Mittwoch, 16. Mai 1945

Um sieben Uhr Moskauer Zeit stand ich auf. In den leeren Straßen Morgenstille. Noch sind die Läden leer und die neuen Karten nicht ausgeteilt. Am Gittertor der Kommandantur stand ein uniformiertes Mädchen und wollte mir den Eintritt verwehren; doch ich bestand auf meinem Schein.

Schließlich saß ich drinnen im Büro, beim Kommandanten, der zur Zeit Herr über mindestens hunderttausend Seelen ist. Ein schmales Kerlchen, blitzblank, hellblond, spricht auffallend leise. Er kann bloß Russisch, hat aber eine Dolmetscherin zur Seite, die Deutsch und Russisch nur so rasselt, beides akzentfrei. Ein bebrilltes Mädchen in kariertem Kleid, keine Soldatin. Windgeschwind übersetzt sie, was gerade eine spitznasige Kaffeehaus-Inhaberin äußert. Sie will ihren Laden wieder aufmachen? Großartig, das soll sie. Was braucht sie dazu? Mehl, Zucker, Fett, Wurst. Hm, hm. Was hat sie denn noch? Malzkaffee? Gut, so soll sie den ausschenken und, wenn möglich, Musik dazu bieten, vielleicht einen Plattenspieler aufstellen, denn es kommt darauf an, daß sich das Leben recht bald wieder normalisiert. Strom soll sie morgen mit ihrer ganzen Straße wieder bekommen, verspricht der Kommandant. Aus dem Nebenraum tritt, von der Dolmetscherin gerufen, ein Mann, wohl Elektroingenieur, der anhand von Blaupausen nun dem Kommandanten zeigt, wie es mit der Stromversorgung seines Bezirks steht. Ich reckte den Hals; unser Block war aber nicht mit drauf.

Es folgten etliche Bittsteller: Ein Mann im blauen Monteurkittel fragt, ob er ein Pferd, das lahm und blutig drüben im Park liegt, heimholen und gesund pflegen darf. Bitte sehr - wenn er sich auf Pferde versteht. Heimlich wundere ich mich, daß dieses Pferd noch nicht in paßgerechte Stücke für den Kochtopf zerteilt worden ist. Oder ist die Zeit wilden Schlachtens vorüber? Erstaunlich, wie ein jeder plötzlich bemüht ist, für sein Tun eine Erlaubnis einzuholen, sich den Rücken zu decken. Das Wort »Kommandant« ist in diesen Tagen ein Schlüssel-wort.

Ein Betriebsführer mit zwei Stenotypistinnen meldet seinen Kleinbetrieb an, eine Werkstatt für Ofenrohre, die aber mangels Material derzeit stilliegt. »Budit«, sagt der Kommandant. »Budit«, die russische Zauberformel, von der Dolmetscherin tröstend übersetzt mit: »Wird schon wieder werden.« Ja, »budit« kann auch ich übersetzen, ebenso die zweite Zauberformel »sawtra«, was »morgen« heißt.

Es folgen zwei Herren, die offenbar Direktoren einer Schokoladenfabrik sind. Sie haben ihren eigenen Dolmetscher mitgebracht, etwa von meiner Güte, wohl jemand, der als Arbeiter oder Soldat etliche Zeit in Rußland war. Zwar ist es noch nichts mit Schokolade; dafür wollen die Männer Roggenmehl aus einem Vorort-Lager holen, wollen Nudeln daraus fabrizieren. Sollen sie! Einen Lastwagen verspricht ihnen der Kommandant für »sawtra«.

Sachliche Luft, gar keine Stempel, wenig Papier. Der Kommandant arbeitet mit kleinen Kritzelzetteln. Ich war ganz Auge und Ohr, sah die Obrigkeit funktionieren, fand's spannend und erfreulich.

Schließlich war die Reihe an mir. Ich legte dreist los, gestand, was der Kommandant ohnehin hörte: daß ich so vielfältigen Übersetzungsanforderungen sprachlich nicht gewachsen sei. Freundlich erkundigte er sich, woher mein Russisch stammt, welche Art von Arbeit ich gelernt hätte. Meinte dann, in absehbarer Zeit würden gewiß wieder Leute verlangt, die mit Kamera und Zeichenstift umgehen könnten - ich solle es abwarten. Ich bin's zufrieden.

Derweil waren zwei Russen eingetreten, beide blank gestiefelt, reich dekoriert, in frisch geplätteten Uniformen. Das Gewaschen- und Gestriegeltsein ist bei ihnen ein Stück »Kultura«, ein Zeichen höheren Menschentums. Ich entsinne mich noch der Plakate, die damals in allen Moskauer Ämtern und Straßenbahnwagen hingen, mit dem Slogan: »Wasche dir täglich Gesicht und Hände, mindestens einmal im Monat das Haar.« Dazu kleine, niedliche Bilderchen mit viel Gepruste und Waschnapfgeschwenke. Auch das Stiefelputzen gehört zu dieser Kultura und Reinlichkeitsreligion. Drum wundert es mich nicht, wie betont blank sie daherkommen, sobald sie können.

Die beiden Männer unterhalten sich halblaut mit dem Kommandanten. Schließlich wendet sich dieser an mich und fragt mich, ob ich wohl den Oberleutnant Soundso (Tsch-tsch-tsch..., zwar diesmal deutlich, doch vergaß ich es gleich wieder) auf einigen Wegen dolmetschend begleiten könne - er sei beauftragt, die Banken des Bezirks zu inspizieren. Mir ist das recht. Ich bin froh über jedes Tun, das nicht aus Wasserholen und Holzsuchen besteht.

Neben dem dunklen, gutaussehenden Offizier trabe ich durch die Berliner Straßen. Langsam und in deutlichster Aussprache, so wie man mit sprachschwachen Ausländern redet, erklärt er mir, daß wir zuerst den deutschen Bürgermeister aufsuchen und von ihm eine Liste der Bankfilialen erbitten würden.

»Burgemestr«, so heißt nun dieser Bürgermeister auf russisch. Im Rathaus Volksgewimmel, Gerenne durch die düsteren Gänge. Männer spritzen von Zimmer zu Zimmer; ständig klappern die Türen. Irgendwo tackt eine Schreib-maschine. An einigen Pfeilern, die etwas Licht haben, kleben gleichlautende handgeschriebene Zettel: Danach wird eine Frau, die am 27. April den Verstand verlor und davonlief, von ihren Angehörigen gesucht. »Die Betreffende ist dreiundvierzig Jahre alt, hat schadhafte Zähne, schwarzes gefärbtes Haar und trägt Hausschuhe.«

Beim Bürgermeister drin ein Schwärm von Männern um den Schreibtisch herum. Sie reden, gestikulieren heftig, ein Dolmetscher schnattert dazwischen. In wenigen Minuten erhält der Oberleutnant die gewünschte Aufstellung der Bankfilialen. Ein Mädel tippt die Adressen in die Maschine. Die Fensterbank schmückt ein Fliederstrauß.

Wir wandern los. Der Oberleutnant ist zurückhaltend und sehr höflich. Er fragt, ob er nicht zu schnell gehe, ob ich mit Bankdingen vertraut sei, ob es mir auch wirklich nicht lästig sei, ihn zu begleiten...

In der Dresdner Bank treffen wir schon Ordnung an: saubere Tische, auf denen rechtwinklig ausgerichtet die Bleistifte liegen. Die Kladden sind aufgeschlagen, alle Safes heil. Der Eingang zu dieser Bank liegt in einem Torweg, er wurde wohl übersehen.

Anders bei der Commerzbank; ein Dreckstall sondergleichen, verlassen und leer. Alle Safes aufgeklopft, die Tresore zerschlagen, die Koffer aufgeschnitten und zertreten. Überall Exkremente, es stinkt. Wir fliehen.

Bei der Deutschen Bank sieht es halbwegs sauber aus. Zwei Männer fegen und hantieren herum. Die Safes sind ausgeräumt, doch in aller Ruhe, aufgeschlossen mit den zugehörigen Schlüsseln der Bank. Einer der beiden Männer sagt mir, »die« hätten sich die Adresse des Bankdirektors verschafft, seien mit ihrem Lastwagen hingebraust, ihn zu holen, hätten jedoch den Mann mit Frau und Tochter vergiftet vorgefunden. Ohne Zeitverlust seien sie zum stellvertretenden Direktor weitergefahren und hätten von ihm die Öffnung der Safes verlangt. Diese Bank arbeitet bereits. Ein Schild verkündet, daß die Schalter zwischen 13 und 15 Uhr zur Annahme von Zahlungen geöffnet sind. Na, den möchte ich sehen, der jetzt hier was einzahlt. Da erscheint mir die altmodische Strumpf oder Matratzenmethode doch entschieden sicherer.

So ganz kapiere ich nicht, wieso die Russen sich derart zielbewußt in die Banken hineinwühlen konnten. Denn offiziell und befohlen können diese Safe-Aufklopfereien doch nicht gewesen sein; dagegen sprechen die roh geplünderten Tresore der soeben besichtigten Bank, die vielen Fäkalien dort unten, die den Räubergeruch liefern. Vielleicht wissen sie aus ihren Schulungskursen, daß Banken hierzulande die Trutzburgen der bösen Kapitalisten sind, daß sie mit deren Ausplünderung sozusagen Expropriation der Expropriateure betreiben, wie es ihr Dogma ausdrückt und als löbliche Tat feiert. Etwas stimmt da nicht. Alles sieht eher nach wilden Plünderungen aus, bei denen sich der einzelne Mann tüchtig was unter den Nagel riß. Gern würde ich den Oberleutnant nach diesen Dingen fragen. Ich wage es nicht.

In der Städtischen Sparkasse großes Wischen und Waschen. Zwei ältere Frauen schrubben den Boden. Safes gibt es hier keine. Die Kassen, soweit zu sehen, sind gänzlich leer. Der Oberleutnant sagt für morgen Bewachung zu. Aber was soll hier bewacht werden?

Vergeblich suchten wir eine Zeitlang die Filiale der Kredit- und Bodenbank. Endlich fanden wir sie in einem Hinterhof, hinter herabgelassenen Scherengittern, unberührt in friedlichem Dornröschenschlaf. Ich fragte im Hause herum und konnte dem Oberleutnant schließlich die Adresse des Geschäftsführers bringen. Kein Russe sah die Bank. Das Glasschild, das früher an der Straße von dieser Filiale kündete, besteht nur noch aus etlichen Scherben, die lose in den Schrauben hängen.

Bleibt noch eine zweite Filiale der Deutschen Bank, am Rande des Bezirks gelegen. Wir machen uns auf den Weg. Die Sonne brennt. Ich bin matt, schleiche müde. Rücksichtsvoll mäßigt der Oberleutnant seine Schritte. Er fragt nach persönlichen Dingen, nach meiner Schulbildung, meinen Sprachkenntnissen. Und plötzlich sagt er auf französisch, halblaut und ohne mich dabei anzusehen: »Dites-moi, est-ce qu'on vous a fait du mal?«

Verblüfft stottere ich: »Mais non, pas du tout.« Verbessere mich dann: »Oui, monsieur, enfin, vous comprenez.«

Mit einem Mal ist andere Luft zwischen uns. Wieso spricht er solch reines Französisch? Ich weiß es, ohne daß er es mir sagt: Weil er ein »Biewsche« ist, ein Gewesener, ein Angehöriger der ehemals herrschenden Schicht im alten Rußland. Nun berichtet er auch von seiner Herkunft: Moskauer, sein Vater war Arzt, sein Großvater ein bekannter Chirurg und Universitäts-professor. Der Vater hat im Ausland studiert, in Paris, in Berlin. Man war wohlhabend, hatte eine französische Gouvernante im Haus. Der Oberleutnant, 1907 geboren, hat noch etwas von diesem »gewesenen« Lebensstil abbekommen.

Nach dem ersten Austausch von französischer Rede und Gegenrede ist es wieder still zwischen uns. Der Oberleutnant ist mir gegenüber spürbar unsicher geworden. Unvermittelt sagt er in die Luft hinein: »Oui, je comprends. Mais je vous prie, Mademoiselle, n'y pensez plus. II faut oublier. Tout.« Er sucht nach den rechten Vokabeln, spricht eindringlich und ernst. Ich darauf: »C'est la guerre. N'en parlons plus.« Und wir sprachen nicht mehr davon.

Schweigend betraten wir den offen daliegenden, gänzlich zerschlagenen, ausgeplünderten Raum der Bankfiliale. Wir stolperten über Schubladen und Karteikästen, wateten durch Papierfluten, traten vorsichtig um Kothaufen herum. Überall Fliegen, Fliegen, Fliegen... Nie hab ich in Berlin solche Fliegenmassen gesehen und gehört. Hab gar nicht geahnt, daß die solchen Lärm machen können.

Auf einer Eisenleiter kletterten wir hinab in den Tresorraum. Unten lagen massenhaft Matratzen herum. Dazwischen die ewigen Flaschen und Fußlappen, und zerschnittene Koffer und Mappen. Über allem dicker Gestank, Totenstille. Wir krochen wieder aufwärts ans Licht. Der Oberleutnant notierte.

Draußen die stechende Sonne. Der Oberleutnant will rasten, ein Glas Wasser trinken. Wir wandern ein Stück straßenab-wärts, die einsame, öde, schweigende Straße hinunter, die für uns allein daliegt. Auf einem Stück Vorgartenmauer unter Fliederbäumen setzen wir uns nieder. »Ah, c'est bien«, sagt der Russe. Aber lieber noch spricht er russisch mit mir. Sein Französisch, so rein und gut es in der Aussprache ist, ermangelt doch offenbar der Übung und ist nach den ersten Phrasen und Fragen so ziemlich erschöpft. Mein Russisch findet er ganz wacker, lächelt allerdings über meinen Akzent, den er - »Excusez, s'il vous plait« - jüdisch findet. Begreiflich; denn des russischen Juden Muttersprache ist ja das Jiddische, also ein deutscher Dialekt.

Ich schaue dem Oberleutnant in das bräunliche Gesicht und überlege, ob er wohl ein Jude sei. Ob ich ihn danach frage? Aber gleich verwerfe ich diesen Einfall als taktlos. Nachträglich fällt mir auf, daß mir unter allen Schmähungen und Vorwürfen von Seiten der Russen niemals die Judenverfolgungen vorgeworfen worden sind; und wie der Kaukasier damals gleich beim ersten Satz, den er zu mir sprach, sich energisch dagegen verwahrte, für einen Juden gehalten zu werden. In die Fragebögen, die jedermann in Rußland ausfüllen mußte, als ich dort war, trug man das Wort »Jude« in die ethnographische Spalte ein, wie »Tatare« oder »Kalmücke« oder »Armenier«. Und mir fällt die Büro-Angestellte ein, die mit Gezeter die Eintragung »Jude« verweigerte - ihre Mutter sei eine Russin gewesen. Trotzdem findet man auf den Ämtern, bei denen man als Ausländer vorstellig werden muß, sehr viele jüdische Bürger mit den typisch deutschen Namen von sinnig blumigem Klang, wie Goldstein, Perlmann, Rosenzweig. Meistens sprachkundige Leute, dem Sowjetdogma ergeben, ohne Jehovah, Bundeslade und Sabbath.

Wir sitzen im Schatten. Hinter uns wieder eine von den roten Holzsäulen. Ein stiller Schläfer liegt darunter, der Feldwebel Markoff. Als sich die Tür zur Kellerwohnung einen winzigen Spalt weit öffnet und eine Uralte herausspäht, bitte ich für den Russen um ein Glas Wasser. Es wird freundlich herausgereicht, kühl im beschlagenen Trinkglas. Der Oberleutnant erhebt sich und bedankt sich mit einer Verbeugung.

Ich muß an den Major und sein Knigge-Benehmen denken. Immer Extreme. »Frau komm!« und Exkremente im Zimmer; oder Zartheit und Verbeugungen. Der Oberleutnant jedenfalls könnte nicht höflicher sein, mich nicht damenhafter behandeln. Offenbar bin ich in seinen Augen wirklich eine Dame. Überhaupt hab ich das Gefühl, daß wir deutschen Frauen, soweit wir einigermaßen sauber und manierlich und mit Schulwissen ausgerüstet daherkommen, in den Augen der Russen höchst achtbare Geschöpfe sind, Vertreter einer höheren Kultura. Selbst der Holzfäller Petka muß etwas Derartiges gespürt haben. Vielleicht wirkt auch der Rahmen mit, in dem sie uns finden: die paar polierten Restmöbel, die Klaviere und Bilder und Teppiche, all der Bürgermief, der ihnen so großartig vorkommt. Mir fällt ein, wie Anatol sich mal über den Wohlstand unserer Bauern verwunderte, auf den er in den Dörfern am Wege des Krieges gestoßen ist: »Sie hatten alle Schubladen voll Sachen!« Ja, die vielen Sachen! Das ist ihnen etwas Neues. Bei ihnen hat man nur wenig Sachen. Sie lassen sich in einem Zimmer verstauen. Und statt des Kleiderschran-kes gibt es in manchen Familien bloß ein paar Haken an der Wand. Haben sie aber einige Sachen, so kriegen sie sie flink kaputt. Das ewige Geflick und Gepussel deutscher Hausmütter macht den Russinnen keinen Spaß. Ich hab's selber in einer Ingenieurs-Familie miterlebt, wie die Hausfrau in der Stube den Dreck zwar zusammenfegte, ihn aber zum Schluß unter einen Schrank kehrte, wo sicherlich schon mehr lag. Und hinter der Stubentür hing ein Handtuch, in dem sich alle drei Kinder der Familie schneuzten - das Kleinste unten, die Größeren höher. Ländlichsittlich.

Wir saßen eine ganze Weile auf dem Mäuerchen, schwatzten und ruhten aus. Nun will der Oberleutnant wissen, wo ich wohne, wie ich lebe. Er möchte mich besser kennenlernen, wobei er sich gleich gegen jeden falschen Verdacht verwahrt: »Pas ça, vous comprenez?« - So sagt er und schaut mich mit nebligen Augen an. Oh ja, ich verstehe.

Wir verabreden uns für den Abend. Er wird auf der Straße nach mir rufen. Ich werde um die abgemachte Zeit am Fenster horchen. Er heißt Nikolai. Seine Mutter nennt ihn Kolja. Nach seiner Frau frage ich nicht. Sicherlich hat er Weib und Kinder. Was geht es mich an? Zum Abschied sagt er: »Au revoir.«

Ich heim und der Witwe alles brühwarm berichtet. Sie ist entzückt. »Du, den halte dir. Endlich mal ein gebildeter Mensch aus gutem Haus, mit dem man sich unterhalten kann.« (Auch Pauli und die Witwe können etwas Französisch.) Dazu sieht die Witwe im Geiste bereits wieder die Produkte anrollen, ist überzeugt, daß Nikolai Zugang zu Lebensmitteln hat, etwas für mich - und damit für uns alle drei - tun wird. Ich weiß nicht recht. Einerseits kann ich nicht bestreiten, daß er sympathisch ist. Er ist der westlichste unter all den Russen, die ich bisher als Sieger traf. Andererseits hab ich keine Lust auf einen neuen Mann, berausche mich immer noch am Alleinsein zwischen sauberen Laken. Überdies will ich endlich aus dem ersten Stock und von der Witwe weg; vor allem von Herrn Pauli, der mir jede Kartoffel mißgönnt. Ich möchte wieder hinaufziehen in die Dachwohnung, sie säubern, bewohnbar machen. Was soll ich also noch für die paar Tage dem trägen Pauli Essen anschlafen? (Auch so ein neues Wort von uns. Wir haben mit der Zeit einen seltsamen Jargon entwickelt, reden von Majorszucker und Schändungsschuhen, von Plünderwein und Klaukohle.)

Weiter, am späten Abend. Gegen 20 Uhr lauerte ich am Fenster, wie abgesprochen, doch kein Nikolai kam. Herr Pauli verulkte mich mit meiner ungetreuen Eroberung. Die Witwe, noch hoffnungsvoll, behielt immerfort den Wecker im Auge. Da,

18 4 -------4 als es schon dämmerte, draußen der Ruf: »C'est moi!« Ich öffnete, nun doch ganz aufgeregt, führte ihn hinauf in unsere Wohnung. Er kam jedoch nur für eine Viertelstunde, und nur, um zu sagen, daß er nicht kommen, nicht bleiben könne. Die Witwe und Herrn Pauli begrüßte er in feierlichem Französisch und verabschiedete sich gleich wieder mit seinem »Au revoir«. Im Flur sagte er auf russisch, wobei er mir die Hände drückte: »Bis Sonntag abend um acht.« Und, wieder auf französisch: »Vous permettez?« Was wir schon zu erlauben haben? Aber vielleicht weht nun wirklich ein anderer Wind. Auf Inflation oder neues Geld tippt Nikolai übrigens nicht, ich hab ihn heute morgen danach gefragt. Er meint, unser bisheriges Geld werde vorläufig im Umlauf bleiben, doch werde das Bankwesen stark vereinfacht. Ich: »Aha, wohl sozialisiert?« Darauf er: »Nein, doch nicht, es sind ganz andere Verhältnisse.« Und er sprach von etwas anderem.

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