Mittwoch, 2. Mai 1945, mit Dienstagrest

Ich hockte den halben Dienstag nachmittag an Herrn Paulis Bett und schrieb nach, was geschehen. Vorsichtshalber habe ich mir die letzten Seiten dieser Schreibkladde als deutsch-russisches Wörterverzeichnis eingerichtet, das ich neugierig dazwischenplatzenden Russen jederzeit vorweisen kann. Tat es einmal bisher und erntete ein schulterklopfendes Lob.

Gegen Abend gab es eine Störung. Jemand trat und schlug gegen die Vordertür. Ich öffnete bei versperrter Kette, sah etwas Weißes und erkannte den Bäcker von Dienstag früh in seiner Kittelmontur. Er wollte herein. Ich wollte nicht, tat so, als sei Anatol drinnen. Da forderte er von mir ein anderes Mädel, irgendeins, eine Adresse, einen Hinweis, wo eines sei - er wolle dem Mädel Mehl dafür geben, viel Mehl, und auch mir Mehl für die Vermittlung. Ich weiß kein Mädel für ihn, will keins wissen. Da wurde er lästig, zwängte seinen Fuß in den Türspalt, riß an der Verschlußkette. Ich drückte ihn mühsam hinaus, knallte zu.

Ja, die Mädel sind allmählich verknappte Ware. Man kennt jetzt die Zeiten und Stunden, in denen die Männer auf die Weibsjagd gehen, sperrt die Mädel ein, steckt sie auf die Hängeböden, packt sie in den gut gesicherten Wohnungen zusammen. An der Pumpe wurde eine Flüsterparole weiterge-geben: Im Luftschutzbunker hat eine Ärztin einen Raum als Seuchenlazarett eingerichtet, mit großen Schildern in Deutsch und Russisch, daß Typhuskranke in dem Raum untergebracht seien. Es sind aber lauter blutjunge Mädels aus den Häusern ringsum, denen die Ärztin mit ihrem Typhustrick die Jungfern-schaft rettet.

Wenig später gab es wiederum Lärm. Diesmal hatten sich zwei, uns bis dato unbekannt, in die leerstehende Neben-wohnung Einlaß verschafft. In etwa zwei Metern Höhe ist die Trennwand zwischen den Wohnungen von einem der letzten Luftangriffe her eingerissen und klafft vier Fäuste breit. An diesen Spalt oben in der Mauer hatten die Kerle drüben sich offenbar einen Tisch herangerückt. Nun riefen sie durch den Riß hindurch, wir sollten ihnen sofort die Tür öffnen, sonst würden sie auf uns schießen. (Daß unsere Hintertür ohnehin offensteht, wußten sie wohl nicht.) Einer der Kerle leuchtete mit seiner Taschenlampe in unseren Flur herein, während der zweite sein Automatengewehr in Anschlag brachte. Aber wir wissen schon, daß sie so rasch nicht schießen, vor allem dann nicht, wenn sie noch so nüchtern und zungenfix sind wie die beiden. Ich ging auf den albernen Ton ein, versuchte auf russisch komisch zu sein. Zwei bartlose Knäblein übrigens, ich redete ihnen gut zu und predigte sogar über den Ukas des großen Stalin. Schließlich entfernten sie sich von ihrem Schieß-stand, polterten noch eine Weile mit den Stiefeln gegen unsere Vordertür und verzogen sich am Ende. Wir atmeten auf. Immerhin ein beruhigendes Gefühl, daß ich notfalls eine Treppe höher laufen und jemand von Anatols Mannen zu Hilfe rufen kann. Wir sind Anatols privater Hirschpark. Das wissen jetzt die meisten.

Der Witwe wurde es dennoch so langsam unheimlich zumute, besonders als auch gegen Abend keiner von unseren Stamm-gästen auftauchte. Sie benutzte einen Augenblick der Ruhe im Treppenhaus und huschte aufwärts, Kontakt mit Hausbe-wohnern zu suchen. Kehrte nach zehn Minuten zurück: »Bitte komm mit zu der Frau Wendt, dort sind so nette Russen, es ist richtig gemütlich.«

Frau Wendt, das ist die alleinstehende Fünfzigerin mit dem eitrigen Ekzem auf der Wange, dieselbe, die seinerzeit ihren Trauring am Schlüpfergummi festgezurrt hatte. Es stellt sich heraus, daß sie mit der übriggebliebenen Haushälterin unseres westwärts geflüchteten Hausbesitzers zusammengezogen ist - eine der Angst- und Notgemeinschaften, wie sie sich überall ringsum bilden. In der kleinen Küche war Mief und Tabakqualm. Im Kerzenschein unterschied ich die beiden Frauen und drei Russen. Vor ihnen auf dem Tisch sah man eine ganze Menge Konserven, die meisten ohne Aufschriften, wohl deutsche Trup-penverpflegung, Russenbeute. Die Witwe bekam gleich von einem der Russen eine Büchse in die Hand gedrückt.

Auf Wunsch der Frauen sprach ich kein Wort Russisch, markierte Lieschen Doof. Von den drei Russen kannte mich keiner. Einer, Serjoscha gerufen, rückte mir auf den Leib, legte mir den Arm um die Hüfte. Worauf ein anderer Russe eingriff und in sanftem Ton sagte: »Bruder, ich bitte dich, laß das sein.« Und Serjoscha rückte ertappt von mir weg. Ich staune. Der gesprochen hat, ist jung und von Gesicht schön. Er hat dunkle, regelmäßige Züge. Seine Augen leuchten. Seine Hände sind weiß und schmal.

Nun sieht er mich ernst an und spricht in ungelenkem Deutsch: »Nicht chaben Angst.«

Die Frau Wendt flüstert uns beiden zu, dieser Russe heiße Stepan, er habe bei einem deutschen Luftangriff auf Kiew die Frau und zwei Kinder verloren - er habe uns jedoch alles verziehen und sei überhaupt wie ein Heiliger.

Nun schiebt der dritte Russe, klein und pockennarbig, mir eine Büchse hin, die er mit seinem Taschenmesser geöffnet hat. Das Messer gibt er mir gleich dazu und bittet mich durch Gesten, zu essen. Es ist Fleisch in der Büchse. Ich spieße mir fette, große Brocken davon in den Mund, ich bin hungrig. Alle drei Russen schauen mir wohlgefällig zu. Die Frau Wendt macht den Küchenschrank auf und zeigt uns ganze Reihen von Konservenbüchsen, alle von den drei Burschen angeschleppt. Es ist wirklich gemütlich hier. Dabei sind die beiden Frauen eher abstoßend; Frau Wendt mit dem Ekzem; und die Ex-Haushälterin ist ein Mausgeschöpf, bebrillt und verkümmert. Da kann einem das Schänden vergehen. Der Himmel mag wissen, warum diese Männer gerade hier Fuß gefaßt haben und so fleißig anschleppen.

Ich könnte noch lange sitzen bleiben. Stepan strahlt ordentlich Schutz aus. Ich staune ihn an wie ein Bild, nenne ihn bei mir, in der Erinnerung an die Brüder Karamasow, Aljoscha. Aber die Witwe wird unruhig, sie sorgt sich um den allein in seinem Bett zurückgebliebenen Herrn Pauli. Obwohl doch unsere Männer, und gar kranke, bettlägrige, bestimmt nichts von den Russen zu befürchten haben. Unvorstellbar, daß einer von diesen Bur-schen hüftschwenkend daherkäme und einem Mannsbild zusäuselte: »Mann, komm.« Die sind hoffnungslos normal.

Serjoscha bringt uns mit der Kerze an die Tür, ist lammfromm und zahm unter Stepans Blick, riskiert erst im Türrahmen ein sachtes Kneifen in meinen Oberarm. Wir traben abwärts, jeder mit einer Fleischbüchse in Händen. Aus unserer Wohnung schallt muntere Musik. Drinnen ist Hochbetrieb. Im Wohnzimmer hockt, durch die allzeit offene Hintertür eingedrungen, fast vollzählig der Haufen von Anatol. Sie haben irgendwo ein Schifferklavier aufgetrieben und spielen abwechselnd darauf. Jeder versucht's, keiner kann's richtig, und das Ergebnis ist danach. Aber sie lachen sehr dabei. Sie wollen feiern, heute ist erster Mai. Wo Anatol steckt, wissen sie nicht, sie sagen, er sei dienstlich unterwegs, er habe vieles zu beschicken.

Wir verziehen uns nach nebenan, an Herrn Paulis Bett - und finden dort Russenbesuch. Der düstere Leutnant an seinem plattengeschmückten Wanderstock und noch einer, den er anscheinend mitgebracht hat und den er uns auf ebenso gewandte wie beiläufige Art vorstellt: -tsch -tsch -tsch Soundso, Major. (Sie haben eine spezielle Art, ihre Vaters- und Familiennamen zu vernuscheln und zu vertuscheln, sind alle bemüht, ihre Identität zu verkleistern, geben nur ihre Allerwelts-vornamen preis sowie die Ränge, die ihnen der Kenner ja ohnehin ansieht.)

Ich starre den Düsterblonden voll Abneigung an und wünsche ihn sonstwohin. Doch er gibt kein Zeichen des Erkennens, tut fremd und formell und ist tadellos höflich. Noch höflicher ist der von ihm mitgebrachte Major. Er springt bei unserem Eintritt auf, verbeugt sich wie in der Tanzstunde, wiederholt vor jedem von uns seinen Gruß. Ein großer, schlanker Typ, brünett, in sauberer Uniform, er schleppt das eine Bein eine Kleinigkeit nach. Nachträglich erst entdecke ich noch einen dritten Neuling im Zimmer. Er saß reglos auf einem Stuhl am Fenster, trat erst auf Anruf des Majors blinzelnd zu uns in das Kerzenlicht. Ein Asiat mit dicken Kinnbacken und verquollenen Schlitzäuglein, uns vorgeführt als des Majors Bursche. Gleich nachher verzog er sich wieder in seinen Fensterwinkel, stellte den Kragen seines grauwollenen Mantels hoch gegen den von draußen hereinpustenden Wind.

Zu viert sitzen wir nun um Paulis Bett, die Witwe, ich, der Major und der Düsterblonde. Das Reden besorgt der Major. Ich muß auf seine Bitte zu Herrn Pauli und der Witwe hin, die er für ein Ehepaar hält, seine zahlreichen, gewählten Höflichkeits-floskeln verdeutschen. Er und ich mustern einander verstohlen. Tastend wechseln wir die Worte. Ich werde nicht klug aus ihm, behalte ihn im Auge. Nun offeriert der Major Zigarren, die er lose in der Jackentasche trägt. Dankend nimmt Pauli zwei Stück davon entgegen, raucht die eine an, wobei er von dem Major Feuer nimmt. Beide qualmen bedächtig. Der Major hält Pauli hin und wieder aufs höflichste den Aschenbecher hin. Plötzlich springt er auf, bittet, ihm doch sagen zu wollen, ob er vielleicht störe - dann werde er gleich diesen Raum verlassen, aber sofort! Und er tut so, als sei er bereits auf dem Sprung dazu. Nein, nein, wir wehren ab, er stört uns nicht. Worauf er wieder Platz nimmt, schweigend weiterqualmt. Der reine Knigge. Wieder ein völlig neues Muster aus der offenbar unerschöpflichen Mustersammlung, die uns die UdSSR da geschickt hat. Übrigens ist er nervös. Seine Hand, welche die Zigarre hält, zittert beträchtlich. Oder hat er Fieber? Denn er hat inzwischen berichtet, daß er am Knie verwundet sei und mit dem anderen, dem düsterblonden Leutnant, zusammen im Krankenhaus verbunden werde. (Im Krankenhaus sitzen sie also auch drin. Möchte wissen, wie man sie dort verstaut hat und wohin man die Unsrigen gepackt hat, die doch vorige Woche noch jedes Bett und jeden Raum füllten.)

Der Gesangverein nebenan hat sich inzwischen mitsamt dem Schifferklavier aus unserer Wohnung verzogen. Es wird still um uns. Ich schiele auf die Armbanduhr des Düsterblonden. Die Zeiger gehen schon auf elf zu. Wir sehen einander an, die Witwe, Herr Pauli und ich, wissen nicht, was wir aus diesen Gästen herauslesen sollen.

Nun gibt der Major dem Asiaten im Fensterwinkel einen Befehl. Und der zerrt aus einer seiner Manteltaschen etwas, das kaum herausgeht: eine veritable Flasche deutschen Markensekt! Er stellt sie in den Lichtkreis der Kerze auf das Tischchen an Paulis Bett. Schon läuft die Witwe nach Trinkgläsern. Wir stoßen an, trinken aus. Dabei geht zwischen dem Major und dem düsterblonden Leutnant ein halblautes Palaver hin und her, das ich offenbar nicht hören soll. Bis der Major sich unvermittelt an mich wendet und mich fragt, so streng wie in der Schule: »Was wissen Sie vom Faschismus?«

»Faschismus ›«. wiederholte ich stotternd.

»Ja, bitte sehr. Erklären Sie uns die Herkunft des Wortes. Nennen Sie das Ursprungsland dieser politischen Richtung.«

Ich überlege krampfhaft, stammle dann was von Italien, Mussolini, alten Römern, fascio gleich Rutenbündel, was ich anhand des plakettenbepflasterten Wanderstocks des Leutnants klarzumachen versuche... Und die ganze Zeit hindurch zittern mir Hände und Knie, weil ich plötzlich zu wissen glaube, was dieser Major vorstellt und was er von mir will: Er will mich politisch prüfen, will feststellen, wie mein Glaubensbekenntnis, meine Vergangenheit ist - um mich dann für irgendwelche russischen Belange einzuspannen, als Dolmetscherin oder Armeehelferin, was weiß ich - und ich sehe mich schon verschleppt und versklavt irgendwo auf den Straßen des Krieges... Oder sind es GPU-Leute, wollen sie mich als Spitzel verwenden? Hundert Entsetzensgedanken, ich fühle, wie meine Hände bleiern herabfallen, bringe die letzten Worte kaum noch heraus...

Ich muß wohl bleich geworden sein, denn die Witwe, die doch kein Wort von unserer Unterhaltung versteht, blickt mich ängst-lich fragend an. Nun höre ich, wie der Major zu dem düsterblon-den Leutnant sagt, und es klingt zufrieden: »Ja, sie hat ein gutes politisches Wissen.« Und er hebt sein Glas und trinkt mir zu.

Ich atme auf, fange mein Herz im Halse ein. Offenbar ist das Examen bereits überstanden und hatte weiter keinen Sinn als den, meine Schulweisheit abzuklopfen. Ich trinke aus und erhalte den letzten Rest aus der Sektflasche eingeschenkt. Der Witwe fallen allmählich die Augen zu. Es wird Zeit, daß die Gäste sich empfehlen.

Plötzlich ein neuer Ton, ein offenes Angebot. Der düster-blonde Leutnant sagt in zwei Sätzen, um was es geht: »Hier ist der Major. Er läßt Sie fragen, Bürgerin, ob er Ihnen angenehm sei.«

Ich falle aus allen Wolken, stiere die beiden Männer dumm an. Der Major ist auf einmal sehr mit seiner Zigarre beschäftigt, sorgsam drückt er den Rest im Aschbecher aus. Er scheint gar nicht gehört zu haben, was in seinem Auftrag der Leutnant fragte. Den Asiaten kann ich im Dunkeln am Fenster nicht erkennen. Stumm hockt er noch da. Sekt hat er nicht abbe-kommen.

Schweigen. Die Witwe sieht mich mit achselzuckender Frage an.

Dann wieder der Leutnant, tonlos, gleichmütig: »Ist der Major Ihnen angenehm? Können Sie ihn lieben?«

Lieben? Verdammtes Wort, ich kann es nicht mehr hören, bin so erschrocken und ernüchtert, daß ich nicht weiß, was sagen, was tun. Immerhin gehört der düsterblonde Leutnant doch zu Anatols Kreis. Er kennt also das Tabu. Ist denn Anatol nicht mehr da? Ist dieser Major vielleicht sein Dienstnachfolger? Denkt er, daß er deshalb auch bei mir die Nachfolge antreten kann? Aber nein, der Major hat ja soeben erzählt, daß er derzeit im Krankenhause wohnt, daß er dort sein Bett hat.

Ich stehe auf und sage: »Nein. Ich verstehe nicht.«

Der Leutnant humpelt an seinem Stock hinter mir her durch das Zimmer, während der Major immer noch scheinbar unbeteiligt an Paulis Bett sitzt und an den bang und ratlos schweigenden beiden Deutschen vorbeischaut.

Halblaut murmele ich zu dem Leutnant hin: »Und Anatol? Was ist mit Anatol?«

»Was, Anatol?« ruft er grob und laut. »Wieso Anatol? Der ist ja längst weit weg. Der ist zum Stab versetzt.«

Anatol weg? So ohne ein Wort? Ob das stimmt? Aber es klingt so sicher, so höhnisch überlegen.

Mir dreht sich der Kopf. Nun erhebt sich auch der Major, verabschiedet sich aufs zeremoniellste von der Witwe und von Pauli, ich höre seine wiederholten Dankesbezeugungen für die gewährte Gastfreundschaft. Pauli und die Witwe haben von der ganzen Kuppelei nicht das geringste begriffen. Ich wage auch nicht, in Gegenwart der Russen mit den beiden Deutschen deutsch zu sprechen. Ich weiß schon, Russen mögen das nicht, vermuten dann gleich Komplott und Verrat.

Mit einer Verbeugung gegen uns alle zieht sich der Major zur Tür zurück. Vom Fenster her kommt der Asiat angewackelt. Ich leuchte allen dreien mit meiner Kerze hinaus. Sehr langsam stapft der Major durch den Flur, sein rechtes Bein leicht nachziehend, doch bemüht, das Hinken zu unterdrücken. Der Leutnant stößt mich mit dem Ellenbogen an, fragt rüde: »Na? Überlegen Sie immer noch?« Dann kurze Diskussion zwischen ihm und dem Major darüber, wo man übernachten solle, ob im Krankenhaus oder -? Und der Leutnant fragt mich, kalt, doch wieder höflich: »Könnten wir vielleicht hier untergebracht werden? Wir alle drei?« Und er weist auf den Major und sich und den halb schlafend dastehenden Asiaten.

Alle drei? Bitte, warum nicht? So haben wir doch einen männlichen Schutz über Nacht, denke ich und führe die drei zu der Kammer hinten neben der Küche. Es steht eine breite Couch darin, mit etlichen Wolldecken darauf. Leutnant und Asiat drängen an mir vorbei in die Kammer. Schon reißt der Leutnant die Kammertür hinter sich zu, ich sehe nur noch, wie er eine Taschenlampe herumflackern läßt.

Ich stehe in der Küche, die Kerze in der Hand. Neben mir steht schweigend der Major. Höflich fragt er mich, wo das Bad sei. Ich weise ihm die Tür, lasse ihm die Kerze. Während ich wartend am Küchenfenster stehe und ins Dunkle hinausblicke, tut sich nochmals die Kammertür auf. Der Düsterblonde, schon in Hemdsärmeln, zischelt mir zu: »Das mit uns - das von gestern - das braucht keiner zu wissen.« Und er verschwindet wieder. Einen Moment überlege ich: »Wieso das mit uns?« Dann fällt mir die letzte Nacht wieder ein, die Hundeliebe, das Spucken vor mein Bett. Ewig lang scheint mir das zurückzuliegen, ist verdrängt, fast vergessen. Alle Zeitbegriffe haben sich mir verwirrt. Ein Tag ist wie eine Woche, reißt einen Abgrund zwischen zwei Nächte. Der Major ist wieder da, tritt mit mir in mein Zimmer. Nun werden Pauli und die Witwe nebenan ja endlich kapiert haben, was hier gespielt wurde. Ich höre durch die Wand ihre gedämpfte Rede. Aus einer seiner Taschen zieht der Major eine neue, große Kerze, er läßt etwas Wachs auf einen Aschbecher tropfen, klebt das Licht fest und stellt es auf das Tischchen zu Seiten meines Bettes. Leise fragt er, und hat dabei die Mütze noch in der Hand: »Darf ich hierbleiben?«

Ich mache mit Händen und Schultern Zeichen der Hilflosig-keit.

Darauf er, mit gesenkten Augen: »Vergessen Sie den Oberleutnant. Er wird schon morgen weit weg sein. Ich habe es gehört.«

»Und Sie?«

»Ich? Oh, ich bleibe noch lange, sehr lange. Mindestens noch eine Woche, und vielleicht sogar länger.« Er weist auf das Bein: »Es steckt ein Splitter darin. Ich werde ärztlich behandelt.«

Nur tut er mir doch leid, wie er da so herumsteht. Ich bitte ihn, Platz zu nehmen, sich zu setzen. Er, verlegen:»Sie werden müde sein. Es ist so spät. Wenn Sie sich niederlegen wollen-?« Und er begibt sich zum Fenster hin, das aus Scherben und Pappe besteht und durch das man jetzt nichts, aber auch gar nichts mehr von der Front hört, und tut, als blicke er hinaus. Im Nu hab ich mich oberflächlich ausgezogen, mir einen alten Morgenrock der Witwe übergeworfen, mich unters Deckbett verkrochen.

Er nähert sich, schiebt sich einen Sessel ans Bett. Was will er? Wieder Konversation machen, den Knigge spielen, siehe Kapitel »Vergewaltigungen von feindlichen Demoisellen?« Nicht doch, er will sich bekannt machen, er kramt allerlei Papiere aus seinen Innentaschen, breitet sie vor mir auf der Steppdecke aus, rückt die Kerze näher heran, daß ich gut sehe. Dies ist der erste Russe, der sich derart mit allen Einzelheiten preisgibt. Ich weiß nun, wie er heißt, wann er geboren ist und wo, weiß sogar, wieviel er besitzt; denn es ist ein Sparkassenbuch von der Stadt Leningrad unter den Papieren, auf dem über 4000 Rubel stehen. Dann sammelt er seinen Papierkram wieder ein. Er spricht ein gewähltes Russisch, was ich, wie immer, daraus erkenne, daß mir ganze Sätze unverständlich bleiben. Er scheint belesen, musikalisch, ist krampfhaft bemüht, sich auch jetzt noch gentlemanlike zu benehmen. Springt unvermittelt auf, fragt nervös: »Bin ich Ihnen unangenehm? Verabscheuen Sie mich? Sagen Sie es offen!«

»Nein, nein.« Nein, keineswegs, du magst schon recht sein, so wie du bist. Nur kann ich mich nicht so schnell in die Lage finden. Ich habe das ekelhafte Gefühl des Von-Hand-zu-Hand-Gehens, fühle mich erniedrigt und beleidigt, zum Sexualobjekt degradiert. Dann wieder die Überlegung: »Und wenn es wahr wäre, daß Anatol entschwunden ist? Wenn mir dieses so mühsam errichtete Tabu, diese Mauer wieder genommen wäre? Wäre es nicht gut, ein neues, vielleicht länger währendes Tabu aufzurichten, eine neue Mauer um mich zu bauen?«

Nun hat der Major sein Koppel abgenommen, seine Jacke abgelegt, immer im Zeitlupentempo und mit Seitenblicken auf mich. Ich sitze, warte, fühle den Schweiß in meinen Hand-flächen, will und will ihm nicht weiterhelfen. Bis er plötzlich sagt: »Bitte, geben Sie mir Ihre Hand.«

Ich starre ihn an. Will er mich frei nach Knigge mit einem Handkuß beglücken? Oder ist er ein Handliniendeuter? Schon nimmt er meine Hand, drückt sie fest mit seinen beiden Händen und sagt, wobei ihm der Mund zittert und die Augen jämmerlich blicken: »Verzeihen Sie mir. Ich habe so lange keine Frau mehr gehabt.«

Das durfte nicht kommen. Schon liege ich mit meinem Gesicht auf seinen Knien und schluchze und heule und heule mir einmal den ganzen Jammer von der Seele. Ich spüre, wie er mein Haar streichelt. Dann Geräusch an der Tür, wir blicken beide hoch. Im Türspalt steht, ihre Kerze in der Hand, die Witwe und fragt angstvoll, was mir denn sei. Der Major und ich winken beide ab, sie sieht wohl auch, daß mir nichts Böses getan wird, ich höre die Tür wieder zuklappen. Hab ihm dann wenig später und im Dunkeln gesagt, wie elend und wund ich bin und daß er sanft sein soll. Er war sanft und wortlos zärtlich, gab bald Ruhe, ließ mich schlafen.

Das war mein Dienstag, erster Mai.

Weiter, der Mittwoch. Zum ersten Mal in diesen Männer-nächten schlief ich mich aus bis in den Tag hinein und fand dann den Major noch an meiner Seite. Offenbar hat er keinen Dienst, kann sich's einteilen. Wir schwätzten mancherlei, ganz freundschaftlich und vernünftig. Unvermittelt gestand er mir, daß er keineswegs ein Kommunist sei - er sei Berufsoffizier, auf der Militärakademie ausgebildet, und hasse die jugendlichen Spitzel aus dem Komsomol. Woraus ich entnahm, daß auch die höheren Offiziere Grund haben, sich vor parteilicher Über-wachung zu fürchten. Ich staune, wie offen er zu mir spricht. Allerdings sind wir ohne Zeugen. Ebenso unvermittelt wollte er wissen, ob ich auch bestimmt gesund sei - »Sie verstehen - ich meine, du verstehst mich.« (Er wirft Du und Sie noch durcheinander.) Worauf ich ihm wahrheitsgemäß erklärte, daß ich niemals mit dergleichen Leiden zu tun gehabt hätte, aber freilich nicht wüßte, ob mir nicht von seiten jener Russen, die mir Gewalt angetan, etwas Derartiges angehängt worden sei. Er schüttelt den Kopf, seufzt: »Ach, diese Hooligane!« (Hooligan, sprich »Chuligan«, russisches, vielgebrauchtes Fremdwort zur Bezeichnung von Lumpen, Strolchen, Lümmeln.)

Er stand auf, zog sich an, rief im Gang nach dem Asiaten. Der kam sogleich angewackelt, noch auf Socken, seine Schuhe in der Hand. Der Leutnant blieb unsichtbar, hatte sich wohl schon empfohlen. Nebenan hörte ich die Witwe rumoren.

Draußen fröstelte der Maimorgen. Ketten klirren, Pferde wiehern, längst hat der Hahn gekräht. Doch keine Kartjuscha, kein Schuß, nichts. Mit schöner Stimme singt der Major, im Zimmer umherhumpelnd und sein Bein bewegend, allerlei Lieder, so das zauberhafte »Bleib, verweile doch, du Schöne mein.« Hockt sich dann auf die Bettkante, spielt auf einer kleinen Mundharmonika, die er aus der Tasche zog, einen Marsch - so feurig, so geschickt, daß man staunen muß. Unterdes hilft der Asiat - er sagt auf meine Frage, daß er aus Usbekistan stammt - seinem Herrn sanft in die weichen Lederstiefel, bemüht, das kranke Bein zu schonen. Dabei himmelt er den musizierenden Major an und seufzt in fremd klingendem Russisch: »Ech, wie ist das so schön!«

Später, als beide gegangen waren, hörte die Witwe im Treppenhaus, daß gegen vier Uhr die Kapitulation von Berlin unterzeichnet worden sei - jemand hatte es mit dem Detektor gehört. »Frieden«, so glaubten wir und freuten uns. Bis wir nachher erfuhren, daß in Nord und Süd der Krieg weitergeht.

Mittwoch, die Stunden schleichen dahin. Immer wieder werde ich beim Schreiben unterbrochen. Doch nun stört sich schon keiner mehr an meinem Gekritzel. Allenfalls sagt mal einer: »So ist's recht. Lernt ihr nur fleißig Russisch.«

Immerzu Russen, Schnaps, Küchenarbeit, Wasserschleppen. Irgendwo soll noch ein Holzbalken liegen, schnell hin, sonst schleppt ihn ein anderer ab. Zwei von Anatols Männern kamen aus der verlassenen Wohnung gelaufen, die sie die letzten Tage innehatten - Matratzen und Deckbetten überm Arm. Wohin sie wohl ziehen mögen? Von Anatol selbst keine Spur. Offenbar hat der Leutnant nicht gelogen. Übrigens hat mir der Major beim Abschied versprochen, daß er gut für mich sorgen, mir zu essen bringen werde. Das soll mir recht sein. Es ärgert mich schon seit Tagen, daß ich von dem Butterklumpen, den Herr Pauli vom Volkssturm mitgebracht hat, mitzehren muß. Das ist jetzt ein anderes Leben als droben in meiner kahlgefressenen, hungrigen Dachwohnung. Zuerst die letzten deutschen Zuteilungen. Dann mein Geraubtes, die Plünder-beute aus der Schupo-Kaserne, die Kartoffeln aus der Baracke. Auch hatte die Witwe noch kleine Vorräte an Kartoffeln, Hülsenfrüchten, Speck. Und was hat Anatol mitsamt seinem Haufen alles bei uns interlassen an Brot, Heringen, Speckkanten, Büchsenfleisch! (Nur vom Alkohol blieb nie was übrig.) Dazu die beiden Fleischbüchsen aus den weißen Händen von Stepan-Aljoscha! Davon läßt es sich leben. Eigentlich habe ich seit Jahren nicht so fett gegessen, war seit Monaten nicht mehr so satt nach den Mahlzeiten. Es kann ja nicht so bleiben. Einstweilen jedoch stopfe ich mich voll, fülle mich mit Kräften auf.

Draußen Kälte und verhangener Himmel. An der Pumpe stand ich heut lange im dünnen Regen. Ringsum in den zertrampelten Gärten brennen Feuerchen, ertönt Männer-gesang zum Schifferklavier. Vor mir steht eine Frau in Männerschuhen, einen Schal um den Kopf und um das halbe Gesicht gewickelt, mit dickverweinten Augen. Ringsum Stille, zum ersten Mal, seit ich nach Wasser anstehe. Die Kartjuschas schweigen. Noch schwelt der Himmel gelb. Die Nacht zum Mittwoch war voll Brand. Doch kein Schuß mehr in Berlin, Ruhe. Wir stehen so da, der Regen pladdert, wir sprechen nur wenig und leise. Die Pumpe knarrt, der Schwengel quietscht, Russen füllen einen Kanister nach dem anderen. Wir warten. Die Jammergestalt vor mir berichtet monoton, nein, sie sei bisher nicht vergewaltigt worden, sie habe sich mit ein paar anderen Hausbewohnern im Keller einsperren können. Nun sei jedoch ihr Mann zurückgekehrt, von der Truppe, man verstehe wohl schon... Und nun müsse sie sich um ihn kümmern, ihn verstecken, für ihn Speise und Trank heranschaffen, da könne sie auf sich selber keine Rücksicht mehr nehmen. Derweil zetert hinter mir eine ungekämmte Type: »Meine gute Couch, königsblauer Samt, ich hatte zwei passende Sessel dazu, die haben sie mir kaputtgehauen und verheizt!« Und schließlich weiß ein Mann, ein dürrer Knochen mit einem Gesicht so klein wie eine Faust, eine Geschichte zu berichten: In seinem Haus halte eine Familie die junge Tochter flach unter der Chaise-longue versteckt - die Decke sei bis zum Boden herabgezogen, und es hätten schon Russen daraufgesessen, ohne zu ahnen, daß dies Mädel darunterlag... Ob's wahr ist oder erfunden, ich weiß es nicht. Möglich wäre es schon. Wir leben in Kitschromanen und Kolportage.

Ich kann mich nicht verstecken, obwohl ich ein verborgenes Schlupfloch im Dachgeschoß weiß. Hab ja keinen Menschen, der mir dorthinauf Wasser und Nahrung brächte. Als ich neun Jahre alt war und auf Ferienbesuch im Haus der Großeltern, hab ich mich eines Sonntagnachmittags mit meiner Kusine Klara auf dem Dachboden versteckt. Wir krochen in einen Winkel unter den sonnenwarmen Strohpuppen des Dachge-bälks und tuschelten über das Kinderkriegen. Klara, jünger als ich, doch wissender, flüsterte von großen Messern, mit denen die Frauen aufgeschnitten würden, damit die Kinder ans Licht kämen. Ich spüre noch, wie es mir vor Grausen den Hals zuzog. Bis unten an der Treppe Großmutters behäbige Stimme uns zum Vespern rief. Erlöst stolperte ich treppab und atmete auf, als ich die Großmutter in ihrer Satinschürze sah, unaufgeschnitten, breit und rund, die Nickelbrille vom auf der Nase. Es roch nach Kaffee und Apfelkuchen, und bestimmt war der Kuchen mit Puderzucker bestreut, obwohl ein Pfund davon damals mehrere Millionen Papiermark kostete. Überm Kauen vergaß ich Klaras Messer und meine Angst. Aber ich meine heute, daß die Kinder recht haben in ihrer Angst vor dem Geschlechtlichen. Es sind viele scharfe Messer darin.

Die Russen um die Pumpe herum musterten uns Wasser-holerinnen immer nur flüchtig. Die haben schon kapiert, daß aus den Häusern in erster Linie die Krummen und Alten zur Pumpe geschickt werden. Ich runzle dort auch meine Stirn, ziehe die Mundwinkel abwärts, kneife die Augen zusammen, um recht alt und mies zu erscheinen.

Anfangs, als ich noch nicht so bekannt war wie ein bunter Hund, haben unsere russischen Gäste mich oft nach meinem Alter gefragt. Sagte ich dann, ich sei bereits vor einiger Zeit dreißig geworden, so gab es ein Gegrinse und die Antwort: »Hehe, die macht sich älter, die Schlaue.« Meinem Ausweis, den ich nun zückte, mußten sie freilich glauben. Die kennen sich mit uns nicht aus, sie sind ihre viel gebärenden, früh verbrauchten Russinnen gewöhnt, lesen uns die Jahre nicht vom Körper ab - so elend und kümmerlich die meisten von uns auch jetzt im Vergleich zu Friedenszeiten wirken mögen.

Ein rotbackiger Russe spazierte, auf einem Akkordeon spielend, an unserer Reihe entlang. Er rief uns zu: »Gitler kaputt, Goebbels kaputt. Stalin gutt.« Er lacht, kräht einen Mutterfluch, schlägt einem Kameraden auf die Schulter und ruft auf russisch, obwohl man das in der Pumpenschlange gar nicht versteht: »Den seht euch an! Das ist ein russischer Soldat. Der ist von Moskau nach Berlin gezogen!« Sie platzen aus allen Knopflöchern vor Siegerstolz. Offenbar staunen sie selber darüber, daß sie es so weit gebracht haben. Wir schlucken alles, stehen und warten.

Ich kam heim mit zwei Eimern voll Wasser. Drinnen in der Wohnung neuer Wirbel. Zwei Soldaten, Fremde, rennen durch unsere Zimmer, suchen nach einer Nähmaschine. Ich führe unsere »Singer« in der Küche vor. Seit Petka, der bürsten-köpfige Romeo, damit Fangball gespielt hat, sieht sie ziemlich verbogen aus. Wozu brauchen die beiden denn eine Nähma-schine?

Es stellt sich heraus, daß sie eine Sendung nach Rußland in leinene Hüllen eingenäht haben wollen. Was natürlich von Hand zu bewerkstelligen wäre. Mit viel Beredsamkeit, deren Hauptfigur die Wiederholung war, überzeugte ich die Knaben davon, daß für ihre Wünsche die Technik noch nicht weit genug fortgeschritten, daß hier Großmutters schlichte Handarbeit am Platze sei.

Schließlich nicken sie mit ihren runden Köpfen, willigen ein. Als Lohn winkt ein ganzes Brot. Die Witwe überlegt und beschließt, den fürstlichen Auftrag der Buchhändlerin zuzu-schanzen, die nähgewandt und brotbedürftig ist. Sie eilt, die Frau aus ihrer dreifach gesicherten Wohnung herauszuklopfen.

Nach einer Weile kommt sie wirklich herein, mißtrauisch, zögernd, doch sogleich gierig nach dem Brote schielend. Seit Tagen, so sagt sie, hat sie keinen Bissen Brot mehr gegessen. Sie lebt mit ihrem Mann von Graupen und Bohnen. Nun stellt sie sich ans Küchenfenster und stichelt sorgsam die weißen Leinenlappen um das Konvolut. Der Inhalt bleibt uns verborgen. Es faßt sich weich an, ich vermute, daß Kleidungsstücke darin sind.

Ich versuche mir vorzustellen, wie den Russen angesichts all des schutzlos und herrenlos herumliegenden Gutes zumute sein muß. In jedem Haus gibt es verlassene Wohnungen, die ihnen völlig preisgegeben sind. Jeder Keller mit allem darin verstauten Kram steht ihnen offen. Nichts in dieser Stadt, was ihnen, wenn sie wollen, nicht gehörte. Es ist einfach zuviel. Sie übersehen die Fülle nicht mehr, greifen lässig nach blinkenden Dingen, verlieren oder verschenken sie wieder, schleppen manches Stück ab, das sie nachher als zu lästig wieder von sich werfen. Zum ersten Mal sah ich hier Knaben, die ein solch ordentliches Postpaket aus ihrer Beute formten. Gewöhnlich sind sie ungeschickt im Verwerten, haben keine Ahnung von Qualität und Preis, schnappen sich das Erstbeste, das ihnen in die Augen sticht. Woher soll es auch kommen? Die haben ihr Leben lang Zugeteiltes auf ihrem Körper getragen, wissen nicht zu sichten und zu wählen, ahnen nicht, was gut und teuer ist. Wenn sie zum Beispiel Bettzeug klauen, so nur, um sich gleich draufzulegen. Ob Eiderdaunen oder Reißwolle, sie sehen keinen Unterschied. Und über jeder anderen Plünderbeute steht ihnen der Schnaps.

Die Buchhändlerin teilt uns, während sie an der Leinwand stichelt, von ihren Neuigkeiten aus. Ja, Stinchen, die Achtzehn-jährige, wird von ihrer Mutter immer noch auf dem Hängeboden gehalten, bleibt neuerdings auch tagsüber dort, seit einmal mit den Wasserholern sich zwei Russen in die Wohnung gedrängt, mit Revolvern herumgefuchtelt und ein Loch in das Linoleum des Fußbodens geschossen haben. Sie sieht käsig aus, die Kleine. Kein Wunder. Dafür ist sie noch heil. Die Buchhändlerin weiß von neuen Hausbewohnern zu berichten, zwei jungen Schwestern, die eine ist Kriegerwitwe, hat einen dreijährigen Jungen. Sie sind in eine der leerstehenden Wohnungen eingerückt und feiern drinnen mit Soldaten, mal am Tag, mal in der Nacht; es soll sehr lustig bei ihnen zugehen. Weiter erfahren wir, daß eine Frau im Hause gegenüber aus dem dritten Stock auf die Straße gesprungen ist, als Iwans hinter ihr her waren. Auf dem Rasenplatz vor dem Kino ist sie begraben worden. Es sollen noch mehr Menschen dort liegen. Ich weiß es nicht, mein Pumpenweg führt in anderer Richtung. Und sonst macht man ja jetzt draußen keine Wege.

So stichelt die Buchhändlerin und murmelt, was sie weiß. Die Fama. Bei dem Wort hab ich mir stets eine verhüllte, murmeln- de Frauengestalt vorgestellt. Das Gerücht. Wir nähren uns davon. In Urzeiten haben die Menschen alle Meldungen und Begebenheiten von dieser Fama bezogen. Man kann sich das Weltbild früher Kulturen gar nicht nebelhaft und schwankend genug vorstellen. Spukhaft, ein Alpdruck, ein Gewoge von gemurmelten Greueln und Ängsten, von Böswilligkeiten und Götterneid. Manchmal in diesen Tagen hab ich das Gefühl, daß

überhaupt nichts mehr stimmt - daß Adolf vielleicht längst per U-Boot bei Franco gelandet ist und auf einem Schloß in Spanien sitzt und für Truman Pläne entwirft, wie der die Russen heimschicken könnte. Zutiefst jedoch immer das Gefühl unserer Niederlage, unseres Preisgegebenseins.

Die beiden Russen kreuzten wieder auf, nahmen zufrieden den zugenähten Packen in Empfang, gaben der Frau das frische Brot. Ich unterhielt mich mit den beiden. Es stellte sich heraus, daß beide keine Russen im Sinne des Volkstums sind: Volksdeutscher aus dem Kubangebiet der eine, der andere ein Pole aus Lemberg. Der Volksdeutsche heißt Adams, seine Vorfahren sind vor 200 Jahren aus der Pfalz ausgewandert. Er bringt einige deutsche Worte hervor, in Pfälzer Mundart, zum Beispiel: »Es hot gebrennt.« Der polnische Paketknabe ist bildhübsch, schwarzhaarig und blauäugig, lebhaft und flink. Im Nu zerklopft er uns eine Kiste zu Kleinholz. Er wechselt mit der Witwe, die als Kind bei Verwandten auf einem ostpreußischen Gut etwas Schnitterpolnisch aufgeschnappt hat, polnische Phrasen. Mir bietet er an, daß er mit mir Wasser holen gehen wolle.

Ich nahm an, wenn auch zögernd. Beim ersten Wasserholen hatte ich unten neben der Haustür einen Anschlag in Deutsch und Russisch entdeckt, der besagte, daß die Russen von sofort an keine deutschen Wohnungen mehr betreten dürften und sich nicht mit deutschen Zivilisten abzugeben hätten.

Wir gehen los, mich freut's, auf diese Art mindestens eine Ansteh-Stunde zu sparen: denn wenn ein Russe für mich pumpt, habe ich den Vortritt. Draußen ruft gleich ein Offizier hinter meinem Polen her: »He, du! Was gehst du mit der Deutschen!« Der Pole blinzelt mir zu, bleibt zurück und trifft mich wieder an der Pumpe, wo er sich vorweg bedient. Währenddes treffen mich aus der Schlange Blicke, in denen ich Bitterkeit und Verachtung lese. Aber keiner spricht.

Der Pole ist jähzornig. Wegen nichts fängt er unterwegs mit einem Soldaten Streit an, haut um sich, schnaubt und brüllt. Er beruhigt sich mit einem Ruck wieder, holt mich ein und erklärt mir, wobei er auf seinen Hinterkopf deutet, daß er seit einem bei Stalingrad erhaltenen Kopfschuß immer so heftig und wild sei und oft selber nicht wisse, was er in seinem Zorn tue - früher sei er nicht so gewesen. Ich sehe ihn ängstlich an, beeile mich mit meinen beiden Eimern. Wirklich trägt der Pole die dicke, kupferne Stalingradmedaille am bunten, mit Zellophan umwundenen Band. Ich war froh, als er sich vor unserer Haustür verkrümelte. Mit dem Nichtbetreten der deutschen Wohnungen wird es aber noch Weile haben, solange ein ganzer Teil der verlassenen Wohnungen, kreuz und quer zwischen unseren Behausungen gelegen, ihnen offiziell als Truppen-Unterkunft dient.

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