Samstag, 26. Mai 1945

Wieder endlose Viehzählung auf dem Fabrikgelände, obwohl unser Wiener es nun eigentlich schon besser können müßte. Der Tag begann wieder mit heißer Graupensuppe. Zufrieden zählten die Frauen die Fleischstücke darin. Und ich freue mich, daß ich keinen Herrn Pauli mir gegenüber habe, der mir die Bissen in den Mund zählt.

Vergeblich hielt ich nach meiner Mitwäscherin Ausschau. Die kleine, freche Danzigerin war nicht erschienen. Drum überredete ich zwei andere Frauen, eine blutjunge und eine etwa vierzigjährige, beide freundlichen Aussehens, mit mir zur Waschbütte zu kommen. In Eimern standen schon vorge-weichte Uniformblusen für uns bereit, fleckig und ölig; denn dies ist eine motorisierte Truppe.

Ein Tag wie gestern. Die neuen Wäscherinnen sind emsig und nett. Wieder umdrängen uns die Russen. Wir wehrten uns mit Püffen und albernem Gelächter. Einer, ein Schlitzäugiger, hat es sich in den Kopf gesetzt, uns in Wut zu bringen. Er warf uns ein paar Blusen, die bereits auf der Trockenleine hingen, wieder in die Bütte zurück, wobei er auf etliche noch sichtbare Flecke in den Sachen wies. Ja, freilich sind noch Flecken darin. Das bißchen kümmerliche Seife und unsere Bürsterei reichen nicht aus. Andere Burschen zeigten sich freundlicher, legten Brotstücke neben ihre Blusen.

Gegen Mittag baute unser Chef draußen vor dem Bau aus einer Kiste und zwei umgekippten Schubladen für uns eine Art Eßzimmer, hieß uns Platz nehmen und servierte uns, immer mit dem gleichen freundlich-unbewegten Gesicht, einen großen Topf fettester Fleischsuppe. Bedächtig aßen wir in der Sonne. Auch meine Mitwäscherinnen genossen dies Essen sehr. Übrigens bekam ich auf meine stereotype Frage, wie oft es ihnen passiert sei, von beiden eine ausweichende Antwort. Die Ältere, eine kesse Person mit verwüsteten Zähnen, doch mit unverwüstlichem Humor, sagte, ihr sei alles egal gewesen - die Hauptsache sei jetzt, daß ihr Mann, wenn er mal von der Westfront wiederkomme, nichts davon erfahre. Ansonsten bekennt sie sich zu dem Satz, daß »ein Rußki aufm Bauch« nicht so schlimm sei wie »ein Ami aufm Kopf«. Sie kann darüber mitreden; sie ist, wie sie sagt, durch einen Volltreffer mit anderen Hausbewohnern im Keller verschüttet worden. Es gab Verletzte und eine Tote. Erst nach zwei Stunden kamen Helfer und gruben die Verschütteten aus. Die Erzählerin geriet in allergrößte Erregung, als sie auf die Tote zu sprechen kam, eine alte Frau. »Die hat an der Wand gesessen, genau vor einem Spiegel.« Den Spiegel hatten die Erbauer so niedrig angebracht, weil der Keller ursprünglich für die Kleinen des Kindergartens gedacht war, der sich in einer Baracke nebenan befand. Als dann aber alle Kinder aus Berlin evakuiert wurden, war der Kindergarten geschlossen und der Keller für die Hausbewohner freigegeben worden. »Und nun hat die alte Frau den Spiegel in tausend Splittern in den Rücken und den Hinterkopf gekriegt. Ganz still ist sie daran verblutet, ohne daß es im Dunkel und in der Aufregung einer gemerkt hat.« Die Erzählerin fuchtelte empört mit ihrem Suppenlöffel in der Luft herum: »Spiegel! Dolles Ding!«

Freilich ist das ein wunderlicher Tod. Vermutlich sollten sich die Kindlein, für die der Keller gebaut war, vor diesem Spiegel am Morgen nach den Bombennächten ihre Löckchen strählen. Gewiß hat man diesen Zierat ganz zu Beginn des Luftkrieges eingebaut, als wir den Luftschutz noch mit Komfort und Zuversicht betrieben.

Wir verwuschen den Nachmittag, rubbelten mit unseren runzligen und verquollenen Händen Blusen, Hosen und Mützen. Gegen 19 Uhr konnten wir uns heimlich durch ein Seitenpförtchen zur Straße weg verdrücken. Herrliches Gefühl von Freiheit, Feierabend und Schuleschwänzen.

Zu Hause haben wir, die Witwe, Herr Pauli und ich, den letzten Rest des Burgunders ausgetrunken, den ich seinerzeit aus der Schupokaserne geräubert habe. Morgen ist Sonntag, aber nicht für mich. Der Wiener hat uns eine Rede gehalten, des Inhalts, daß man uns, falls wir morgen nicht kämen, zwangsweise aus den Wohnungen holen werde, zur Weiter-arbeit in die Fabrik.

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