Freitag, 18. Mai 1945

Früh auf, Wasser geholt, Holz gesucht. Allmählich kriege ich die richtigen Holzaugen, mir entgeht so leicht kein Scheit. Ich entdecke immer neue, noch nicht abgesuchte Plätze in Kellern, Ruinen, verlassenen Baracken. Zu Mittag brachte Fräulein Behn uns die neuen Karten. Die Witwe, Pauli und ich gehören einstweilen zur fünften, niedrigsten Kategorie der »sonstigen Bevölkerung«. Ich notiere anhand meiner Karte die Mengen für einen Tag: 300 Gramm Brot, 400 Gramm Kartoffeln, 20 Gramm Fleisch, 7 Gramm Fett, 30 Gramm Nährmittel, womit sie Gries, Graupen, Haferflocken usw. meinen, 15 Gramm Zucker. Dazu pro Monat 100 Gramm Kaffee-Ersatz, 400 Gramm Salz, 20 Gramm echten Tee und 25 Gramm Bohnenkaffee. Zum Vergleich einige Zahlen der Karte für Schwerarbeiter von Gruppe I, in die auch »namhafte Künstler« und Techniker, Betriebsleiter, Pfarrer, Schuldirektoren, Seuchenärzte und Seuchen-Schwestern eingereiht sind: 600 Gramm Brot am Tag, 100 Gramm Fleisch, 30 Gramm Fett und 60 Gramm Nährmittel; und im Monat 100 Gramm Bohnenkaffee. Dazwischen liegen die Karten II für Arbeiter und III für Angestellte, mit 500 und 400 Gramm Brot am Tag. Bloß die Kartoffeln werden demokratisch gleich auf alle Mägen verteilt. Für Kopfarbeiter zweiter Garnitur ist Karte II vorgesehen; vielleicht kann ich da hineinschlüpfen.

Im Volk ist Beruhigung spürbar. Jeder sitzt da und studiert seine Karte. Es wird wieder regiert, es wird von oben für uns gesorgt. Ich wundere mich darüber, daß wir überhaupt so viel erhalten sollen, und bezweifle die Möglichkeit pünktlicher Zuteilungen. Die Witwe freut sich auf den Bohnenkaffee, verspricht, Stalin bei der ersten Tasse hochleben zu lassen.

Am Nachmittag spazierte ich mit der Hamburgerin und ihrer Tochter Stinchen zum Rathaus. Stinchens wegen hatte mich die Hamburgerin darum gebeten. Es scheint, daß Stinchen Jungmädelführerin oder etwas Ähnliches war, wofür sie Re-pressalien befürchtet, denen ich notfalls mit russischem Palaver entgegentreten soll. Die Witwe schloß sich uns an.

Unterwegs auf der Straße zum Rathaus wieder Getriebe und Gewimmel. Sogar ziemlich viele Männer darunter; doch immer noch spürbarer Frauenüberschuß im Freien. Ich sah sogar eine Frau mit Hut - die erste seit langem.

Vor einigen Bankfilialen, die ich neulich mit dem Oberleutnant inspiziert hatte, waren Posten aufgestellt: zwei Russen mit erhobener Knarre. Auf eventuelle Bankkunden wirken sie ent-schieden abschreckend.

Das Rathaus wieder ein Bienenkorb. Wir standen im stock-finsteren Gang und warteten. Um uns ging im Dunklen das Gerede. Thema: Verschütt.

Ja, das interessiert uns alle, soweit sie uns zu fassen beka-men.

»Jede zweite Frau soll verschütt gegangen sein«, behauptet eine Stimme.

Darauf eine andere, schrill: »Wenn schon. Das macht einem doch jeder weg.«

»Stalin soll ja angeordnet haben, daß die mit einem Russen-kind Karte Eins kriegen«, meinte eine dritte.

Darob allgemeines Gelächter: »Möchten Sie dafür-?«

»Nee, lieber tät' ich mir sonstwas an.« Die Witwe stieß mich im Dunkeln an, wollte meinen Blick erhaschen. Ich mochte nicht. Mag nicht daran denken. Nächste Woche um diese Zeit weiß ich es besser.

»Waren Sie schon im Krankenhaus?« so ging dann in der Frauenschlange die Frage.

»Nein, wieso?«

»Da haben sie doch jetzt eine Untersuchungsstation für vergewaltigte Frauen eingerichtet. Da müssen alle hin. Von wegen der Geschlechtskrankheiten.«

Wieder stieß die Witwe mich an. Ich weiß noch nicht, fühle mich sauber, möchte es abwarten.

Natürlich ging mit Stinchen alles glatt, kein Mensch fragte sie nach ihrer ruhmreichen Vergangenheit. Auch ein Witz, daß schon die Unmündigen für Dinge bestraft werden sollen, an denen sie unter dem Kopfnicken sämtlicher Eltern, Lehrer und Führer teilnahmen. Wenn unsere Vorfahren, wie ich es aus Quellen weiß, kindliche Hexen verbrannt haben, so doch immerhin deshalb, weil sie diese Hexenkinder für Wohnsitz und Sprachrohr sehr ausgewachsener Teufel hielten. Schwer, den Punkt herauszufinden, wo Zurechnung im abendländischen Sinne beginnt.

Auf dem Heimweg kam eine Frau aus dem Haus nebenan mit. Sie erzählte uns, wie ihre Flurnachbarin, nachdem sie mehrfach mit dem gleichen Russen gesoffen und geschlafen hatte, von ihrem eigenen Mann hinterrücks am Küchenherd mit einer Pistole erschossen worden sei - worauf sich der Mörder, ein wegen seines Herzleidens von der Wehrmacht heimge-schickter Beamter, selber eine Kugel in den Mund schoß. Zurück blieb das einzige Kind der beiden, ein Mädchen von sieben Jahren. »Ich hab sie schon die ganzen Tage bei meinem Jungen gehabt«, erklärte die Frau. »Ich will sie auch gern behalten. Meinem Mann wird es schon recht sein, wenn er wiederkommt. Der hat sich immer noch ein Mädel gewünscht.« Die Eltern hat man in Wolldecken gewickelt und hastig im Hof des Hauses begraben. Die Pistole wurde mit verbuddelt. »Gut, daß kein Russe im Haus war«, meint die Frau. Bestimmt hätte es wegen verbotenen Waffenbesitzes Zunder gegeben.

Eine Weile standen wir vor den Gräbern auf dem Rasen-rondell. Die Hamburgerin meinte, alles habe so kommen müssen, wie es gekommen sei - wäre Hitler am 20. Juli 1944 schon abserviert worden, so wäre ihm bestimmt ein Rest von seinem Nimbus verblieben. Viele hätten weiter an den Toten geglaubt. Ob er wirklich jetzt tot ist? Oder ausgeflogen? Oder im U-Boot entwischt? Es gehen Gerüchte aller Art, doch niemand hört groß hin.

Am Abend kam die Grindige zu uns und brachte uns eine traurige Geschichte: Heute ist sie zum Lützowplatz marschiert, um ihren Chef aufzusuchen, einen Rechtsanwalt, für den sie seit Jahren die Schriftsätze schrieb. Dieser Anwalt hatte, da jüdisch verheiratet und nicht gewillt, sich scheiden zu lassen, im Dritten Reich viel auszustehen gehabt, besonders in den letzten Jahren, wo er kaum noch sein Brot fand. Seit Monaten hatte sich das Ehepaar auf die Befreiung Berlins gefreut, hatte nächtelang am Radio gehockt und die fremden Sender abgehört. Als dann die ersten Russen in den Keller drangen und Frauen wollten, gab es Gerangel und Schießerei. Ein Quer- schläger prallte von der Mauer ab und traf den Anwalt in die Hüfte. Seine Frau warf sich den Russen entgegen, flehte auf deutsch um Hilfe. Worauf man sie hinaus auf den Gang schleppte, drei Kerle über ihr, während sie immerfort heulte und schrie: »Ich bin Jüdin, ich bin doch Jüdin.« Inzwischen verblutete der Mann. Man hat ihn im Vorgarten begraben. Die Frau ist seitdem auf und davon, keiner weiß, wohin. Mich überläuft es kalt, da ich dies hinschreibe. Dergleichen kann nicht erdacht, nicht erfunden werden, es ist äußerste Grau-samkeit des Lebens, blindwütiger Zufall. Die Grindige weinte, ihre Tränen verfingen sich in den Krusten. Sie sagte: »Wär' es nur schon vorbei, das arme bißchen Leben.

Загрузка...