Pfingstsonntag, 20.Mai 1945

Strahlender Tag. Von frühmorgens an widerhallte unsere Straße von den Tritten ungezählter Marschierer, die unterwegs sind zu Freunden und Verwandten in anderen Stadtteilen. Wir frühstückten bis elf mit Kuchen und bohnengemixtem Kaffee. Die Witwe gab allerlei Familien-Anekdoten zum besten. Das ist ihre Stärke. Ihre Sippe ist aber auch wirklich komisch, da völlig unübersichtlich: Der Schwiegerpapa war dreimal verheiratet, in großen Abständen; hat zwei seiner Frauen überlebt. Aus allen Ehen laufen nun Kinder und Kindeskinder herum; Tanten, die jünger sind als ihre Nichten; Onkel, die mit ihren Neffen in die gleiche Schulklasse gehen. Obendrein, so gesteht die Witwe, hat sich die letzte, überlebende Gattin anschließend in zweiter Ehe mit einem Juden vermählt. Dieser jüdische Stief-Schwiegervater starb zwar bereits lange vor Beginn des Dritten Reiches; doch blieb er ein Fleck in der Familiengeschichte. Heute hingegen erzählt die Witwe geradezu mit Behagen von ihm und rühmt sich seiner.

Nach dem Mittagessen verzog ich mich hinauf in die Dachwohnung, wühlte mich durch Berge von Kalk und Schutt, schleppte Dreckeimer treppab, wischte die Böden. In die morschen Balkonkästen pflanzte ich Kerbel und Borretsch; das heißt, ich streute in flache Rillen die braunen Körner und schwarzen Würmchen, aus denen mein Küchengarten wachsen soll. Wie die Kräuter aussehen werden, weiß ich nur von den Vorderseiten der Samentüten, die mir die Hamburgerin aus altem Restbestand geschenkt hat. Nachher lag ich am Boden der Terrasse in der Sonne. Tiefzufriedene Stunde. Doch hinterdrein Unruhe. Es mahnt und bohrt in mir. Ich kann nicht so pflanzenhaft weiterleben, muß mich rühren, muß etwas anfassen. Mir ist, als ob ich ein gutes Spiel Karten in Händen hätte. Ob ich es ausspielen kann? Mit wem? Das Schlimmste zur Zeit ist unser Abgeschnittensein.

Als ich in den ersten Stock zur Witwe zurückkehrte, platzte ich in großen Jubel. Unversehens und ohne zu suchen, ist die Witwe auf die verkramte Krawattenperle ihres Seligen gestoßen; sie hatte das gute Stück in der Zehenspitze einer vielgestopften Socke versteckt. »Wie man sowas bloß vergessen kann!« wundert sie sich nachträglich.

Friedlich ging der Pfingstsonntag vorüber. Ab acht Uhr abends wartete ich auf den Oberleutnant - auf Nikolai, der mich Mittwoch gefragt hat, ob er heute kommen dürfe. Er kam nicht, wird wohl auch nicht mehr kommen. Herr Pauli konnte sich eine entsprechende Bemerkung nicht verkneifen.

Montag, 21. Mai 1945 Von einem feiertäglichen Pfingstmontag war nichts zu spüren. Noch arbeitet ja kaum ein Mensch beruflich. Berlin hat Ferien. Ich suchte Holz und stieß auf einen Anschlag, daß sich alle »Kulturschaffenden« heute um elf Uhr im Rathaus melden sollten: Künstler, Presseleute, Verlagsleute. Das Arbeitsbuch sowie Proben der ausgeübten Kunst sollten mitgebracht werden.

Ich - hin. Schlange im zweiten Stock. Da, das sind sie, unverkennbar. Durchgeformte Köpfe, eigenwillige Kleidung, Theatermädel neben ältlichen Malerinnen, die sich mit ölduftenden Gemälden abschleppen. Dort die männliche Frau, drüben der weibliche junge Mann mit langwimprigem Blick, wohl Tänzer. Ich stehe so mittendrin und lausche den Reden von links und rechts, z. B. über den angeblich aufgehängten berühmten Kollegen Soundso, bis schrill eine Frauenstimme berichtigt: »Aber nein, im Gegenteil! Erst jetzt ist doch rausge-kommen, daß er ein Halbjude war.« Vielleicht stimmt das sogar. Überall werden jetzt die bisher so ängstlich versteckten »Nichtarier« in den Ahnentafeln dick unterstrichen und auf neu poliert.

Die Registrierung war bloß Formsache. Eine ältere Frau mit jüdischem Gesichtsschnitt notierte die Personalien in eine dicke Kladde, gab jedem einen Registrierschein, und fertig. Ob von hier etwas zu erwarten ist, ein Fingerzeig, eine Hilfe? Wohl kaum.

Zum Mittagsmahl öffnete die Witwe eines ihrer seit 1942 ängstlich gehüteten Vorratsgläser mit eingemachtem Huhn. Ja, Huhn, aber Huhn mit Mottenpillengeschmack. Das Glas hat jahrelang zwischen eingemotteten Brücken im Keller gestan-den, war durch und durch vom Naphtalindunst durchzogen. Darob großes Gelächter. Selbst der gefräßige Herr Pauli verzichtete. Die Witwe würgte einige Brocken hinunter und überließ mir den Rest. Ich erfand eine Methode, die Bissen bei zugehaltener Nase herunterzuschlucken. Allerdings stieß ich noch Stunden nachher mottenkugelig auf.

Gegen halb vier startete ich zum Fußmarsch nach Charlottenburg, um Ilse aufzusuchen; Frau Ilse R., Photogra- phin eleganter Moden und Redakteurin bei einer Frauenzeit-schrift, bis sie sich mit einem Ingenieur verheiratete. Ein Fach-mann aus der Rüstungsindustrie - den mußte General Helden-klau ihr lassen.

Nach ausgiebigem Abschied von der Witwe zog ich los. Lange, öde, tote Straßen. Unter dem Tunnel, wo früher auch tagsüber Laternen brannten, Stockfinsternis und Kotgeruch. Mir klopfte bang das Herz, als ich hindurchhetzte.

Weiter, in Richtung Schöneberg. Ich traf während einer Viertelstunde nur zwei Menschen, Frauen, die eine barfuß mit Krampfadern so dick wie Stricke. Alles kam mir so verzerrt und geisterhaft vor - vielleicht durch die Sonnenbrille, die ich gegen den Staub aufgesetzt hatte. An der Kreuzung tanzte auf einem Holzpodest eine schwarzgelockte Russin in Uniform herum. Sie schwenkte, wenn Russenautos kamen, rote und gelbe Fähnchen und lachte den Vorbeifahrenden zu. Ihre vollen Brüste tanzten mit. Scheu drückten sich etliche Deutsche mit Wassereimern an ihr vorbei.

Endlos die leeren Straßen. Plötzlich ungewohnte Menschenfülle, wohl zwanzig, dreißig Mann, sie quollen aus einem Kino, in dem ein Russenfilm namens Tschapajew läuft, wie handgemalte Zettel melden. Eine Männerstimme, halblaut: »So ein Quatsch!« An den Mauern kleben bunte, handge-kleckste Plakate, die Varieteprogramme in verschiedenen Wirtshaussälen ankünden. Die Artisten sind die ersten auf dem Plan.

Über den Fahrdamm rasselten Räder. Sie rasselten wirklich, da sie ohne Pneus auf den nackten Felgen rollten - eine neue, wirksame Methode, der russischen »Beschlagnahme« zu entgehen. Übrigens hat auch mancher Deutsche in diesen Tagen ein Rad »gefunden«, denn die Russen lassen die Räder, auf denen sie fahren, beim ersten Reifenschaden liegen und halten nach neuen, besseren Ausschau.

Weiter, durch grüne Wohnstraßen. Überall Stille, ja Starre. Alles wirkt so verkrochen und verschreckt. Manchmal trippelt ein junges Ding vorbei, nett angetan. Es soll da und dort sogar schon wieder getanzt werden, die Witwe hat es beim Bäcker gehört.

Der Hals war mir trocken vor Spannung, als ich in die Wohnstraße meiner Freundin einbog. Wenn man einander zwei Monate nicht gesehen hat - und was für Monate! - , so weiß man ja nicht, ob die Häuser noch stehen und die Menschen darin noch am Leben sind.

Da stand das Haus, heil, doch verschlossen, tot. Rufend und pfeifend irrte ich wohl eine Viertelstunde drum herum, bis ich mit einer Hausbewohnerin hineinschlüpfen konnte. Oben an der Korridortür noch der wohlbekannte Name. Klopfen und Rufen. Ich gebe mich zu erkennen. Drinnen ein Freudenschrei. Wieder Umarmung mit einer Frau, mit der ich sonst höchstens einen Händedruck tauschte. Der Mann ruft: »Sowas! Da kommt sie angetänzelt, als ob gar nichts wäre!«

Hastig wechseln Ilse und ich die ersten Sätze: »Wie oft geschändet, Ilse?« - »Viermal, und du?« - »Keine Ahnung, hab mich vom Train zum Major hochdienen müssen.«

Wir sitzen in der Küche beisammen, trinken echten Tee, zur Feier des Tages herausgekramt, essen Marmeladebrot dazu, berichten... Ja, wir haben alle etliches durchgestanden. Ilse hat es einmal im Keller erwischt, die übrigen Male im ersten Stock, in einer leeren Wohnung, in die man sie mit Kolbenstößen in den Rücken hineingepufft hat. Einer, so berichtet sie, hat sich mit dem Gewehr zu ihr legen wollen. Da hat sie es mit der Angst gekriegt und ihm mit Gesten klargemacht, daß er vorher seine Knarre beiseite legen müßte - was der Kerl auch tat.

Während wir das Thema beim Wickel hatten, verzog sich Ilses Mann, um, wie er sagte, bei den Nachbarn für mich ein paar Detektor-Neuigkeiten einzuholen. Ilse grinste hinter ihm her: »Tja, das kann er nicht gut hören.« Er quält sich mit Selbst-vorwürfen, weil er tatenlos im Keller zurückblieb, während die Iwans seine Frau zwischenhatten. Bei der ersten Vergewal-tigung im Keller war er sogar in Hörweite. Es muß ein sonder-bares Gefühl für ihn gewesen sein. Im übrigen nutzten wir die Abwesenheit von Herrn R. für einen kleinen Weibertratsch. Ilse ist eine verwöhnte Frau, weltgereist, von mondänem Habitus. Was hat sie zu den russischen Kava-lieren zu sagen?

»Kümmerlich«, so sagte sie und zog die Nase kraus. »Denen fällt aber auch gar nichts ein. Simpel und grob, einer wie der andere, so weit ich hier im Haus herumgehorcht habe. Aber vielleicht hast du mit deinen höheren Offizieren bessere Erfahrungen gemacht.«

»Nein, in dem Punkt nicht.«

»Mag sein, daß die zu Haus das Neueste an sozialistischer Planwirtschaft haben«, meint Ilse. »In puncto Erotik sind sie jedenfalls bei Adam und Eva stehengeblieben. Das hab' ich auch meinem Mann zum Trost gesagt.« Sie kneift ein Auge zu: »Bei dem knappen Futter ist so ein armer Ehemann natürlich nicht viel wert. Meiner kriegt schon Komplexe deswegen und bildet sich ein, daß die Rote Armee mit ihrer Draufgängerei tatsächlich bei uns Frauen Chancen hätte.« Wir lachten sehr und kamen überein, daß unsere werten Feinde auf freier Wildbahn, als normale Bewerber, in 99 von 100 Fällen nicht die geringsten Chancen bei uns hätten. Allenfalls den Hundertsten würde man hier einer Vorprüfung für wert erachten.

So tratschten wir und rächten uns mit Spott an denen, die uns demütigten.

Tatsächlich brachte der Ingenieur einige Neuigkeiten von den Nachbarn mit. Danach soll Berlin eine internationale Stadt für alle Sieger werden und Leipzig die Russenhauptstadt. Es heißt, daß Himmler gefangen sei. Über Adolf immer noch keine sicheren Nachrichten. Während Ilse sehr gelassen wirkte und mit damenhafter Überlegenheit die derzeitigen Zustände glossierte, ist ihr Mann verstört und verwirrt. Seine Laufbahn ist erst einmal zu Ende. Sein Rüstungsbetrieb, soweit noch un-verbombt, wird zur Zeit ausgeräumt. Die Russen holen sich die deutschen Maschinen heraus. Unterwegs bin ich mehreren Lastautos mit riesigen Holzverschlägen darauf begegnet. Nun weiß ich, was drin ist. Herr R. fürchtet, daß er sozial absteigen, als Handarbeiter neu beginnen muß. Er giert nach Kontakt und Neuigkeiten, steckt voll Lebensangst und ist krampfhaft bemüht, wieder irgendwo in Lohn und Brot zu kommen. Er hat sich beim Krankenhaus um einen Posten bei der Heizung beworben. Vom Sturz ist er noch betäubt. Wieder einmal sieht man, daß wir Frauen das Stürzen besser aushaken, uns wird nicht so leicht schwindlig dabei. Ilse und ihr Mann lernen beide Russisch. Er faßt, wenn auch widerwillig, eine Übersiedlung nach Rußland ins Auge. Denn »hier fahren sie uns ja die Produktionsmittel hinaus«. Er glaubt nicht, daß uns Deutschen in absehbarer Zeit wieder eine nennenswerte Produktion gestattet werde, hat auch von den Detektor-Nachbarn gehört, daß ganz Deutschland in einen Kartoffelacker verwandelt werden soll. Warten wir es ab.

Mehrmaliger Abschied. Man weiß ja nie, ob und wann man einander wiedersieht. Auf dem Rückweg sprang ich noch zu der angeheirateten Nichte der Witwe hinauf - zu der jungen werdenden Mutter, die mit ihrer Freundin Frieda zusammen haust und auf ihren Barns wartet. Lag auf dem Rücken, die Kleine, sah lieb aus und leuchtete von innen. Aber der gewölbte Bauch saß auf einem allzu mageren Körper, sprang förmlich daraus hervor. Man glaubt zu sehen, wie das werdende Kind alle Säfte und Kräfte aus dem Mutterleib zieht. Von dem werdenden Vater natürlich keine Nachricht. Er schien ganz vergessen über den täglichen Nöten der Nahrungs- und Holzsuche. Da es in der Wohnung nur einen - jetzt sinnlosen - Elektroherd gibt, haben sich die Mädels auf dem Balkon aus Ziegelsteinen eine Art Herd gebaut, den sie mit mühsam gesuchten Fichtenzweigen speisen. Es dauert ewig, bis das bißchen Brei gar ist. Zudem muß Frieda ständig vor dem Feuerchen hocken, es anstacheln und Zweige nachlegen. Es roch weihnachtlich vom Harz.

Dann der Heimweg, marschieren, marschieren. Ein Anschlag in Deutsch und Russisch meldet, daß demnächst ein »freier Markt« eröffnet werden soll. Von wem? Für wen? Eine »Wandzeitung« nennt neue Stadtoberhäupter. Lauter unbe-kannte Größen, vermutlich heimgekehrte Emigranten aus Moskau. Bunte Trupps von Italienern kamen mir entgegen, singend, mit Bündeln und Koffern beladen, offenbar zur Heimreise gerüstet. Wieder Fahrräder, die auf den nackten Felgen rasselten. In Schöneberg wurde es einsamer, und der Gespenstertunnel an der S-Bahn war schwarz und verlassen. Ich war froh, als ich ihn hinter mir hatte, als ich die Häuser unseres Blocks sah. Kehrte heim wie von einer großen Reise und teilte von meinen Neuigkeiten aus.

Müde Füße, schwüler Tag. Nun bringt der Abend Ruhe und Regen.

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