Dienstag, 29. Mai 1945

Wieder Waschtag, lang und heiß. Diesmal hagelte es förmlich Hosen und Blusen. Eine Bluse verschwand von der Leine, anscheinend eine besonders gute, Eigentum eines Offiziers. Niemand, nicht mal der Bestohlene, kam auf den Gedanken, daß eine von uns sich an dem Stück vergriffen haben könnte. Wohl gab es Geschrei unter den Männern; doch man merkte, daß sie den Diebstahl hinnahmen wie ein Naturereignis. Das Diebische liegt tief in ihnen drin. Als ich drüben war, bin ich, vor allem in der ersten Zeit, so ziemlich um alles Stehlbare bestohlen worden: Handtasche, Aktenmappe, Mantel, Hand-schuhe, Weckeruhr, zum Trocknen ins Bad gehängte Strümpfe. Einmal ist mir in einem Büro, in dem sich drei Angestellte befanden, eine kleine Schere gestohlen worden - genau in der Minute, in der ich mich zu einer Schublade hinunterbückte, um ein Photo herauszusuchen. Als Dieb kam nur eine der drei hier Anwesenden in Frage - lauter freundliche, manierliche Büro-Angestellte. Ich wagte kein Wort über den Diebstahl zu sagen, wühlte stumrn auf dem Schreibtisch herum, hatte einen roten Kopf für den Dieb - während die drei im Büro ganz unbefangen ihre Arbeit weiter taten. Wer es gewesen sein könnte, weiß ich bis heute nicht. Ich weiß bloß, daß es damals für gewöhnliche Russen keine solchen Scheren zu kaufen gab. Bestimmt wächst das Klauen aus der Armut, es reißt ja jetzt auch bei uns ein. Aber die Russen haben eine ganz besondere, treuherzige und selbstverständliche Art bei ihrem Stibitzen. Das ist nun einmal so - was kannst du da machen?

Den ganzen Tag umbuhlten uns die Burschen wieder mit ihrem stereotypen Angebot: »Speck, Eier, schlafen zu Chause.« Einer wich mir nicht von der Seite, wies mir heimlich einen deutschen Zwanzigmarkschein, legte einen zweiten Zwanziger dazu, wenn ich mal eben schnell mit ihm dort drin in der Baracke... Das gleiche hat er vorher schon der kleinen Gerti geboten.

Heute wusch eine Russin an unserer Seite, die Frau oder Freundin eines Hauptmanns, eine hochbusige Blonde. Sie wusch kunstseidene Männerhemden und sang dazu auf Lalala einen deutschen Schlager, den sie wohl von einer Grammo-phonplatte hat. Gerti und meine andere Mitwäscherin, beide tonreine Sängerinnen, stimmten ein. Die Russin lächelte uns zu. Es wehte eine freundliche Luft.

Draußen schönstes Trockenwetterchen, Sonne und Wind. Die meisten Russen pennten irgendwo im Gelände. Niemand kam, uns zu kneifen und zu knutschen. Wir wuschen bloß so vor uns hin. Irgendwie gerieten wir auf Gedichte. Es zeigte sich, daß die kleine Gerti ihr halbes Schullesebuch auswendig weiß. Ich tat mit; und eine Weile tönte es über die Waschbütte von Mörike, Eichendorff, Lenau und Goethe. Gerti, mit gesenkten Wimpern: »Warte nur, balde - ruhest du auch.« Und, seufzend: »Wär's nur erst soweit.« Die andere Wäscherin schüttelte sich. Sie ist fast zweieinhalbmal so alt wie die kleine Gerti, hat aber nichts mit dem Sterben im Sinn. Ihre ständige Rede ist: »Es geht alles vorüber.«

Müde kam ich gegen 20 Uhr heim. Da stellte es sich heraus, daß »heim« nicht mehr stimmt. Unsere Zufallsfamilie ist geplatzt. Herr Pauli hat der Witwe angesichts des beinah geleerten Kartoffelkorbes den längst fälligen Krach gemacht und gefordert, daß man mich nicht länger hier mitessen und mitwohnen lassen solle. Tja, meine Aktien stehen niedrig, seit Nikolai sich in Luft aufgelöst hat und weit und breit keine neue »Anschlafe« in Sicht ist. Die Witwe würgte und druckste herum, als sie mich im Korridor abfing, um mir die Hiobsbotschaft zu versetzen. Einerseits mag sie mich. Die schlimmen Tage haben uns verbunden. Andererseits kennt sie Herrn Pauli länger als mich, fühlt sich ihm zugehörig, erhofft von ihm für die Zukunft eine gewisse Sicherstellung. Sie mag ihn nicht vergrämen.

Ich: »Gott sei Dank, daß ich weiß, woran ich bin. Mir hat schon seit langem kein Bissen mehr geschmeckt hier. Ich war froh, daß ich die letzte Woche mein Essen bei den Russen hatte.«

Freilich weiß ich noch nicht, wovon ich die nächste Woche leben soll, wenn die Arbeit beim Russen zu Ende geht und ich allein oben in der Dachwohnung vor leeren Schränken sitze, angewiesen auf das bißchen Zuteilung, das wir kriegen sollen, aber immer noch nicht gekriegt haben. Ich packte mein Krämchen, meine paar Löffel und Lumpen, zockelte damit treppauf; schlafe aber noch ein letztes Mal in der Wohnung der Witwe, wo ich jetzt dies schreibe. Waisenkind muß wandern. Das Bitterste im Leben einer alleinstehenden Frau ist, daß sie immer wieder, sooft sie in eine Art von Familienleben gerät, nach einer Weile stört, zuviel ist, dem einen mißfällt, weil sie dem anderen gefällt, und am Ende um des lieben Friedens willen ausgestoßen wird. Nun doch Tränenschmiere auf dieser Schreibseite.

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