Freitag, 27. April 1945, Tag der Katastrophe, wilder Wirbel - notiert Samstag vormittag

Es begann mit Stille. Allzu stille Nacht. Gegen Mitternacht meldete Fräulein Behn, daß der Feind bis an die Schreber-gärten vorgedrungen sei und die deutsche Linie bereits vor uns liege.

Ich konnte lange nicht einschlafen, probierte in Gedanken mein Russisch aus, übte Redensarten, von denen ich annahm, daß ich sie nun verwenden könnte. Heute hab ich zum ersten Mal dem Kellervolk kurz gesagt, daß ich etwas Russisch kann; daß unter dem von mir in jungen Jahren abgegrasten Länderdutzend sich auch das europäische Rußland befand.

Mein Russisch ist simpel, ist reine Gebrauchssprache, unterwegs aufgepickt. Immerhin kann ich zählen, kann ein Datum benennen und die Buchstaben lesen. Es wird mir rasch wiederkehren, nun, da Übung winkt. Sprachen sind mir immer angeflogen. Russisch zählend schlief ich schließlich ein.

Ich schlief bis gegen 5 Uhr früh. Hörte dann im Vorraum jemand herumgeistern. Es war die Buchhändlerin, sie kam von draußen, faßte mich bei der Hand, flüsterte: »Sie sind da.«

»Wer? Die Russen?« Ich bekam kaum die Augen auf. »Ja. Soeben sind sie bei Meyer (dem Spirituosenladen) durchs Fenster eingestiegen.«

Ich zog mich fertig an, kämmte mich, während drinnen im Luftschutzraum die Frau ihre Neuigkeit kundtat. In ein paar Minuten war der ganze Keller auf den Beinen.

Ich tappte über die Hintertreppe aufwärts in den ersten Stock, wollte unsere paar Lebensmittel verstecken, soweit sie noch nicht versteckt waren. Ich horchte an der zersplitterten, nicht mehr verschließbaren Hintertür. Alles still, die Küche leer. In der Kniebeuge kroch ich zum Fenster hin. Die morgenhelle Straße lag unter Beschuß, man hörte das Klatschen und Pfeifen der Kugeln.

Um die Ecke biegt russische Vierlingsflak - vier eiserne Giraffen; drohende, turmhohe Hälse. Zwei Männer stapfen die Straße hinauf: breite Rücken, Lederjacken, hohe Lederstiefel. Autos rollen heran, halten am Bordstein. Geschütze rasseln im frühen Tagesschein durch die Straße. Das Pflaster dröhnt. Durch die zerbrochenen Scheiben weht Benzinduft in die Küche.

Ich ging wieder in den Keller zurück. Wir frühstückten wie unter einem Alpdruck. Trotzdem verzehrte ich zum Staunen der Witwe zahlreiche Brotschnitten. Mir kribbelte es im Magen. Es erinnerte mich an das Schulmädel-Gefühl vor einer Mathematik-Arbeit - Unbehagen und Unruhe, und der Wunsch, daß doch schon alles vorüber wäre.

Nachher stiegen wir zusammen aufwärts, die Witwe und ich. In ihrer Wohnung staubten wir ab, wischten, fegten und schrubbten mit unserem vorletzten Wasser. Der Teufel weiß, warum wir uns so plagten. Wahrscheinlich, um die Glieder zu rühren oder um wieder mal vor dem Künftigen ins handfeste Gegenwärtige zu fliehen.

Zwischendurch krochen wir immer wieder ans Fenster. Draußen fuhr ein endloser Troß auf. Pralle Stuten, Fohlen zwischen den Beinen. Eine Kuh, die dumpf nach dem Melker muhte. Schon schlagen sie in der Garage gegenüber ihre Feldküche auf. Zum ersten Mal erkennen wir Typen, Gesichter: pralle Breitschädel, kurzgeschoren, wohlgenährt, unbekümmert. Nirgendwo ein Zivilist. Noch sind die Russen auf den Straßen ganz unter sich. Doch unter allen Häusern flüstert es und bebt. Wer das jemals darstellen könnte, diese angstvoll verborgene Unterwelt der großen Stadt. Das verkrochene Leben in der Tiefe, aufgespalten in kleinste Zellen, die nichts mehr vonein-ander wissen.

Draußen Blauhimmel, wolkenloses Leuchten.

Über Mittag - die Hamburgerin und ich holten eben den zweiten Kessel voll Graupensuppe, die für das ganze Kellervolk in der Backstube beim Bäcker gekocht worden war - fand der erste Feind den Weg in unseren Keller. Ein Bauerntyp mit roten Backen, seine Augen zwinkerten, als er beim Schein der Petroleumlampe das Kellervolk musterte. Zögernd trat er ein, zwei Schritte auf uns zu.

Herzklopfen. Ängstliche halten ihm ihren gefüllten Suppen-teller hin. Er schüttelt den Kopf und lächelt, immer noch stumm.

Da sagte ich meine ersten russischen Worte, krächzte sie, da plötzlich heiser: »Schto wiy shelaitje?« (Was wünschen Sie?)

Der Mann fährt herum, starrt mich verblüfft an. Ich merke, daß ich ihm unheimlich bin. Es scheint ihm noch nicht passiert zu sein, daß eine »Stumme« ihn in seiner Sprache anredet. Denn »Njemze«, soviel wie »die Stummen«, nennt der Russe in seiner Alltagssprache die Deutschen. Vermutlich bereits seit den Zeiten der deutschen Hanse, vor 500 Jahren, als die stumm in Zeichensprache mit ihnen handelnden Kaufleute in Nowgorod und anderswo Tuche und Spitzen gegen Pelze und Wachs eintauschten.

Dieser Russe jedenfalls sagt nichts auf meine Frage; er schüttelt bloß den Kopf. Ich frage weiter, ob er vielleicht etwas zu essen haben will. Da grinst er ein wenig und sagt auf deutsch: »Schnaaps.«

Schnaps? Allgemeines bedauerndes Kopfschütteln. Hier unten gibt es keinen Alkohol. Wer noch etwas hat, der hat es gut versteckt. Der Iwan trollt sich wieder, sucht sich den Rück-weg durch das Labyrinth der Gänge und Höfe. Auf unserer Straße munterer Soldatenbetrieb. Zusammen mit zwei, drei anderen Frauen wage ich mich vor, schaue dem Trubel zu. In unserem Torweg putzt ein junger Kerl ein Motorrad, eine fast neue deutsche Zündappmaschine. Er hält mir den Lappen hin, fordert mich mit Gesten auf weiterzu-putzen. Als ich ihm auf russisch sage, daß ich dazu keine Lust habe, und sogar dazu lache, blickt er mich überrascht an und lacht dann zurück.

Auf dem Fahrweg radeln etliche Russen auf frisch geklauten Rädern. Sie bringen sich gegenseitig das Fahren bei, sitzen so steif auf dem Sattel wie die radfahrende Schimpansin Susi im Zoo, prallen gegen die Bäume und krähen vergnügt.

Ich spüre, wie einige Ängste von mir weichen. Denn schließlich sind ja auch Russen »bloß Männer«, denen man auf irgendeine weibliche Art, mit Listen und Kniffen, beikommen könnte; die man hinhalten, ablenken, abwimmeln kann.

Überall auf den Bürgersteigen Pferde, sie misten und strahlen. Kräftiger Stallduft. Zwei Soldaten wollen von mir wissen, wo die nächste Pumpe sei - die Pferde seien durstig. Zusammen stapfen wir die Viertelstunde weit durch die Gärten. Freundlicher Ton, gutmütige Gesichter. Zum ersten Mal hörte ich die Fragen, die später immer wiederkehrten: »Haben Sie einen Mann?« Wenn man ja sagt, wird weitergefragt, wo er sei. Wenn nein, folgt die Frage, ob man nicht einen Russen »heiraten« wolle. Woran sich plumpes Geschäker schließt.

Anfangs duzten mich die beiden. Ich wies das zurück, sagte, daß ich meinerseits sie ja auch nicht duze. Wir gingen den öden grünen Weg entlang. Über uns flogen im Bogen die Geschosse der Artillerie. Die deutsche Linie liegt zehn Minuten vor uns. Keine deutschen Flugzeuge mehr sichtbar, kaum hört man noch deutsche Flak. Kein Leitungswasser mehr, kein Strom, kein Gas, gar nichts. Bloß Iwans.

Zurück mit den Wassereimern. Die Pferde trinken. Froh sehen die beiden Troßmänner ihnen zu. Ich schlendere so herum, schwatze mit diesem und jenem Russen. Der Mittag geht vorüber, nun brennt die Sonne fast sommerlich heiß. Ich spüre ein fremdes, schwer faßliches Etwas in der Luft, bös und bedrohlich. Manche Kerls blicken so scheu an mir vorbei, tauschen Blicke. Einer, ein junger Mensch, klein und gelb, mit einer Alkoholfahne, verwickelt mich in ein Gespräch, will mich abseits in den Hof locken, weist auf zwei Uhren an seinem haarigen Unterarm, von denen er mir die eine schenken will, wenn ich mit ihm Ich weiche in den Kellergang zurück, drücke mich über den Innenhof, meine schon, ich hätte ihn abgeschüttelt, da steht er plötzlich neben mir und schlüpft mit in unseren Keller. Er taumelt von Balken zu Balken, leuchtet mit einer Stablampe die Kellergesichter ab, wohl vierzig an der Zahl, läßt den Lichtkegel zuckend auf Frauengesichtern verweilen.

Der Keller gefriert. All die Menschen sind wie erstarrt. Keiner rührt sich, keiner spricht. Man hört gepreßte Atemzüge. Nun macht der Lichtkegel bei der Achtzehnjährigen halt, bei Stinchen mit dem weißleuchtenden Kopfverband, die in einem Liegestuhl ruht. Drohend fragt der Russe auf deutsch, wobei er auf das Mädchen zeigt: »Wieviel Jahr?«

Keiner antwortet. Das Mädchen liegt wie aus Stein da. Nochmals brüllt der Russe, rauh und wütend: »Wieviel Jahr?«

Ich antworte hastig auf russisch: »Das ist eine Studentin, sie ist achtzehn.« Ich will noch sagen, daß sie am Kopf verletzt ist, finde die Vokabeln nicht und helfe mir mit dem internationalen Wort kaputt: »Kopf kaputt, von Bomben.«

Nun folgt ein Gespräch zwischen dem Mann und mir, ein hastiges Hin und Her von Frage und Antwort, das aufzu-schreiben sinnlos wäre, weil es sinnlos war. Es handelte von Liebe, von wahrer Liebe, von heißer Liebe, daß er mich liebt, ob ich ihn liebe, ob wir uns lieben wollen. »Vielleicht«, sage ich und bewege mich schrittweise auf die Tür zu. Der Kerl geht mir auf den Leim. Das Kellervolk ringsum, immer noch schreckens-starr, begreift nicht im entferntesten, was hier vorgeht.

Ich schäkere mit flatternden Händen, bringe vor Herzklopfen kaum die paar Vokabeln heraus. Schaue dem Mann in die schwarzen Augen und wundere mich über seine gelben, gelbsüchtigen Augäpfel. Schon sind wir draußen im halbdunk-len Gang, ich tripple rückwärts vor ihm her, er kennt sich in diesem Labyrinth nicht aus, folgt mir. Ich flüstere: »Dort hinüber. Dort sehr schön. Keine Leute.« Noch drei Schritte, zwei Stufen - und wir stehen auf der Straße, mitten in der grellen Mittagssonne.

Ich renne sogleich zu meinen beiden Pferdepflegern, die gerade ihre Gäule striegeln. Ich zeige auf meinen Verfolger: »Das ist aber ein Schlimmer, hahaha!« Der Bursche mißt mich mit einem Giftblick und verdrückt sich. Die Pferdestriegler lachen. Ich schwatze eine Weile mit ihnen und erhole mich dabei. Die Hände beruhigen sich wieder.

Während ich draußen palaverte, war unser Keller von etlichen Helden, die nicht weiter nach Frauen ausschauten, auf Uhren abgesammelt worden. Später sah ich manchen Iwan mit einer ganzen Uhrenkollektion an seinen beiden Unterarmen - mit fünf, sechs Stück, die er fortwährend verglich, aufzog, stellte - mit kindischer und diebischer Freude.

Unsere Ecke ist nun Biwak. Der Troß richtet sich in den Läden und Garagen ein. Die Pferde fressen Hafer und Heu, drollig nicken sie mit den Köpfen aus den zerschlagenen Schaufenstern. Es liegt eine Art Erleichterung in der Luft: Na schön, die Uhren sind futsch. »Woina kaputt«, wie die Russen sagen; für uns ist der Krieg kaputt, aus. Der Sturm rauschte über uns weg, wir sind im Windschatten.

So dachten wir.

Gegen 18 Uhr ging es los. Einer kam in den Keller, Bullenkerl, stockbesoffen, fuchtelte mit seinem Revolver herum und nahm Kurs auf die Likörfabrikantin. Die oder keine. Er jagte sie mit dem Revolver quer durch den Keller, stieß sie vor sich her zur Tür. Sie wehrte sich, schlug um sich, heulte - als plötzlich der Revolver losging. Der Schuß haute zwischen die Balken, in die Mauer, ohne Schaden anzurichten. Darob Kellerpanik, alle springen auf, schreien... Der Revolverheld, offenbar selbst erschrocken, schlug sich seitwärts in die Gänge. Gegen 19 Uhr saß ich mit der Witwe oben in der Wohnung friedlich beim Abendbrei, als Portiers Jüngste mit Geschrei hereingestürzt kam: »Kommen Sie schnell runter, Sie müssen russisch mit denen reden, es sind wieder welche hinter der Frau B. her.« Also wieder die Likörfabrikantin. Sie ist weitaus die Dickste von uns allen, mit gewaltig ausladendem Busen. Man hört schon allgemein, daß sie die Dicken suchen. Dick gleich schön, da mehr Weib, mehr unterschieden vom Mannskörper. Bei primitiven Völkern sollen die Dicken ja als Sinnbild von Fülle und Fruchtbarkeit in Ehren stehen. Da können sie in unserem Land jetzt lange suchen. Gerade die früher so fülligen älteren Frauen sind meistens schrecklich zusammengeschrumpft. Die Likörfabrikantin freilich hat keine Not gelitten. Sie hat den ganzen Krieg hindurch was zum Tauschen gehabt. Nun muß sie ihr ungerechtes Fett bezahlen.

Als ich hinunterkam, stand sie unten in der Haustür, wimmernd und zitternd. Sie ist aus dem Keller herausgerannt, konnte den Kerlen entwischen. Nun traut sie sich nicht in den Keller zurück, traut sich ebensowenig in ihre Wohnung vier Treppen hoch hinauf, da ab und zu von deutscher Seite Artilleriebeschuß. Sie hat auch Angst, daß die Kerle ihr nach oben folgen könnten. Sie krallt sich in meinen Unterarm, so fest, daß man ihre Nägelmale auf meiner Haut sieht, und fleht mich an, ich solle mit ihr zum »Kommandanten« gehen, um eine Eskorte bitten, irgendeine Art Schutz. Ich weiß nicht, was sie sich so vorstellt.

Ich spreche einen Vorüberkommenden mit Achselsternen an, versuche ihm die Angst der Frau zu erklären, wobei ich merke, daß mir die Vokabel »Angst« fehlt. Aber er winkt ungeduldig ab: »Ach was, niemand tut Ihnen was, gehen Sie nach Hause.« Die schluchzende Frau wankte schließlich treppauf. Hab sie seither nicht mehr gesehen, sie muß sich oben verkrochen haben. Ganz gut so. Sie wirkte zu stark als Lockvogel.

Kaum war ich wieder oben, kommt das Portiersmädel, das offenbar zur Botin abgerichtet ist, erneut heraufgerannt. Wieder Männer im Keller. Diesmal wollen sie die Bäckerin, die es ebenfalls fertiggebracht hat, etliches Körperfett über die Kriegs-jahre hinwegzuretten.

Der Meister kommt mir im Gang entgegengewankt, ist weiß wie sein Mehl, streckt mir die Hände entgegen, stammelt: »Die sind bei meiner Frau...« Seine Stimme bricht. Eine Sekunde lang hab ich das Gefühl, in einem Theaterstück mitzuspielen. Unmöglich kann ein bürgerlicher Bäckermeister sich so bewegen, solche Herztöne in seine Stimme legen, so nackt, so aufgerissen wirken, wie ich es bis jetzt nur an großen Schauspielern erlebte.

Im Keller. Die Petroleumlampe brennt nicht mehr, der Stoff ging wohl aus. Beim Flackerschein eines Kerzenflämmchens auf einem mit Talg gefüllten Pappdeckel, einem sogenannten Hindenburglicht, erkenne ich das Kalkgesicht der Bäckerin, den zuckenden Mund... Drei Russen stehen neben ihr. Mal zerrt der eine am Arm der im Liegestuhl daliegenden Frau, mal stößt der andere sie, die hoch will, wieder auf den Sitz zurück. Es ist, als sei sie eine Puppe, ein Ding.

Derweil unterhalten sich die drei Männer sehr schnell miteinander; offenbar streiten sie sich. Ich verstehe wenig, sie reden Slang. Was tun? »Kommissar«, stottert der Bäcker. Kommissar, das bedeutet: irgendeinen, der etwas zu sagen hat. Ich - auf die Straße, die nun entspannt und abendfriedlich daliegt. Beschuß und Brandröte sind fern. Ich treffe ausge-rechnet auf den Offizier, der soeben die Likörfabrikantin abge-fertigt hat, spreche ihn in meinem höflichsten Russisch an, bitte um Hilfe. Er begreift und zieht ein saures Gesicht. Zögernd, unwillig folgt er mir schließlich.

Im Keller noch Schweigen und Starre. Es ist, als seien all diese Menschen, die Männer, Frauen und Kinder, versteinert. Von den dreien bei der Bäckerin hat sich einer inzwischen verzogen. Die beiden anderen stehen immer noch an ihrer Seite und streiten sich.

Der Offizier mischt sich in das Gespräch, ohne Befehlston, von gleich zu gleich. Ich verstehe mehrmals den Ausdruck »Ukas Stalina« - Stalins Erlaß. Dieser Erlaß scheint davon zu handeln, daß »sowas« nicht vorkommen dürfte. Kommt aber natürlich doch vor, wie mir der Offizier nun achselzuckend zu verstehen gibt. Einer der beiden Ermahnten widerspricht. Sein Gesicht ist zornig verzerrt: »Was denn? Wie haben's denn die Deutschen mit unseren Frauen gemacht?« Er schreit: »Meine Schwester haben sie...«, und so fort, ich verstehe nicht alle Worte, jedoch den Sinn.

Wieder redet der Offizier eine Weile ganz ruhig auf den Mann ein. Dabei entfernt er sich langsam in Richtung der Kellertür, hat die beiden auch schon draußen. Die Bäckerin fragt heiser: »Sind sie weg?«

Ich nicke, gehe aber vorsichtshalber noch mal hinaus in den dunklen Gang. Da haben sie mich. Die beiden haben hier gelauert.

Ich schreie, schreie... Hinter mir klappt dumpf die Kellertür zu.

Der eine zerrt mich an den Handgelenken weiter, den Gang hinauf. Nun zerrt auch der andere, wobei er mir seine Hand so an die Kehle legt, daß ich nicht mehr schreien kann, nicht mehr schreien will, in der Angst, erwürgt zu werden. Beide reißen sie an mir, schon liege ich am Boden. Aus der Jackentasche klirrt mir etwas heraus. Es müssen die Hausschlüssel sein, mein Schlüsselbund. Ich komme mit dem Kopf auf der untersten Stufe der Kellertreppe zu liegen, spüre im Rücken naßkühl die Fließen. Oben am Türspalt, durch den etwas Licht fällt, hält der eine Mann Wache, während der andere an meinem Unterzeug reißt, sich gewaltsam den Weg sucht. Ich taste mit der Linken am Boden herum, bis ich endlich den Schlüsselbund wiederfinde. Fest umklammere ich ihn mit den Fingern der Linken. Mit der Rechten wehre ich mich, es hilft nichts, den Strumpfhalter hat er einfach durchgerissen. Als ich taumelnd hochzukommen versuche, wirft sich der zweite über mich, zwingt mich mit Fäusten und Knien an den Boden zurück. Nun steht der andere Schmiere, er flüstert: »Schnell, schnell...«

Da höre ich laute russische Stimmen. Es wird hell. Die Tür ist geöffnet worden. Von außen kommen zwei, drei Russen herein, die dritte Gestalt ist eine Frau in Uniform. Und sie lachen. Der zweite Kerl, gestört, ist aufgesprungen. Beide gehen nun mit den drei anderen hinaus, lassen mich liegen.

Ich kroch an der Treppe hoch, raffte mein Zeug zusammen, schob mich an der Wand entlang zur Kellertür hin. Die war derweil von innen verriegelt worden. Ich: »Aufmachen, ich bin allein, keiner mehr da!«

Endlich tun sich beide eiserne Hebel auf. Drinnen starrt mich das Kellervolk an. Jetzt erst merke ich, wie ich aussehe. Die Strümpfe hängen mir auf die Schuhe herunter, das Haar ist zerzaust, die Fetzen des Strumpfhalters habe ich noch in der Hand.

Ich schreie los: »Schweine ihr! Zweimal geschändet, und ihr macht die Tür zu und laßt mich liegen wie ein Stück Dreck!« Und drehe mich um und will fort. Hinter mir erst Stille, dann bricht es los. Alle reden, schreien durcheinander, streiten sich, fuchteln herum. Endlich ein Entschluß: »Wir gehen alle zusam-men zum Kommandanten und bitten um Schutz für die Nacht.«

So zieht schließlich ein Häuflein Frauen, auch ein paar Männer dabei, in den dämmrigen Abend hinaus, in die laue Luft, die nach Brand riecht, zum Block gegenüber, wo der Kommandant hausen soll.

Stille draußen, die Geschütze schweigen. Im Torweg drüben lagern Gestalten am Boden, Russen. Einer richtet sich auf, als unsere Gruppe naht. Ein anderer murmelt: »Ach, bloß Deutsche«, und dreht sich wieder um. Drinnen im Hof frage ich nach dem Kommandanten. Aus einer Männergruppe, die in der Tür zum Hinterhaus beisammensteht, löst sich eine Gestalt: »Ja, was wünschen Sie?« Ein großer Kerl mit weißen Zähnen, kaukasischer Typ.

Er lacht aber bloß über mein Gestammel und über das armselige Häuflein, das sich hier beschweren will. »Ach was, es hat Ihnen bestimmt nichts geschadet. Unsere Männer sind alle gesund.« Er schlendert zu den anderen Offizieren zurück, wir hören sie halblaut lachen. Ich, zu unserem grauen Haufen: »Es hat keinen Sinn.« Ab - der Haufen zieht in den Keller zurück. Ich mag nicht, mag die Kellerfratzen nicht mehr sehen, steige in den ersten Stock hinauf, zusammen mit der Witwe, die um mich herum ist wie um eine Kranke, leise spricht, mich streichelt, mich beobachtet, daß es mir schon lästig ist. Ich will vergessen.

Ich zog mich im Badezimmer aus, zum ersten Mal seit Tagen, wusch mich, so gut es sich mit dem bißchen Wasser machen ließ, putzte mir die Zähne vor dem Spiegel. Da taucht, lautlos wie ein Geist, plötzlich ein Russe im Türrahmen auf, bleich und zierlich. Er fragt, und zwar auf deutsch, mit leiser Stimme: »Wo - bitte - Tür?« Er hat sich offenbar in die Wohnung verirrt. Ich, starr vor Staunen und im Nachthemd, weise ihm stumm den Weg zur Vordertür, die ins Treppenhaus geht. Darauf er, höflich: »Danke.«

Ich hetze in die Küche. Ja, er ist durch die Hintertür eingedrungen. Der Besenschrank, mit dem die Witwe sie verstellt hatte, ist abgerückt. Eben kommt die Witwe die Hinter-treppe herauf aus dem Keller. Gemeinsam verrammeln wir aufs neue die Hintertür, aber diesmal gründlich. Wir bauen einen Stuhlturm davor und schieben zum Schluß noch das schwere Küchenbüffet heran. Das wird halten, so meint die Witwe. An der Vordertür legt sie wie immer den Riegel vor, schließt doppelt ab. Wir fühlen uns halbwegs gesichert.

Ein winziges Flämmchen flackert auf dem Talg des Hinden-burglichts. Es wirft unsere Schatten groß an die Decke. Die Witwe hat mir das Lager im Wohnzimmer auf ihrem Liegebett gerichtet. Zum ersten Mal seit langer Zeit haben wir die Verdunklungsrollos nicht herabgelassen. Wozu auch? Es wird keine Luftangriffe mehr geben in dieser Nacht vom Freitag zum Samstag, nicht für uns, die wir schon russisch sind. Die Witwe hockt bei mir auf der Bettkante, sie zieht sich eben die Schuhe aus, da - Gepolter, Getöse.

Arme Hintertür, kümmerlich errichtetes Bollwerk. Schon kracht es, die Stühle poltern auf die Fließen. Man hört Gescharr und Geschiebe und viele grobe Stimmen. Wir starren uns an. Durch einen Wandriß zwischen Küche und Wohnzimmer flackert Licht. Nun Schritte im Flur. Jemand stößt die Tür zu unserem Zimmer auf.

Einer, zwei, drei, vier Kerle. Alle schwer bewaffnet, das Automatengewehr an der Hüfte. Sie blicken uns zwei Frauen bloß kurz an, sagen kein Wort. Einer geht sogleich durchs Zimmer zum Schrank, reißt die beiden Schubladen auf, stöbert darin herum, schmeißt die Laden wieder zu, sagt wegwerfend irgendwas und stapft hinaus. Wir hören ihn im Zimmer nebenan stöbern, das früher der Untermieter der Witwe bewohnte, bis er zum Volkssturm mußte. Die drei anderen stehen so herum, tuscheln miteinander, mustern mich verstohlen. Die Witwe ist wieder in ihre Schuhe geschlüpft, sie flüstert mir zu, daß sie hinauflaufen wolle, bei den anderen Hilfe aus den Wohnungen holen... Weg ist sie. Keiner der Männer hindert sie.

Was soll ich tun? Mit einem Mal komme ich mir irrsinnig komisch vor, wie ich da in meinem bonbonrosa Nachthemd mit den Schleifen dran vor drei fremden Kerlen im Bett sitze. Ich halte das nicht mehr aus, muß etwas sagen, etwas tun. Und wieder frage ich auf russisch mein »Schto wij shelaitje?«

Da fahren sie herum. Drei verblüffte Gesichter, gleich geht das Fragen los: »Woher kannst du Russisch?«

Ich sage mein Sprüchlein, erkläre, wie ich quer durch Rußland gereist bin, zeichnend und photographierend, dann und dann. Nun setzen sich die drei Krieger in die Sessel, schieben ihre Gewehre zur Seite und strecken die Beine aus. Wir schwatzen hin und her, immer wieder horche ich zum Flur hin, warte darauf, daß die Witwe mit dem angekündigten Hilfstrupp von Nachbarn zurückkehrt. Man hört aber nichts.

Inzwischen schaut der vierte Bursche wieder herein und verzieht sich dann mit Soldat Nummer drei in unsere Küche. Ich höre sie dort mit Geschirr hantieren. Die beiden anderen schwatzen leise, ich soll offenbar nichts davon verstehen. Eigentümlich verhaltene Stimmung. Es liegt etwas in der Luft, ein Funke fliegt herum, fragt sich, wohin.

Die Witwe bleibt aus. Ich versuche wieder, mit den beiden in den Sesseln unter meiner Steppdecke her Konversation zu machen, doch es kommt nichts an. Schiefe Blicke. Sie rutschen so herum. Nun müßte es eigentlich losgehen, ich weiß es ja aus den Zeitungen, als es noch welche gab: zehnmal, zwanzigmal, was weiß ich. Ich habe Fieber. Mein Gesicht brennt.

Nun rufen die beiden nebenan in der Küche etwas herüber. Die in den Sesseln stehen umständlich auf, schlendern küchen-wärts, dem Rufe folgend. Leise krieche ich aus dem Bett, horche in der Tür eine Weile zur Küche hin, wo anscheinend getrunken wird. Husche dann durch den stockdunklen Flur, schleiche auf nackten Füßen, greife mir im vorbei meinen Mantel vom Haken und ziehe ihn übers Nachthemd.

Vorsichtig öffne ich die Vordertür. Sie ist nun, da die Witwe hinausgegangen ist, bloß eingeklinkt. Ich horche in das schweigsame, schwarze Treppenhaus. Nichts. Nirgends ein Laut oder ein Lichtschimmer. Wo mag die Witwe bloß hingegangen sein? Eben will ich treppauf steigen, da umfaßt mich von hinten im Dunkeln einer, der lautlos hinterdreinschlich.

Riesenpratzen, Schnapsdunst. Mein Herz hüpft wie verrückt. Ich flüstere, ich flehe: »Nur einer, bitte, bitte, nur einer. Meinetwegen Sie. Aber schmeißen Sie die anderen raus.«

Er verspricht es flüsternd und trägt mich wie ein Bündel auf beiden Armen durch den Korridor. Ich ahne nicht, welcher von den vieren es ist, wie er aussieht. Im dunklen, fast gänzlich scheibenlosen Vorderzimmer lädt er mich auf der kahlen, abgedeckten Bettstatt des früheren Untermieters ab. Ruft dann ein paar grobe Stummelsätze in Richtung Küche durch den Gang, klinkt die Tür hinter sich zu und legt sich im Dunkeln zu mir. Ich friere erbärmlich und bitte und bettle, mich doch nebenan ins aufgeschlagene Bett zurückzulassen. Er will nicht, scheint die Rückkehr der Witwe zu befürchten. Erst nach einer halben Stunde, als alles ruhig geblieben, ist er zum Umzug zu bewegen.

Das Automatengewehr klirrt nun am Bettpfosten; seine Mütze hat der Mann auf den Pfostenknauf gestülpt. Still für sich hat inzwischen das Talglicht weitergebrannt. Petka, so nennt sich der Soldat, hat einen Stiftskopf, blondes Borstenhaar wächst ihm dreieckig in die Stirn, es faßt sich an wie Sofaplüsch. Im übrigen ein Riese, breit wie ein Schrank, mit Holzfällerpratzen und weißen Zähnen. Ich bin so müde, so kaputt, weiß kaum noch, wo ich bin. Petka murkst herum, er ist aus Sibirien, naja. Sogar die Stiefel hat er jetzt ausgezogen. Mir ist taumelig, ich bin nur noch halb da, und diese Hälfte wehrt sich nicht mehr, sie fällt gegen den harten, nach Kernseife riechenden Leib. Endlich Ruhe, Dunkelheit, Schlaf.

Früh um vier kräht der Hahn, den der Troß mit sich führt. Ich bin gleich hellwach, ziehe meinen Arm unter Petka hervor. Der zeigt lächelnd seine weißen Zähne. Steht flink auf, erklärt mir, daß er jetzt Wache habe, daß er jedoch bestimmt um sieben Uhr wiederkehren werde - ganz bestimmt! Und er zerquetscht mir zum Abschied beinah die Finger.

Ich kroch wieder unter die Decke und schlief von Viertelstunde zu Viertelstunde unruhigsten Schlaf, fuhr einmal hoch von dem Schrei »Hilfe!«, da war es bloß der Hahn. Nun muht auch die Kuh. Ich wickle unseren Wecker aus dem Handschuh (d. h., der Wecker gehört der Witwe, aber ich tue ganz so, als ob ich mit zum Haushalt gehörte). Er liegt, der Vorsicht halber, in ein Frottetuch gewickelt, ganz hinten in einem Fach des Schrankes. Wir schauen nur darauf, wenn wir allein und sicher sind, möchten ihn nicht an die Iwans verlieren.

Es war fünf Uhr, da konnte ich nicht mehr schlafen. Ich stand auf, klopfte das Bett glatt, schob Kästen und Stühle wieder vor die unverschließbare Hintertür mit ihrem zerborstenen Schloß, räumte die leere Flasche weg, die die Männer hinterlassen hatten, und kontrollierte unsere Burgunderflaschen hinten im Küchenschrank, in einem alten Eimer. Sie haben gottlob nichts davon gefunden.

Durch die Fenster fällt graurötlicher Schein. Draußen ist immer noch Krieg. Gewummer und Stöße, doch ziemlich weit weg. Die Front rollt nun aufs Stadtzentrum zu. Ich ziehe mich an, wasche mich notdürftig und horche vorsichtig in das morgenstille Treppenhaus. Nichts als Schweigen und Leere. Wenn ich bloß wüßte, wohin die Witwe sich verkrochen hat! Ich getraue mich nicht, irgendwo zu klopfen, will niemanden er-schrecken.

Als ich wieder ins Treppenhaus horche, nahen sich Stimmen. Ich laufe aufwärts. Da kommen sie mir schon entgegen, Frauen, ein ganzer Trupp, voran die gottsjämmerlich schluch-zende Witwe. Sie taumelt mir in die Arme, jammert: »Sei mir nicht bös!« (Seit gestern duzen wir uns.) Ringsum schluchzen etliche Frauen mit. Ich lache erst mal in all den Jammer hinein: »Was denn? Ich lebe ja, alles geht vorüber!«

Während wir ein Stockwerk höher steigen, zu den Buchhänd-lersleuten, flüstert mir die Witwe zu, sie habe zuerst vergeblich an mehrere Türen geklopft und um Asyl für sich und mich gebeten. Nirgends sei ihr aufgetan worden. Ja, bei den Postrats habe man ihr über die Türkette hinweg zugezischt: »Das Mädel? Nee, wir wollen uns die Kerle nicht auf den Hals locken!« Im Stockdunkeln hat dann einer die Witwe im Treppenhaus zu fassen bekommen, hat sie auf die Dielen geworfen... Ein Kind noch, so flüstert sie; bartlos, glatt und unerfahren - und sie lächelt dabei mit dickverheultem Gesicht. Ich weiß nicht genau, wie alt sie ist, sie würde es mir vielleicht nicht sagen. Sie muß zwischen vierzig und fünfzig sein, ihr Haar ist gefärbt. Denen ist Frau Frau, wenn sie sich im Finstern einen Leib greifen.

In der Wohnung des Buchhändler-Ehepaares sind an die fünfzehn Leute aus dem Haus untergekrochen, haben sich Bettzeug herangeschleppt, sich auf Sofas, auf dem Boden, überall, wo noch Platz ist, eingerichtet. Denn diese Wohnung hat an der Vorder- wie an der Hintertür Patentschlösser und in den Boden eingreifende Stoßstangen. Außerdem ist die Vorder-tür innen mit Metall beschlagen.

Wir sitzen um den fremden Küchentisch, alle hohläugig, grünbleich, übernächtigt. Alle flüstern, wir atmen gepreßt, trinken gierig den heißen Malzkaffee (gekocht auf einem Herdfeuer aus Naziliteratur, wie der Buchhändler uns verrät).

Immer wieder starren wir die verriegelte, verrammelte Hintertür an, hoffend, daß sie halten möge. Hungrig stopfe ich das fremde Brot. Da - Schritte auf der Hintertreppe, und die fremden Laute, die uns so grob und tierisch in den Ohren tönen. Erstarrung und Schweigen rings um den Tisch. Wir halten im Kauen inne, der Atem stockt uns allen. Hände krampfen sich gegen die Brust. Augen flackern irr. Wieder Stille draußen, die Schritte verhallen. Jemand flüstert: »Wenn das so weitergehen soll...«

Keine Antwort. Das Flüchtlingsmädel aus Königsberg, das auch hier unterkam, wirft sich schreiend über den Tisch: »Ich kann nicht mehr! Ich mache Schluß!« Sie hat es in der Nacht mehrfach aushalten müssen, unterm Dach, wohin sie vor einem ganzen Haufen Verfolger geflohen war. Das Haar hängt ihr wirr ums Gesicht, sie mag nicht essen noch trinken.

Wir sitzen, warten, horchen. Über uns orgelt nun Artillerie. Schüsse peitschen durch unsere Straße. Es ist gegen 7 Uhr, als ich mit der Witwe abwärts zu unserer Wohnung schleiche, vorsichtig ums Treppengeländer sichernd. Horchend verhalten wir vor der eigenen Tür, die ich angelehnt ließ, als sie sich plötzlich von innen auftut.

Eine Uniform. Schreck. Die Witwe umkrallt meinen Arm. Aufatmen - es ist bloß Petka.

Sprachlos lauscht die Witwe unserem Gespräch. Aber nach einer Minute stehe auch ich sprachlos da. Denn Petka strahlt mich an, seine kleinen Blauaugen glitzern, er schüttelt mir die Hände, versichert, daß ihm die Zeit nach mir lang geworden sei, daß er gleich nach der Wache schnellstens zurückgekehrt sei und die ganze Wohnung nach mir abgesucht habe, daß er froh sei, so froh, mich wiederzusehen. Und er drückt und quetscht dabei meine Finger mit seinen Holzfällerpratzen, daß ich sie ihm entziehen muß. Ich stehe wie ein Idiot vor diesen unzweifelhaften Symptomen, höre mir das Romeogestammel an, bis Petka endlich, endlich entschwindet - mit dem Ver-sprechen, bald wiederzukommen, sehr bald, so schnell er eben kann.

Ich stehe offenen Mundes da. Die Witwe hat kein Wort verstanden, hat aber aus Petkas Gesicht gelesen, was mit ihm los ist. Sie schüttelt den Kopf: »Na, weißt du - .« Wir sind beide ganz fassungslos.

Und nun sitze ich hier am Küchentisch, hab soeben den Füllhalter neu mit Tinte gefüllt und schreibe, schreibe, schreibe mir allen Wirrsinn aus dem Kopf und Herz. Was mag das werden? Was kommt da noch über uns? Mir ist so klebrig, ich mag gar nichts mehr anfassen, mag die eigene Haut nicht anrühren. Jetzt ein Bad oder doch richtige Seife und reichlich Wasser. Schluß, weg mit den Wunschträumen.

Wobei mir die seltsame Vorstellung einfällt, eine Art Wach-traum, der mir heute früh kam, als ich nach Petkas Weggang vergeblich einzuschlafen versuchte. Es war mir, als läge ich flach auf meinem Bett und sähe mich gleichzeitig selber daliegen, während sich aus meinem Leib ein leuchtendweißes Wesen erhob; eine Art Engel, doch ohne Flügel, der steil aufwärts schwebte. Ich spüre noch, während ich dies schreibe, das hochziehende, schwebende Gefühl. Natürlich ein Wunschtraum und Fluchttraum. Mein Ich läßt den Leib, den armen, verdreckten, mißbrauchten, einfach liegen. Es entfernt sich von ihm und entschwebt rein in weiße Fernen. Es soll nicht mein »Ich« sein, dem dies geschieht. Ich schiebe all das aus mir hinaus. Ob ich wohl spinne? Aber mein Kopf faßt sich in diesem Augenblick kühl an, die Hände sind bleiern und ruhig.

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