden am Teltowkanal. »Davon« sprach übrigens wie auf Verabre-dung plötzlich keine einzige Frau mehr.

Ich fühle mich nach solchen Schlangengesprächen, bei denen man unwillkürlich in Form und Inhalt seiner Rede hinabsteigt und sich in Massengefühlen badet, immer klebrig und zuwider. Und doch will ich keine Zäune dagegen setzen, will mich dem Massenmenschlichen hingeben, will es miterleben, will dran teilhaben. Zwiespalt zwischen der hochmütigen Vereinzelung, in der mein Privatleben für gewöhnlich abläuft, und dem Trieb, wie die anderen zu sein, zum Volk zu gehören, Geschichte zu erleiden.

Was kann ich sonst tun? Ich muß es abwarten. Flak und Artillerie setzen die Akzente über unseren Tag. Manchmal wünsche ich, es wäre schon alles vorbei. Sonderbare Zeit. Man erlebt Geschichte aus erster Hand, Dinge, von denen später zu singen und zu sagen sein wird. Doch in der Nähe lösen sie sich in Bürden und Ängste auf. Geschichte ist sehr lästig.

Morgen will ich Brennesseln suchen und Kohle heran-schaffen. Vom Hunger trennen uns die neuen kleinen Vorräte. Mir machen sie Sorgen wie dem Reichen sein Geld. Sie könnten verbombt, gestohlen, von Mäusen gefressen, vom Feind geraubt werden. Schließlich verstaute ich den ganzen Krempel in einem weiteren Kellerkarton. Trotzdem kann ich meinen gesamten irdischen Besitz noch bequem treppab und treppauf tragen.

Spätabends, bei Dämmerschein. Ich habe wieder einen Besuch bei Frau Golz gemacht. Ihr Mann saß bei ihr, in Mantel und Schal, da es kalt und stürmisch im Zimmer war. Beide stumm und bedrückt. Sie begreifen die Welt nicht mehr. Wir sprachen kaum. Draußen die ganze Zeit blechernes Geknatter. Zwischendurch Prallschläge der Flak, als würden zwischen Himmel und Erde gigantische Teppiche geklopft.

Das Echo der Abschüsse fängt sich in den Höfen. Zum ersten Mal erfaßte ich das Wort »Kanonendonner«, das bisher so auf der Linie von »Löwenmut« und »Heldenbrust« für mich lag. Die Vokabel ist aber wirklich gut.

Draußen Regenschauer und Stürme. In der Haustür sah ich vorüberziehenden Soldatenhaufen nach. Matt schleppten sie die Füße. Manche hinkten. Stumm, jeder für sich, so trotteten sie ohne Tritt dahin, stadtwärts. Die Gesichter stoppelig und eingefallen, auf dem Rücken schweres Gepäck.

»Was ist los?« rufe ich hinüber. »Wo geht's hin?«

Keiner antwortet. Einer murrt Unverständliches. Einer spricht deutlich vor sich hin: »Führer befiehl - wir folgen dir in den Tod.«

All diese Gestalten sind so armselig, so gar keine Männer mehr. Man kann sie nur bemitleiden. Man erhofft oder erwartet auch gar nichts mehr von ihnen. Schon jetzt wirken sie geschlagen und gefangen. An uns, die wir am Bordstein stehen, schauen sie stumpf und blicklos vorbei. Offenbar sind wir, wir Volk oder Zivilisten oder Berliner oder was wir sind, ihnen gleichgültig, ja lästig. Daß sie sich ihrer äußeren Herabgekommenheit schämen, glaub ich nicht. Die sind zu stumpf und müde dazu. Abgekämpft. Ich mag gar nicht mehr hinsehen.

An den Mauern schmierig zerlaufene Kalkbuchstaben, die anscheinend die Truppen zu irgendwelchen Sammelplätzen leiten sollen. Am Ahornbaum gegenüber hängen, mit Heft-zwecken festgepinnt, zwei Anschläge. Kartonstücke, mit Rotstift und Blaustift säuberlich handbeschrieben und mit den Worten »Hitler« und »Goebbels« untermalt. Das eine Schild warnt vor Kapitulation und droht mit Erhängen und Erschießen. Das andere, »Forderungen an die Berliner« betitelt, warnt vor aufsässigen Ausländern und fordert alle Männer auf, zu kämpfen. Die Zettel fallen überhaupt nicht auf. Das Handgekritzel wirkt so kläglich und unernst, so geflüstert.

Ja, die Technik hat uns verwöhnt. Daß wir nicht von der Rotationsmaschine oder über die Lautsprecher bedient werden, erscheint uns armselig. Von Hand geschrieben oder aus einem Mund dünn hinausgekreischt - was kann das schon sein? Unsere Technik hat die Wirkung von Rede und Schrift selbst entwertet. Einzelgekreisch, handgemalte Zettel, 90 Thesen an einer Kirchentür in Wittenberg, mit dergleichen wurden früher Volksaufstände entfesselt. Für uns heute muß es dicker kommen, weitere Kreise ziehen, muß über Apparate multipliziert und potenziert werden, damit es wirkt. Eine Frau, an den Zetteln herumstudierend, faßt das in einem Satz zusammen: »Da sieht man, wie die Brüder auf'n Hund jekommen sind.«

Im Keller, 22 Uhr. Nach der Abendsuppe gönnte ich mir oben etwas Bettruhe, trabte dann abwärts. Schon war die Kellergemeinde vollzählig versammelt. Heute wenig Beschuß und, obwohl die Zeit dafür heran ist, bisher kein Luftangriff. Eine nervöse Heiterkeit bricht aus. Allerlei Geschichten kursieren. Frau W. ruft: »Lieber ein Russki aufm Bauch als ein Ami aufm Kopf.« Ein Witz, der schlecht zu ihrem Trauerkrepp paßt. Fräulein Behn kräht durch den Keller: »Nu woll'n wir doch mal ehrlich sein - Jungfern sind wir wohl alle nicht mehr.« Sie bekommt keine Antwort. Ich überlege, wer doch. Wahrschein-lich die jüngere Portierstochter, die erst sechzehn ist und seit dem Fehltritt ihrer älteren Schwester stark bewacht wurde. Und bestimmt, wenn ich mich auf Gesichter junger Mädchen verstehe, das achtzehnjährige S-tinchen, das drüben friedlich schlummert. Zweifelhaft erscheint mir die Sache bei dem jungen Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht. Aber das ist wohl ein Sonderfall.

Eine Frau ist heute neu im Hauskeller, bisher ging sie stets die sechs Ecken weit zum öffentlichen Bunker, der für sicher gilt. Sie lebt allein in ihrer Wohnung, ob verwitwet, verlassen oder geschieden, weiß ich noch nicht. Über ihre linke Wange hinweg zieht sich ein eitriges Ekzem. Sie berichtet, erst flüsternd, dann laut, daß sie sich ihren Ehering am Gummi ihres Schlüpfers festgezurrt hat. »Wenn die erst da dran sind, ist mir auch der Ring egal.« Allgemeines Gelächter. Immerhin dürften eitrige Ekzeme im Gesicht vor solchen Erlebnissen schützen. Auch was wert heute.

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