Sonntag, 6. Mai 1945

Erst zurückgeschaut auf den Rest vom Samstag. Wieder erschien gegen 20 Uhr der Major mit seinem Mongolen. Diesmal zog der aus seinen unergründlichen Burschentaschen zwei Steinbutts, nicht groß, doch frisch. Die Witwe panierte und buk die köstlichen Fische. Wir aßen zusammen davon, auch der Usbek bekam ein Stück in seine Fensterecke gereicht, die er wie ein treuer Hund stets sogleich besetzt. Eine leckere Sache!

Blieb der Major die Nacht? Allein hätte ich es nicht gewagt, mich zu entkleiden, hätte mich nicht allein im Zimmer schlafen gelegt, das weiß ich. Obwohl jetzt die Hintertür verschlossen ist, obwohl draußen kein Krieg mehr tobt, bleibt ein starker Rest von Angst in uns allen. Angst vor irgendwelchen Betrunkenen, Wütigen. Gegen die beschirmt uns der Major. Heute lahmte er. Sein Knie ist noch immer geschwollen. Die Witwe, die für sowas sanfte Hände hat, machte ihm eine Kompresse, bevor er sich zu mir legte. Er hat mir verraten, mit welch drolligern Kose-namen ihn die Mutter rief, und hat sich meinen Vornamen, zärtlich verkleinert, ins Russische übersetzt. Also sind wir wohl Freunde. Trotzdem ermahne ich mich immer wieder, auf der Hut zu bleiben, möglichst wenig zu reden.

Am Morgen waren wir wieder allein, saßen an Herrn Paulis Bett, frühstückten gediegen und horchten nach draußen hin. Schließlich wagte sich die Witwe in das Treppenhaus, rannte aufwärts zur Buchhändlerswohnung, wo immer noch ein Dutzend Nachbarn beisammen haust. Sie kam zurück, bat mich: »Komm, gib mir den Rest Vaseline.« Sie schluckt bereits, hat die Augen voll Tränen.

Gestern Nacht im Dunklen, so hat sie gehört, ist der Likörfabrikant zu seiner Frau zurückgekehrt, mitten durch die Front und die Truppen hindurch, ist zurückgekrochen, ge-schlichen, zusammen mit der rothaarigen Elvira, die mit ihm die Stellung in der Likörfabrik gehalten hat - wozu, weiß ich nicht. Ob sie gemeinsam die Likörflaschen verteidigen wollten? Es muß wohl ein Urtrieb im Menschen sein, daß er sich bei Bedrohung an seine Habe krallt.

Zusammen gingen die Witwe und ich zu ihnen hinauf. Die Wohnung liegt im vierten Stock. Es stellte sich heraus, daß die vollbusige Likörfabrikantin, der die Ehre erster russischer Nachstellungen im Keller zuteil wurde, seit damals, also seit - Augenblick mal - über einer Woche unbelästigt oben in ihrem vierten Stock gehaust hat. Sie hatte die Badewanne voll Wasser, hatte etliche Eßvorräte - sie ist ganz für sich geblieben. Das glaub ich. Tatsache ist nämlich (wir haben es ziemlich spät gemerkt), daß die Russen ungern Treppen steigen. Sie sind zumeist Bauernjungen und Parterre, der Erde nahe, aufge-wachsen; sind keine gelernten Treppenkletterer. Auch haben sie wohl das Gefühl, daß sie so hoch droben abgeschnitten sind, daß der Rückzug vier Treppen hinab eine Weile dauert. Kurz, sie haben sich kaum je so hoch gewagt.

Wir treten in die Wohnung, auf Zehenspitzen, als kämen wir zu Kranken. Die Rothaarige hockt auf einem Küchenstuhl, stiert vor sich hin. Ihre Füße stehen in einem Eimer voll Wasser. Sie badet ihre Zehen, die, wie der Fabrikant uns sagt, ganz durchgelaufen und blutig sind. Auch des Mannes Füße haben schlimm ausgesehen. Beide kamen auf Strümpfen quer durch die Front, durch Trümmerstraßen und Ruinen. Die Schuhe hatten ihnen die Russen ausgezogen.

Während die Rothaarige, die über dem Unterrock eine viel zu weite, wohl von der Hausfrau geliehene Bluse trägt, ächzend ihre Zehen bewegt, berichtet uns der Mann, daß die Fabrik zwei Tage lang im Kampfgebiet gelegen habe; daß sich anfangs deutsche, sodann russische Truppen an den restlichen Alkoholvorräten gütlich getan hätten. Russen hatten schließlich hinter einem Bretterverschlag beim Stöbern nach Schnaps die Elvira und den Chef aufgetrieben, dazu eine zweite Frau, eine Angestellte der Firma, die auch dort unten Schutz gesucht hatte. Und der Mann zuckt die Achseln, mag nicht weiterreden, geht aus der Küche hinaus.

»Angestanden haben sie«, erklärt uns im Flüsterton die Likörfabrikantin, während die Rothaarige immer noch schweigt. »Einer hat auf den anderen gewartet. Sie sagt, es sind mindestens zwanzig gewesen, aber genau weiß sie es nicht. Sie hat beinah alles allein abgekriegt. Die andere Frau war nicht wohl.« Ich starre die Elvira an. Aus ihrem käsigen Gesicht hängt der verschwollene Mund wie eine blaue Pflaume. »Zeig es ihnen mal«, sagt die Hausfrau. Wortlos öffnet die Rothaarige ihre Bluse, zeigt uns ihre zerbissenen, verfärbten Brüste. Kann's kaum hinschreiben, es würgt mich wieder.

Wir ließen ihr den Rest Vaseline da. Sagen kann man da nichts. Wir haben auch nichts zu ihr gesagt. Aber sie fing von selbst an zu reden, es war kaum zu verstehen, ihre Lippen waren so verschwollen. »Hab gebetet dabei«, so etwa sagte sie, »immer gebetet: Lieber Gott, ich danke dir, daß ich besoffen bin.« Denn ehe die Burschen sich zur Schlange formten, haben sie die Frau ordentlich vollgefüllt mit dem, was sie an Ort und Stelle fanden, haben ihr auch zwischendurch wieder zu trinken gegeben. Dies alles verdanken wir dem Führer.

Sonst war viel zu tun den Nachmittag über, viel zu wischen und zu waschen, die Zeit ging hin. Ich war ganz erstaunt, als plötzlich der Major im Zimmer stand, die Witwe hatte ihn eingelassen. Diesmal hat er ein nagelneues Kartenspiel mitgebracht, er breitet die Blätter vor Pauli auf dessen Deckbett aus. Die beiden haben offenbar ein Spiel gefunden, auf das sie sich beide verstehen. Ich kenne mich da nicht aus, hab mich in die Küche zur Witwe verkrümelt und schreibe schnell diese Zeilen. Der Major hat sogar »Spielgeld« mitgebracht, deutsche Dreimark- und Fünfmarkstücke, die seit endlosen Zeiten bei uns eingezogen sind. Wie mag er daran gekommen sein? Ich wage ihn nicht zu fragen. Zu trinken hat er uns heute nichts mitgebracht, entschuldigte sich dafür bei jedem einzelnen von uns. Macht nichts, heut ist er unser Gast, wir haben von dem Fabrikanten eine Flasche Likör geerbt.

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