Samstag, 21. April 1945, 2 Uhr nachts

Bomben, die Mauern schwankten. Meine Finger zittern noch am Füller. Ich bin naß wie nach schwerer Arbeit. Früher aß ich im Keller dicke Butterbrote. Seit ich ausgebombt bin und in der gleichen Nacht beim Bergen Verschütteter half, laboriere ich an meiner Todesangst. Es sind immer die gleichen Symptome. Zuerst Schweiß ums Haar, Bohren im Rückenmark, im Hals sticht es, der Gaumen dörrt aus, und das Herz klopft Synkopen. Die Augen stieren auf das Stuhlbein gegenüber und prägen sich seine gedrechselten Wulste und Knorpel ein. Jetzt beten können. Das Hirn krallt sich an Formeln, Satzfetzen: »Geh an der Welt vorüber, es ist nichts... Und keines fällt aus dieser Welt... Noli timere...« Bis die Welle sich verzieht.

Wie auf Kommando brach fiebriges Schwatzen los. Alle lachten, überschrien einander, rissen Witze. Fräulein Behn trat mit dem Zeitungsblatt vor und las die Goebbelsrede zum Geburtstag des Führers (ein Datum, an das die meisten überhaupt nicht mehr gedacht hatten). Sie las mit ganz besonderer Betonung, mit einer neuen, spöttischen und bösen Stimme, die man hier unten noch nicht vernommen hat. »Goldenes Korn auf den Feldern... Menschen, die in Frieden leben...« Denkste, sagt der Berliner. Und »Schön wär's ja.« Schalmeientöne, die kein Ohr mehr finden.

Drei Uhr nachts, der Keller duselt so dahin. Mehrfach kam Vorentwarnung, doch gleich hinterher wieder neuer Alarm. Keine Bomben. Ich schreibe, es tut gut, lenkt mich ab. Und Gerd soll es lesen, falls er wiederkommt - falls er überhaupt noch - Nein, ausgestrichen, man darf es nicht heraufbeschwören.

Das junge Mädchen, das wie ein junger Mann aussieht, hat sich an mich herangepirscht und gefragt, was ich schreibe. Ich: »Es hat keinen Wert. Bloß privates Gekritzel, damit ich was zu tun habe.« Nach der ersten Welle kreuzte »Siegismund« auf, alter Herr aus der Nachbarschaft, den sie aus seinem eigenen Keller hinausgegrault haben, vermutlich, weil er immerzu vom Siege spricht, woraus auch sein Spitzname bei uns resultiert. Siegis-mund glaubt wirklich, daß die Rettung nahe und unser Sieg gewiß sei und daß »Jenner« (unsere neueste Bezeichnung für A. H.) genau wisse, was er tue. Während Siegismund also spricht, blicken sich die Stuhlnachbarn stumm und vielsagend an. Auf einen Disput mit ihm läßt sich keiner ein. Wer diskutiert schon mit Verrückten? Außerdem sind Verrückte manchmal gefährlich. Nur die Portiersfrau stimmt heftig zu und verkündet durch ihre beiden Zahnhauer hindurch, daß auf »Jenner« sowie auf den alten Herrgott Verlaß sei.

Neun Uhr früh, in der Dachwohnung. (Alle meine Zeitangaben sind über den Daumen gepeilt; soweit kein Blick auf Uhren möglich, lebe ich zeitlos.) Grauer Morgen, der Regen pladdert. Ich schreibe auf der Fensterbank, die mein Stehpult ist. Kurz nach drei kam die Entwarnung. Ich zog Kleid und Schuhe aus und fiel ins Bett, das ständig aufgeschlagen ist. Fünf Stunden Tiefschlaf. Das Gas streikt.

Hab soeben mein Bargeld gezählt, 452 Mark, weiß nicht, was ich mit so viel soll, da die wenigen Einkäufe, die uns noch möglich sind, mit Pfennigen bestritten werden können. Dazu mein Konto auf der Bank, auf dem schätzungsweise tausend mangels Waren nicht ausgegebener Mark stehen. (Als ich im ersten Kriegsjahr das Konto anlegte, gedachte ich noch für den Frieden und für eine Reise um die Welt zu sparen. Lang, lang ist das her.) Manche Leute rennen dieser Tage zu den Banken, soweit sie noch in Betrieb sind, und heben das Ihre ab. Wozu eigentlich? Wenn wir absausen, ist auch die Mark im Eimer. Geld, d.h. Papiergeld, ist ja nur eine Fiktion und stellt keinen Wert mehr dar, wenn die Zentrale ausfällt. Ich blättere ohne jedes Gefühl in dem Geldbündel. Mir ist, als könnte das Zeug allenfalls noch als Andenken gelten. Als Bildchen aus versunkenen Zeiten. Ich nehme an, daß die Sieger ihr eigenes Geld mitbringen und uns damit ausstaffieren werden. Oder daß irgendein Militärgeld gedruckt wird - falls man uns überhaupt wieder so weit kommen läßt und uns nicht zur Arbeit für einen Schlag Suppe verdammt.

Mittags. Unendlicher Regen. Bin zu Fuß in die Parkstraße marschiert und habe mir zu meinen »Papierbildchen« noch einen Packen hinzugeholt. Der Prokurist zahlte mir den letzten Monatslohn und erteilte mir »Urlaub«. Der ganze Verlag hat sich in Luft aufgelöst. Und das Arbeitsamt hat ausgepustet, niemand macht dort mehr Jagd auf frei werdende Arbeitskräfte; insofern sind wir jetzt alle unsere eigenen Herrn.

Die Bürokratie erscheint mir als eine Schönwettersache. Jedenfalls lösen sich alle Ämter auf, sobald es Granatsplitter regnet. (Übrigens jetzt sehr ruhig. Beängstigende Stille.) Wir werden nicht mehr regiert. Und doch stellt sich von selbst immer wieder eine Art von Ordnung her, überall, in jedem Keller. Ich habe bei meiner Ausbombung erlebt, wie selbst die Verschütteten, die Verletzten, die Verstörten in guter Ordnung vom Schauplatz verschwanden. Auch hier im Hauskeller haben die ordnenden, anordnenden Geister Autorität. Es muß im Menschen drinstecken. Schon zur Steinzeit muß die Menschheit so funktioniert haben. Herdentiere, Instinkt der Arterhaltung. Bei den Tieren sollen es ja immer die männlichen sein, die Leitbullen und die Leithengste. In diesem Keller kann man eher von Leitstuten reden. Fräulein Behn ist so eine; auch die sehr ruhige Hamburgerin. Ich bin keine, war es auch in meinem alten Keller nicht, wo allerdings ein mächtig herumbrüllender Leitbulle das Feld beherrschte, ein Major a.D., der nicht Mann noch Weib neben sich aufkommen ließ. Mir war das erzwungene Beisammenhocken im Keller stets zuwider, hab mich immer abgesondert, mir einen Schlafwinkel gesucht. Aber wenn das Leittier ruft, folge ich willig.

Unterwegs bin ich neben der Straßenbahn hergelaufen. Einsteigen durfte ich nicht, da ich keinen Ausweis III habe. Dabei fuhr die Bahn fast leer, ich zählte acht Menschen im Wagen. Und Hunderte liefen im strömenden Regen nebenher, obwohl die Bahn, die ja doch fahren muß, sie gut und gern hätte mitnehmen können. Aber nein - siehe Ordnungsprinzip. Es steckt tief in uns drin, wir parieren.

Hab im Bäckerladen Brötchen gekauft. Noch sind die Borde scheinbar voll, man sieht keine Kaufangst. Ging hinterher zur Kartenstelle. Heute war mein Buchstabe für die Abstempelung der Kartoffelabschnitte 75 bis 77 dran. Es ging überraschend schnell, obwohl statt der sonst so vielen nur noch zwei Kartendamen Dienst taten. Sie schauten gar nicht hin, stempelten die Abschnitte mechanisch wie Maschinen. Wozu eigentlich diese Stempelei? Keiner weiß es, doch alle gehen hin, nehmen an, daß es schon irgendeinen Sinn hat. Laut Aushang sollen am 28. April die Buchstaben X bis Z den Schluß machen.

Durch den Regen zockelten Karren in Richtung der Stadt, mit pitschnassen Planen verhängt, darunter Soldaten. Ich sah zum ersten Mal dreckige, graubärtige Typen, die richtigen Frontschweine, alle alt. Vor den Karren Panjepferdchen, dunkel vor Nässe. Die Ladung der Karren: Heu. Sieht nicht mehr nach motorisiertem Blitzkrieg aus.

Auf dem Heimweg drang ich in Professor K.s verlassenen Garten ein, hinter der schwarzen Hausruine, pflückte Krokus und brach Flieder. Trug einen Teil davon zur Frau Golz, einer Mitbewohnerin aus meinem früheren Wohnhaus. Wir saßen einander am Kupfertisch gegenüber und plauderten. Das heißt, wir brüllten gegen die frisch einsetzende Schießerei an. Frau Golz, mit gebrochener Stimme: »Die Blumen, die wunder-schönen Blumen...« Dabei liefen ihr die Tränen übers Gesicht. Auch mir war scheußlich zumute. Schönheit tut jetzt weh. Man steckt so voll Tod.

Hab mir heute früh überlegt, wieviel Tote ich schon gesehen habe. Der erste war Herr Schermann. Ich war damals fünf, er siebzig, silberweiß auf weißer Seide, Kerzen zu Häupten, bedeutsam und erhöht. Also war der Tod feierlich und schön. Bis ich 1928 von Hilde und Kate P. ihren tags zuvor verstorbenen Bruder Hans gezeigt bekam. Wie ein Lappen-bündel lag er auf dem Sofa, das Kinn mit einem blauen Tuch hochgebunden, die Knie krumm - ein Dreck, ein Garnichts. Später tote Verwandte, blaue Fingernägel zwischen Blumen und Rosenkränzen. Dann in Paris der Überfahrene im Blutbrei. Und der Erfrorene an der Moskwa...

Tote, ja, aber das Sterben selbst sah ich noch nie. Dies Erleben wird mir nun wohl bald zuteil werden. Daß es mich selber erwischen könnte, glaub ich nicht. Bin schon so oft dem Tod von der Schippe gerutscht und fühle mich aufgespart. Es wird dies ein Gefühl sein, das in den meisten Menschen lebt. Wie könnten sie sonst inmitten von so viel Tod so aufgekratzt sein? Fest steht, daß die Bedrohung des Lebens die Lebens-kräfte steigert. Ich brenne heftiger und mit größerer Flamme als vor dem Bombenkrieg. Jeder neue Lebenstag ist ein Triumphtag. Man hat es wieder mal überlebt. Man trotzt. Man richtet sich gleichsam höher auf und steht fester auf der Erde. Damals, als wir das erste Mal von Bomben durchgeblasen waren, hab ich mir an die Zimmerwand mit Bleistift ein Stück Latein angeschrieben, das ich noch zusammenbrachte:

Si fractus illabatur orbis,

Impavidum ferient rumae.

Damals konnte man noch ins Ausland schreiben. Ich hab in einem Brief an meine Freunde D. in Stockholm kraftprotzend und wohl auch, um mich selber zu stärken, den obigen Vers zitiert und von der Intensität unseres bedrohten Daseins geschrieben. Ich hatte dabei ein leicht itleidiges Gefühl, als ob ich, nun erwachsen und an den Kern des Lebens zugelassen, mit unschuldigen Kindlein spräche, die es zu schonen galt.

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