Dienstag, 8. Mai 1945, mit Montagsrest

Zum Abend waren wir allein, Herr Pauli, die Witwe und ich. Rot ging die Sonne unter. Ein widerliches Bild, es erinnert mich an all die Brände, die ich in den letzten Jahren sah. Zusammen gingen die Witwe und ich zum kleinen Teich, um Schmutz-wasser zu schöpfen. (Fürs Trinkwasser von der Pumpe muß man als Deutscher immer noch eine runde Stunde rechnen.)

Es mochte acht sein, wir leben ohne Uhr; denn der in ein Handtuch gewickelte, hinten im Schrank versteckte Wecker hat Mucken gekriegt und bleibt stehen, wann er will. Rings um den Teich Stille. Im brackigen Wasser schwimmen Holzstücke, Lumpen, grüne Parkbänke. Wir schöpfen die trübe Brühe in unsere Eimer, stapfen zurück, den dritten Eimer überschwap-pend zwischen uns. Neben der morschen Holztreppe auf dem Rasenhang liegt etwas. Ein Mensch, ein Mann; er liegt rücklings auf dem Rasen, die Knie hochgezogen.

Ein Schläfer? Ja, ein stiller Schläfer, er ist tot. Wir stehen beide da und starren ihn an. Sein Mund ist so weit aufgeklappt, daß man die Faust hineinstecken könnte. Seine Lippen sind blau, die Nasenflügel wächsern und eingekniffen. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren, sauber rasiert, Glatze. Er sieht sehr ordentlich aus, trägt einen hellgrauen Anzug und handgestrickte graue Socken in altmodischen, blankgeputzten Schnürschuhen. Ich betaste die Hände, sie liegen neben ihm auf dem Rasen, die Finger sind krallig nach oben gekrümmt. Sie fühlen sich lau an, gar nicht todeskalt. Das sagt aber nichts, mag von der Sonne herrühren, die ihn beschien. Einen Puls hat er nicht, tot ist er. Doch er ist noch nicht gefleddert; in seiner Krawatte steckt eine silbrige Nadel. Wir überlegen, ob wir in seine Weste greifen, nach Papieren suchen, etwaige Angehörige benach-richtigen sollen. Unheimlich ist uns zumute. Wir spähen nach Menschen aus. Niemand ist zu sehen. Ich springe etliche Schritte die Straße hinunter, erblicke in einer Haustür ein Paar, ein junges Mädchen und einen jungen Mann, und bitte die beiden, doch mitzukommen, es liege da einer... Zögernd folgen sie mir, verharren eine Weile bei dem Toten, fassen aber nichts an und gehen schließlich stumm und achselzuckend wieder fort. Hilflos stehen wir noch eine Zeitlang da, dann gehen auch wir. Uns ist schwer ums Herz. Trotzdem nehmen meine Augen auf dem Rückweg mechanisch jedes Stückchen Holz wahr, und die Hände verstauen es ebenso mechanisch in die eigens dafür mitgeschleppte Umhängetasche.

Vor unserem Haus treffen wir unseren alten Gardinen-Schmidt, zusammen mit unserem Soldaten-Deserteur. Ich bin baff darüber, daß diese beiden sich auf die Straße wagen. Wir berichten von dem Toten, die Witwe ahmt seine Mundstellung nach. »Schlaganfall«, murmelt der Exsoldat. Sollen wir zusammen hingehen? »Ach was«, sagt Gardinen-Schmidt, »nachher fehlt irgendwas in seinen Taschen, dann sollen wir es gewesen sein.« Und im Nu ist auch für uns der Tote vergessen über der Tatsache, die Gardinen-Schmidt nun verkündet: »Alle Russen sind weg.« Sie haben unser Haus geräumt, sind aus dem ganzen Block abgezogen - während wir das Schmutzwasser holten, sind sie auf Lastwagen abgerollt. Gardinen-Schmidt erzählt, daß sie sich ihre Lastwagen gut gepolstert hätten, mit Matratzenteilen und Sofakissen aus den verlassenen Wohnungen.

Weg! Alle weg! Wir können es kaum fassen, blicken unwillkürlich straßenaufwärts, als müßten von dorther Last-wagen mit neuen Truppen anrollen. Aber nichts, nur Stille, seltsame Stille. Keine Gäule mehr, kein Pferdewiehern, kein Hahn. Bloß Pferdemist, und den fegt Portiers Jüngste soeben aus dem Hausflur. Ich sehe mir die Sechzehnjährige an, die einzige bisher, von der ich weiß, daß sie ihre Jungfernschaft an Russen verlor. Sie hat dasselbe dumme, selbstzufriedene Gesicht wie immer. Ich versuche mir vorzustellen, wie es wäre, wenn mir dies Erleben zum ersten Mal auf solche Art zuteil geworden wäre. Ich muß den Gedanken abbremsen, sowas ist nicht vorstellbar. Eines ist klar: Wäre an dem Mädel irgendwann in Friedenszeiten durch einen herumstreunenden Kerl die Notzucht verübt worden, wäre hinterher das übliche Friedensbrimborium von Anzeige, Protokoll, Vernehmung, ja von Verhaftung und Gegenüberstellung, Zeitungsbericht und Nachbarngetue gewesen - das Mädel hätte anders reagiert, hätte einen anderen Schock davongetragen. Hier aber handelt es sich um ein Kollektiv-Erlebnis, vorausgewußt, viele Male vorausbefürchtet - um etwas, das den Frauen links und rechts und nebenan zustieß, das gewissermaßen dazugehörte. Diese kollektive Massenform der Vergewaltigung wird auch kollektiv überwunden werden. Jede hilft jeder, indem sie darüber spricht, sich Luft macht, der anderen Gelegenheit gibt, sich Luft zu machen, das Erlittene auszuspeien. Was natürlich nicht aus-schließt, das feinere Organismen als diese abgebrühte Berliner Göre daran zerbrechen oder doch auf Lebenszeit einen Knacks davontragen.

Zum ersten Mal seit dem 27. April wurde am Abend die Haustür wieder verschlossen. Damit beginnt, falls nicht wieder neue Truppen ins Haus gelegt werden, ein neuer Lebens-abschnitt für uns alle.

Dennoch rief es gegen 21 Uhr draußen nach mir. Mit seiner gequetschten Stimme wiederholte der Usbek viele Male meinen Namen (das heißt die russifizierte Form des Namens, wie sie mir der Major verliehen hat). Als ich hinausschaute, schimpfte und drohte der Usbek zu mir hinauf und wies ganz empört auf die verschlossene Haustür. Tja, mein Dicker, das hilft dir gar nichts. Ich ließ ihn ein, der Major folgte ihm auf dem Fuße, er hinkte beträchtlich. Das Radeln ist ihm schlecht bekommen. Wieder machte die Witwe ihm Kompressen. Das Knie sah gefährlich aus, dick geschwollen, rot. Mir unbegreiflich, wie einer damit radeln, damit tanzen und Treppen steigen kann. Es sind Roßnaturen, da können wir nicht mit.

Schlechte Nacht mit dem fiebernden Mann. Seine Hände waren heiß, die Augen trüb, er fand keinen rechten Schlaf, ließ auch mich nicht schlafen. Endlich graute der Morgen.

Ich führte den Major und Burschen hinunter, schloß ihnen die Haustür auf, nun wieder unsere Haustür. Hinterher eklige Arbeit: Der Usbek hat eine Art Ruhr, hat Klo und Wand und Fliesen bespritzt. Ich wischte mit etlichen herumliegenden Heften einer NS-Fachzeitschrift für Apotheker auf, machte sauber, so gut ich konnte, verplemperte fast das ganze, gestern abend vom Teich herangeschleppte Spülwasser. Wenn das Herr Pauli wüßte, der unentwegte Manikürer und Pedikürer, der so pimplig ist!

Weiter, nun der Dienstag. Gegen neun Uhr morgens an der Vordertür der Hausdactylus, den wir nach wie vor benutzen, obwohl kein Russe mehr im Haus ist. Es war die Grindige, Frau Wendt, sie hat das Gerücht vernommen, daß Frieden sei. In Süd und Nord soll der letzte, ungeordnete deutsche Widerstand zerschlagen sein. Wir haben kapituliert.

Die Witwe und ich atmen leichter. Gut, daß es so schnell ging. Herr Pauli flucht jetzt noch über den Volkssturm, die sinnlos Getöteten der letzten Stunde, die Alten und Müden, die hilflos Verbluteten, für die es nicht mal einen Lappen gab, die Wunden zu verbinden. Zersplitterte Knochen, die aus Zivilhosen stachen; schneebleiche Bündel auf Tragen, aus denen es eintönig tropfte; die lauen, glitschigen Blutpfützen überall in den Gängen... Pauli hat bestimmt Schweres durchgemacht. Gerade deshalb halte ich seine Neuralgie, die ihn seit über einer Woche ans Bett fesselt, zur Hälfte für eine Seelenkrankheit, für eine Zuflucht und Retirade. Manche Männer im Haus haben solche Zuflucht. So der Buchhändler seine Parteizugehörigkeit, so der Deserteur seine Desertion, so etliche andere Figuren ihre Nazivergangenheit, für die sie Deportation oder sonst etwas befürchten und hinter der sie sich verschanzen, wenn es Wasser zu holen oder sonst eine Tat zu wagen gilt. Die Frauen tun auch ihr Bestes, das Mannsvolk zu verstecken und es vor dem bösen Feind zu schützen. Denn was können sie uns schon tun? Sie haben uns ja alles getan.

Also spannen wir uns vor die Karre. Das ist logisch. Trotzdem bleibt ein Unbehagen. Ich muß jetzt oft daran denken, was für ein Trara ich um durchreisende Urlauber gemacht habe, welche Verwöhnung, wieviel Respekt. Dabei kamen sie zum Teil aus Paris oder Oslo, Städten also, die frontferner waren als das ständig bombardierte Berlin. Oder sie kamen gar aus tiefstem Frieden, aus Prag oder Luxemburg. Selbst wenn sie von der Front kamen, wirkten sie bis gegen 1943 so proper und gutgenährt, wie es heute nur wenige Menschen sind. Und sie erzählten gern Geschichten, in denen sie selbst eine gute Figur machten. Wir dagegen werden fein den Mund halten müssen, werden so tun müssen, als habe es uns, gerade uns ausgespart. Sonst mag uns am Ende kein Mann mehr anrühren. Hätte man wenigstens richtige Seife! Ich habe oft solche Gier danach, meine Haut gründlich abzuschrubben, glaube fest, daß ich mich hernach auch seelisch sauberer fühlen würde.

Am Nachmittag gutes Gespräch, ich will es möglichst wörtlich notieren, muß immer noch darüber nachdenken. Unvermutet tauchte der bucklige Doktor aus der Limonadenfabrik wieder auf, ich hatte ihn beinahe vergessen, obwohl ich früher öfters einmal ein paar Worte mit ihm im Luftschutzkeller gewechselt habe. Er hat bis zuletzt in einem unentdeckten Nachbarkeller die Zeit überstanden. Dorthin hat kein Russe gefunden. Freilich bekam der Doktor dafür die brühwarmen Berichte genotzüch-tigter Wasserholerinnen ab. Eine, sehr kurzsichtig, hat dabei ihre Brille eingebüßt und tappt nun völlig hilflos herum. Es stellt sich heraus, daß der bucklige Doktor ein »Genosse« ist. Das heißt, er hat bis 1933 der Kommunistischen Partei angehört, hat sogar einmal drei Wochen mit einer Intourist-Gruppe die Sowjetunion bereist und versteht ein paar Worte Russisch. Tatsachen, die er mir im Keller ebensowenig anvertraut hat wie ich ihm meine Reisen und Sprachkenntnisse. Derartige plumpe Vertraulichkeiten hat uns das Dritte Reich abgewöhnt. Trotzdem muß ich mich wundern. »Wieso sind Sie denn nicht vorgetreten und haben sich den Russen als ein Sympathisierender zu erkennen gegeben?«

Er sieht mich verlegen an. »Ich hätte es getan«, meint er dann. »Wollte nur die ersten wilden Tage vorübergehen lassen.« Und er fügt hinzu: »Ich werde mich die nächsten Tage auf dem Rathaus melden. Sobald es wieder Behörden gibt, werde ich mich zur Verfügung stellen.«

(Was ich glaube, ihm aber nicht sage, ist, daß er sich wegen seines Buckels nicht vorgewagt hat. Bei so viel überschäu-mender Manneswut hätte er seinen Defekt, der ihn in den Augen dieser starken Barbaren zu einem Halbmann, einem kümmerlichen Etwas gemacht hätte, doppelt bitter empfunden.) Sein Kopf sitzt tief zwischen den Schultern, er bewegt sich nur mühsam. Doch seine Augen sind blank und klug, seine Rede ist flüssig.

»Sind Sie nun ernüchtert?« frage ich ihn. »Sind Sie von Ihren Genossen enttäuscht?«

»Kaum«, meint er. Und: »Wir wollen das Geschehene nicht allzu klein und persönlich auffassen. Triebe und Instinkte haben sich ausgetobt. Auch Rachsucht war im Spiel; denn schließlich haben wir ihnen einiges angetan drüben in ihrem Land. Umkehr und Selbstbesinnung müssen folgen, bei uns wie auch bei den anderen. Eine Welt von gestern, das ist unser altes Abendland. Es gebärt nun eine neue Welt, die von morgen, und das geschieht unter Schmerzen. Das Slawentum tritt jung und unverbraucht ins Licht der Weltgeschichte. Die Länder Europas werden ihre Grenzen sprengen und zu größeren Räumen verwachsen. Wie Napoleon einst mit den Thrönchen und Ländchen aufräumte, so räumen jetzt die siegreichen Groß-mächte mit den Ländern und Nationen auf.«

Ich: »Sie glauben also, daß Deutschland künftig ein Bestandteil der Sowjetunion, eine Sowjet-Republik sein wird?«

Er: »Es wäre zu wünschen.«

Ich: »Dann wird man uns herumstreuen und uns heimatlos machen, um unser Volkstum zu vernichten.«

Er: »Es ist durchaus möglich, daß wir Deutschen, die wir heute leben, nur Opfer und Dünger und Übergang sind - und vielleicht noch Fachlehrer. Doch meine ich, daß es an uns selber liegt, auch unter neuen Bedingungen ein für uns lebenswertes Dasein zu leben. Ein jeder nimmt sich selbst mit - überallhin.«

Ich: »Auch nach Sibirien?«

Er: »Ich getraue mich, guten Willen vorausgesetzt, mir auch in Sibirien ein lebenswertes Leben aufzubauen.«

Zuzutrauen wäre es dem verkrüppelten Mann. Er hat sich ja auch hier eine gute Stellung geschaffen, war leitender Chemiker eines großen Mineralwasserbetriebes. Aber ob er körperlich aushält, was die Zukunft vielleicht von uns fordert? Ob wir anderen es aushaken? Er zuckt die Achseln.

Manchmal glaube ich, daß ich von jetzt an alles auf Erden aushalten könnte, soweit es mir von außen zustößt und nicht aus dem Hinterhalt des eigenen Herzens. Ich fühle mich so durchgeglüht und ausgebrannt, wüßte nicht, was mich heut und morgen noch groß erregen und bewegen könnte. Wenn weiter gelebt werden muß, geht es schließlich auch in Eiswüsten. Der Doktor und ich haben einander die Hände gedrückt, fühlten uns beide gestärkt.

Bei alldem umgibt mich hier in der Wohnung ängstlich gehütete Bürgerlichkeit. Die Witwe fühlt sich wieder als Herrin ihrer Räume. Sie wischt und bürstet darin herum, hat mir einen zahnlückigen Kamm in die Hand gedrückt, damit ich die Fransen der Teppiche auskämme. Sie hantiert in der Küche mit Sand und Soda; jammert um eine Meißner Figur, der bei den Plünderungen im Keller Hand und Nase abgeschlagen wurden; klagt um eine Krawattenperle ihres Seligen, deren Versteck sie glattweg vergessen hat. Manchmal sitzt sie ganz tiefsinnig da und spricht plötzlich aus ihren Gedanken heraus: »Vielleicht hab ich sie doch in meinen Nähkasten getan?« Und fängt an, Garnrollen und alte Knöpfe herumzuschmeißen, und findet ihre Perle doch nicht. Dabei sonst eine patente Frau und vor nichts bange. Sie zerklopft Kisten besser als ich, hat den Trick ihrem Lemberg-Polen abgeguckt, dem dank seiner Neigung zu Wutanfällen das Kistenzerklopfen wohl besonders gut gelang. (Übrigens weiß inzwischen schon das ganze Haus den Unterschied: »Ukrainerfrau - so. Du - so!«)

Heute draußen Sonne. Wir schleppten endlos Wasser, haben Bettlaken gewaschen, mein Bett ist frisch bezogen. Es tat not, nach all den gestiefelten Gästen.

Unten beim Bäcker drängt sich viel Volk, das Lärmen und Schwatzen hallt durch unsere scheibenlosen Fenster. Dabei gibt es heute noch gar kein Brot, nur Nummern für das Brot von morgen oder übermorgen. Alles hängt von Mehl und Kohle ab, auf die der Bäcker wartet. Mit etlichen Restbriketts hat er bereits ein paar Brote fürs Haus gebacken. Ich bekam meinen guten Anteil. Der Bäcker vergaß mir nicht, daß ich für seine Bäckerin eingetreten bin, als damals die Kerle an ihr zerrten. Verkäuferin Erna aus dem Bäckerladen, dieselbe, die hinter der schrankverstellten Kammertür heil durchgekommen ist, brachte uns die Brote in die Wohnung. Für dies Brot hat das Haus auch was geleistet. Etliche Männer, von Fräulein Behn geführt, haben auf einem kleinen Karren Eimer mit Wasser für den Teig herangerollt. Und etliche Frauen haben, wie Frau Wendt sich grob ausdrückt, »Scheiße geschippt«. Denn die Russen hatten eine im Laden stehende gepolsterte Bank zur Latrine ernannt, hatten einfach die Bank ein wenig von der Wand abgerückt und sich auf die Lehne gehockt... Die Brote sind also ehrlich verdient.

Ein seltsames Geld haben die Russen mitgebracht. Der Bäcker zeigt uns einen Schein über 50 Mark, eine Art von Truppengeld für Deutschland, uns bis dato unbekannt. Für ganze vierzehn Brote hat der Bäcker den Schein von einem russischen Offizier gekriegt. Herausgeben konnte der Meister nicht, der Russe legte auch gar keinen Wert darauf, er hatte, wie der Meister sagt, die Brieftasche gespickt voll von solchen Scheinen. Der Meister weiß gar nicht, was er mit dem Geld tun soll, hätte dem Russen die Brote auch so gegeben. Doch der bestand auf Bezahlung. Vielleicht kehrt so etwas wie Treu und Glauben wieder. Ich nehme an, daß man auch uns dieses Geld geben und unser eigenes, vielleicht bloß zum halben Wert, dafür einziehen wird.

Jedenfalls ist die Aussicht auf Brot das erste Zeichen dafür, daß sich oben jemand um uns kümmert, daß für uns gesorgt werden soll. Ein zweites Zeichen klebt unten neben der Haustür: ein Blatt in vervielfältigter Maschinenschrift, ein Aufruf, unterzeichnet von einem Bezirksbürgermeister Dr. Soundso. Der Aufruf fordert zur Rückgabe allen aus Läden und Ämtern gestohlenen Gutes auf, Schreibmaschinen, Büromöbel, Laden-zubehör etcetera - vorerst straffrei. Erst bei späterer Entdeckung solchen Diebesgutes droht Strafe nach Kriegsrecht. Weiter heißt es, daß alle Waffen abgegeben werden müssen. Häusern, in denen Waffen gefunden werden, droht ebenfalls Kollektivstrafe. Und Häusern, in denen einem Russen etwas zustößt, droht der Tod. Ich kann es mir kaum denken, daß die Unsrigen irgendwo mit Waffen liegen und auf Russen lauern. Diese Art Männer ist mir jedenfalls in diesen Tagen nicht begegnet. Wir Deutschen sind kein Partisanenvolk. Wir brauchen Führung und Befehl. Unterwegs in der sowjetischen Eisenbahn, die einen tagelang durch das Land schaukelt, sagte einmal ein Russe zu mir: »Die deutschen Genossen erstürmen einen Bahnhof nur, wenn sie vorher gültige Bahnsteigkarten gelöst haben.« Mit anderen Worten und ohne Spott: Die meisten Deutschen haben einen Horror vor der freihändigen Ungesetzlichkeit. Zudem haben unsere Männer jetzt Angst. Der Verstand sagt ihnen, daß sie besiegt sind, daß jedes Aufzucken und Aufmucken nur Leiden schafft und nichts bessert. In unserem Haus sind die Männer jetzt eifrig hinter Waffen her. Wohnung für Wohnung gehen sie ab, ohne daß eine Frau sie begleitet. Überall fragen sie nach Gewehren, ergattern aber nur eine alte Knarre ohne Hahn. Zum ersten Mal seit langem hörte ich wieder deutsche Männer laut sprechen, sah sie sich energisch bewegen. Sie wirkten geradezu männlich - oder doch so wie das, was man früher mit dem Wort männlich zu bezeichnen pflegte. Jetzt müssen wir nach einem neuen, besseren Wort Ausschau halten, das auch bei schlechtem Wetter standhält.

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