Mittwoch, 23. Mai 1945

Mit Eimer und Müllschippe ausgerüstet, marschierte ich in grauer Regenfrühe zum Rathaus. Schon unterwegs goß es wie aus Kübeln. Ich spürte ordentlich, wie mein Strickkleid Wasser zog. Es regnete immerzu, mal feiner, mal stärker. Trotzdem schippten wir und füllten Eimer auf Eimer mit Dreck, damit die Händekette nicht abriß. Wir waren an die hundert Frauen aller Sorten. Die einen zeigten sich träge und lustlos und rührten sich nur, wenn einer unserer beiden deutschen Aufseher hinsah. (Immer kriegen die Männer die Aufseherposten.) Andere Frauen schufteten mit Hausfraueneifer, ja verbissen. »Getan muß die Arbeit doch werden«, sagte eine tief überzeugt. Zu viert schoben wir die vollen Loren an den Graben heran. Ich lernte eine Drehscheibe bedienen. Bis wilde Regengüsse uns zu einer Pause zwangen.

Dicht gedrängt wie die Tiere standen wir unter einem Balkon. Die nassen Sachen klebten uns am Leib; die Frauen schauderten und zitterten. Wir nutzten die Gelegenheit und aßen unser nasses Brot ohne was drauf. Eine Frau murmelte: »Bei Adolf ha' ick sowat nich jejessen.«

Von allen Seiten kam Widerspruch: »Sie, det schreiben Se man ooch noch Ihrem Adolf uff Rechnung.«

Darauf die Frau, ganz betreten: »So ha' ick det ja nich jemeint.«

Über eine Stunde standen wir so. Der Regen prasselte um uns hernieder. Als er sachter rieselte, holte unser Aufseher, ein wienerisch sprechender junger Mann mit tschechischem Namen, uns wieder an die Loren zurück. Die Lore, die ich bediente, trug die Aufschrift »Die lachende Lore«. Eine andere Lore war mit Kreide als »Die weinende Lore« gekennzeichnet. Doch hatte eine Hand das Wort »weinende« ausgestrichen und »schmunzelnde« darüber geschrieben.

Gegen 15 Uhr wurden wir endlich von unserem Wiener auf der Liste abgehakt und durften heimgehen. Übermütig schwenkte ich unterwegs meinen Dreckeimer, nach dem Motto: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«

Daheim fand ich die Witwe in großer Unruhe vor. Wie sie gestand, hatte sie in den letzten Tagen »ein Jucken und Brennen« verspürt und war deswegen übers Lexikon gegangen. Stichworte »Tripper« und »Syphilis«. Zwar hat sie als Apothekersfrau ganz gute Kenntnisse über die mensch-lichen Gebresten gesammelt; doch auf diesem Spezialgebiet fehlen ihr die nötigen Erfahrungen. »Ich habe Knötchen«, so behauptet sie steif und fest. Im Lexikon werden diese Knötchen als charakteristisch für eine beginnende Syphilis bezeichnet; drei bis vier Wochen nach der Ansteckung sollen sie fällig sein. Die Witwe rechnet sich aus, daß ihr Treppenschänder, der Kleine, Bartlose, sie vor genau vier Wochen gehabt hat.

»Was? Der Wanja? Dieses Kind?« Ich kann es nicht glauben: »Der soll - ?«

»Warum nicht. Gerade so'n dußliges Wurm. Außerdem weiß ich ja nicht, ob es wirklich der Wanja gewesen ist. Wie willst du es also wissen? Und dann noch dieser Pole-!«

Die Witwe schluchzt jammervoll. Was sollte ich tun? Nachzuschauen hätte keinen Zweck gehabt; ich verstehe nichts von sowas. Mein Vorschlag, Herrn Pauli zu befragen, wurde mit wilder Abwehr beantwortet. Bleibt also nichts weiter übrig, als den morgigen Tag abzuwarten und möglichst früh die Stelle aufzusuchen, die im Krankenhaus für die vergewaltigten Frauen eingerichtet worden ist. Wobei mir einfällt, wie mir die Ohren juckten, damals, als wir in der Schule anhand von übergroßen anatomischen Modellen das menschliche Ohr durchnahmen. Vermutlich haben bei der Witwe die Symptome auch erst dann richtig eingesetzt, als sie die Beschreibung im Lexikon las. Mal abwarten bis morgen. Vielleicht muß ich auch bald hingehen und mich untersuchen lassen. Bin einen Tag überfällig.

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