Donnerstag, 26. April 1945, 11 Uhr morgens

Ich schreib mit zittrigen Fingern. Noch atmen wir Kalkstaub. Vor dreißig Minuten ist ein Volltreffer in den vierten Stock gegangen. Bin außer Atem, komme im Galopp aus meiner Dachwohnung. Ein Saustall aus Kalkbrocken, Splittern und Glasscherben. Leb wohl, du mein kurzes Beinah-Zuhause, bist einstweilen unbewohnbar.

Hab mir allerlei Zeug gegriffen, einen Topf, Handtücher, Verbandmull - was man so braucht. Meine Kehle ist ausgedörrt, der Schlund brennt noch vom Kalkstaub. Zu trinken hab ich hier unten nichts. Dabei sind soeben ungezählte Liter Wasser aus den Heizkörpern oben ausgelaufen. Wir haben -

Halt, ich will zuvor rekapitulieren, schrieb so lange nicht mehr, und so viel ist passiert. Es begann damit, daß gestern abend gegen 19 Uhr jemand in den Keller kam und meldete, daß drüben im Eckladen Puddingmehl ausgegeben werde. Ich - mit hin, mich angestellt. Plötzlich russische Bomben. Die Schlange blieb erst einmal stehen, wand sich nur in das benachbarte Trümmergrundstück hinein, als ob es unter den Mauerresten Deckung gäbe. In Richtung Berliner Straße sah man Rauch und Flammen. Dann neue Bombenserie, näher. Ich ließ das Pud-dingmehl fahren und hetzte über den Fahrdamm zum Keller zurück. Ein Mann schrie mir zu: »An der Wand lang!« Geknatter, Trümmer spritzten. Endlich im Keller, wenn auch ohne Puddingmehl. Die Portiersfrau jammerte, weil ihre Tochter drüben geblieben war, hatte sich wohl nicht beim Beschuß über die Straße getraut.

Nach einer halben Stunde kam sie, ohne Puddingmehl. Hat, wie sie sagt, dolles Schwein gehabt. Hat sich noch in den Keller des Eckladens quetschen können, kurz bevor der Treffer vor dem Haus landete. Einer von denen, die nicht mehr in den Keller hineinkonnten, ein halbwüchsiger Junge, bekam einen Splitter in den Schädel. Die Erzählerin ist beim Hinausgehen über den Toten weggestiegen. Sie zeigt uns nun, wie es ihm weiß und rosa aus der Schläfe quoll. Morgen soll die Verteilung von Puddingmehl weitergehen. Es soll noch genug davon im Laden sein.

Gegen 21 Uhr ging die Kellergemeinde schlafen. Die Witwe hat nun auch für mich eine Art Bett eingerichtet, im Vorraum zwar, da drinnen zwischen den Stützbalken kein Platz mehr ist, doch weich und warm. Ich schlief ein, erwachte von Bomben. Etwas leckte an meiner herabhängenden Hand. Es war Foxel, der Terrier unseres nicht vorhandenen Hauswirts. Foxel, netter Kerl, hab keine Angst. Wir beide sind allein im Vorraum. Es fehlen hier die Stützen, dafür ist die Luft rein, und es stört uns kein Geschnarch und Gestöhne.

Früh am Morgen auf, zum Wasserholen an die Pumpe. Ich las draußen zum ersten Mal seit Tagen wieder Gedrucktes, und sogar frisches. Eine Zeitung namens Panzerbär. Jemand hat sie beim Bäcker neben das Schaufenster geklebt. Darin stand der Wehrmachtbericht von Dienstag, also zwei Tage alt. Danach dringt a) der Feind vor und sind b) deutsche Verstärkungen im Anmarsch. Außerdem heißt es, daß Adolf und Goebbels in Berlin seien und dort bleiben würden. Und am Bahnhof Schöneberg, so meldet eine tiefbefriedigte Reportage, baumelt zur allgemeinen Ansicht der Soldat Höhne, Deserteur.

Frühstück im Keller. Jeder praktiziert, so gut er kann, eine Art von Familienleben. Auf Koffern, Kisten und Stühlen wird mit Hilfe von Papierservietten und Deckchen der trauliche Morgen- tisch bereitet. Den wärmenden Kaffeepuffs entsteigen Kannen mit Getränken, die auf Holzfeuern oder Spirituskochern bereitet worden sind. Man sieht Butterschalen, Zuckerdosen, Mar-meladegläser, silberne Löffel. Es ist alles da. Die Witwe hat in ihrer Küche auf einem Feuer aus zerklopften Sektkisten Boh-nenkaffee gezaubert, er tut gut. Ringsum kribblige Luft und Gezänk. Das Kellervolk geht einander auf die Nerven.

Kurz vor 10 Uhr fiel dann der Koffer aufs Hausdach. Wüster Stoß, Geschrei. Schneebleich kam die Portiersfrau angetorkelt, klammerte sich an einen Balken. Von ihrer Mutter gestützt, folgte S-tinchen, die Achtzehnjährige. Zausig hing ihr das kalkgraue Haar ums junge Gesicht, Blut sickerte dazwischen. Es hat sie erwischt, als sie den Hof überquerte. Sogar das Mätzchen in seinem Bauer hat die allgemeine Erregung mitgespürt, es zickzackte hin und her und piepte schrill.

Eine Viertelstunde später erst merkte jemand, daß die Heizkörper ausliefen. Wir - hochgerannt. Das heißt, längst nicht alle. Die Postratsfrau zum Beispiel schwenkte ein Attest und schrie, ihr Mann sei herzkrank, dürfe nicht mit. Auch Gardinenschmidt drückte gleich seine fleckige Greisenpfote aufs Herz. Noch andere zögerten, bis Fräulein Behn leitstuten-haft brüllte: »Ihr Dussels quatscht, und oben schwimmen euch die Buden weg«, und voranstürmte, ohne darauf zu achten, wer ihr folgte. Mit etwa fünfzehn anderen Figuren bin ich hinter-dreingelaufen.

Oben im dritten Stock ein See, und es rauscht und rauscht. Wir schufteten, Wasser rieselte von oben, wir wateten knöchel-tief im Nassen, wrangen die Teppiche aus, schöpften mit Müll-schippen Wasser auf und leerten sie kurzerhand durch die Fenster auf die grellbesonnte, völlig verödet daliegende Straße. Die ganze Zeit hindurch Einschläge, etliche nah. Einmal ein Wirbel von Glassplittern und Kalkstücken, die in das Wasser platschten, doch niemand verletzten.

Feucht und recht aufgekratzt turnten wir dann wieder kellerwärts. Ich habe die nassen Söckchen unter mich geschlagen, mit den Füßen drin, versteht sich, und überlege: War das nun vernünftig oder unvernünftig gehandelt? Ich weiß es nicht. Jedenfalls war es soldatisch. Leutnantin Behn stürmte voran, ein Stoßtrupp von Freiwilligen folgte ihr und sicherte im feindlichen Feuer unter Lebensgefahr die eigene bedrohte Stellung. (Von Teppich-Habsucht kann keine Rede sein; die wenigsten der Mitgekommenen hatten direkt mit den schwimmenden Wohnungen zu tun - sowenig wie z.B. ich.) Blindlings folgten wir dem Befehl, schonten nicht unsere Haut. Bloß daß kein Lied, kein Heldenbuch so etwas festhält und daß keine Eisernen Kreuze dafür vorgesehen sind. Eines weiß ich jedenfalls: Daß man im Kampfgedränge, im heftigen Tun und Handeln, an gar nichts denkt. Daß man dabei nicht einmal Angst verspürt, weil man völlig abgelenkt und aufgesogen ist.

Waren wir tapfer? Man nennt es wohl so. Ist Fräulein Behn, die Leitstute, eine Heldin? Als Leutnant wäre ihr das EK gewiß. Also muß ich sogleich umdenken über Heldentum und Kampfesmut. Halb so schlimm damit. Es reißt einen voran, wenn man einmal den ersten Schritt getan hat.

Typisch auch, daß ich im Wassergetümmel überhaupt nicht an die eigene Dachwohnung dachte und erst von anderen darauf gestoßen wurde, daß sie vielleicht von dem Volltreffer etwas abbekommen haben könnte. Ich flitzte hinauf- und fand den schon geschilderten Saustall. Also werde ich von nun an bei der Witwe hausen. Ihr ist es sehr recht. Sie hat Angst, so allein in der Wohnung. Ihren Untermieter haben sie noch im März zum Volkssturm geholt. Wer weiß, ob der noch lebt. Doch sowas denkt man nur. Man spricht es nicht aus.

Vier Stunden später, 15 Uhr, wieder im Keller. Wieder bin ich außer Atem, wieder schreibe ich mit zitternden Fingern, und das mit Grund.

Als es über Mittag draußen stiller wurde, trat ich ins Tor und ließ mir den feuchten Buckel von der Sonne bescheinen. Neben mir der Bäckermeister. Da rannte ein Mann an uns vorbei, er kam von der ehemaligen Schupokaserne her, wo zuletzt Luftwaffe lag, und schleppte eine blutige Rindslende im Arm. Im Vorbeilaufen rief er: »Machen Sie fix, drüben wird alles verteilt.« Wir - uns angeguckt und losgerannt, so wie wir waren, ohne Rucksack, ohne alles. Die Henni vom Bäcker, die ewig ihre Nase draußen hat, rannte hinterdrein. Sonne brennt, es ballert schon wieder sachte. Gebückt hasten wir an den Häusern entlang. An der Ecke auf dem Bordstein hocken grauhaarige Soldaten, wohl Volkssturm; sie sehen uns gar nicht an, haben die Köpfe auf ihre Knie gebeugt. Vor der Schupokaserne viele Menschen, mit Körben, Säcken, Taschen. Ich renne in den erstbesten Korridor; er ist dunkel, kühl und ganz leer, also wohl der falsche.

Ich hetze zurück, höre vor mir Tappen und Keuchen, und Rufe: »Hierher! Hier!« Hab mir draußen eine herumstehende kleine Kiste gegriffen, die schleife ich nun hinter mir her.

Ich stoße im Finstern Menschen an, bekomme Tritte gegen die Schienbeine. Bin auf einmal in einem Kellerraum, völlig dunkel, keuchende Menschen, Schmerzensschreie, ein Ring-kampf in der Finsternis. Nein, hier wird nicht verteilt. Hier wird geplündert.

Eine Taschenlampe blitzt auf, ich erkenne Regale, Büchsen darauf und Flaschen, aber nur unten, die oberen Regale sind bereits abgeräumt. Ich bücke mich, werfe mich zu Boden und wühle im alleruntersten Fach Flaschen heraus, fünf, sechs Stück, stopfe sie in meine Kiste. Im Dunkeln bekomme ich eine Konservenbüchse zu fassen, da tritt mir einer auf die Finger, und eine Männerstimme schreit: »Das sind meine Sachen!«

Ich - mit meinen Sachen ab, zur Tür hinaus, in den Nebenraum. Ein matter Lichtschimmer fällt durch einen Riß im Gemäuer. Ich erkenne Brote, ganze Reihen, wieder nur im untersten Fach, greife mir welche, knie wieder am Boden und taste und wühle. Knie in Wein, man riecht ihn, greife in Glasscherben, stopfe alles Brot in meine Kiste, das ich fassen kann. Schleife meine Last, die ich nicht mehr zu heben vermag, hinter mir her durch die Tür, in den Gang hinaus, zum Ausgang hin, der wie eine grell erleuchtete Bühne am Ende des dunklen Gangschlauches winkt. Draußen stoße ich auf den Bäcker. Auch er hat Brote erwischt und pfercht sie mit hinein in meine Kiste. Läuft dann wieder ins Haus, um noch mehr Sachen zu holen. Ich bin an meine Kiste gebunden, warte. Der Bäcker kehrt zurück, mit Konserven, Porzellantellern, groben Handtüchern und einem Knäuel verfilzter, hellblauer Strickwolle bepackt.

Auf einmal ist auch Antoine da, der kleine belgische Bäckergesell, und schleppt sich mit einem Rinderschenkel. Und Henni kommt und bringt Chartreuse in dickbauchigen Flaschen. Sie zürnt: »Alles gibt's da drinnen, alles. Kaffee, Schokolade, Schnaps. Die haben gelebt, die Brüder!« Und sie verschwindet wieder im Haus. Ich bewache meine Kiste. Ein Mann nähert sich, er hat aus seinem Jackett einen Sack gemacht und etliche Pullen Alkohol hineingeknotet. Verlangend blickt er meine Brote in der Kiste an: »Kann ich eins davon haben?« Ich: »Ja - gegen Schnaps.« Wir tauschen ein Kommißbrot gegen eine Pulle Steinhäger, sind es beide zufrieden.

Wilde Szenen ringsum in der grellen Sonne, in die manchmal Einschläge prasseln, zwei davon nah. Männer zerschlagen Flaschenhälse an Mauerkanten, trinken in gierigen Schlucken. Antoine und ich packen nun links und rechts meine Kiste, nehmen den Heimweg unter die Füße.

Die Kiste ist voll und schwer. Sie faßt sich schlecht an, wir müssen oft absetzen. Ich bin so durstig und mache es, wie ich es soeben gesehen: klopfe einer Rotweinflasche am Bordstein den Hals ab (ich habe lauter Burgunder erwischt, französische Etiketts). Ich trank aus dem zackigen Scherbenhals und schnitt mir die Unterlippe entzwei, merkte aber nichts davon, bis Antoine darauf wies und mir mit seinem Taschentuch das Blut abwischte, wobei er sich wachsam mit den Beinen über die Kiste stellte. Das Blut war schon bis in meinen Halsausschnitt gelaufen.

Hinter uns kommt der Bäcker angeschnauft. Er trägt den bläulichen, mit Pferdemist beschmierten Rinderschenkel an sich gedrückt wie ein Baby. Die Sonne sticht, ich triefe von Schweiß. Ein paar nahe Einschläge. Dazu entfernter das Tacktacktack von Bordbeschuß und das Ballerballerballer der leichten Flak.

Vor der Haustür pulten wir unseren Raub auseinander. Die blödsinnige blaue Wolle hatte sich überall dazwischengefilzt. Meine Beute: fünf Flaschen Burgunder, drei Flaschen mit ein-gemachtem Suppengrün, eine Pulle Steinhäger, vier Kommiß-brote, sechs Päckchen Erbsmehl, die mir der Bäcker von den seinen großmütig überließ, und eine Konservenbüchse ohne Aufschrift mit Ichweißnichtwas. Ich schleppte alles in den ersten Stock hinauf zur Witwe.

Bin heiß, verschwitzt, gebe einem Dutzend Leuten meine Abenteuer zum besten und verschlinge dabei, mit dem Eßteller in der Linken am Küchenherd stehend, hastig ein paar Löffelvoll von dem Kartoffelbrei, den die Witwe auf einem aus Gemeinschaftsspenden beheizten Kochherd für mehrere Familien bereitet hat. Draußen jetzt wieder eine Serie von Bomben. Die anderen musterten mit großen Augen meine Beute, trauten sich aber nicht zu weiterer Plünderung in die Schupokaserne vor. Sie wird auch inzwischen längst leer geplündert sein.

Etliche Stunden später, gegen 18 Uhr, wieder im Keller. Ich konnte in der Zwischenzeit etwas schlafen, war ganz schön besoffen, nachdem ich mit der Witwe die angerissene Burgun-derpulle geleert hatte. Erwachte taumelig, mit bitterem Mund, fand nicht sogleich Anschluß an die petroleumflackernde Unterwelt. Bis ich Leute hinausrennen sah und sie nach Säcken rufen hörte: »Los, drüben in den Baracken holen sie Kartoffeln raus!«

Ich - mit der Witwe hin. Der Feind machte gerade Pause, es war ziemlich ruhig. Daher wohl das plötzliche Gewimmel auf den über Mittag so verlassenen Straßen. Eben rollen zwei Frauen auf einem Kindersportwagen ein ganzes Faß vorbei, es riecht nach Sauerkraut. Junge Leute und ganz alte Leute rennen wie gejagt in Richtung der Baracken. Die Witwe und ich hatten uns mit allen erreichbaren Eimern ausgerüstet, zwei für jeden von uns. Auf dem Wege zertretene Kartoffeln und faule Mohren, denen man bloß zu folgen braucht. Vor den Steinstufen zum Eingang der Baracke liegt ein blutiger Platschen. Ich schrecke zurück, aber die Witwe lacht: »Marmelade!« Und so ist es auch; in Fässern wird Marmelade herausgerollt.

Wir drängen uns durch den menschenwimmelnden Gang, stolpern glitschige Stufen abwärts, landen in stinkenden, faulenden Kartoffeln. Beim Schein schmaler Oberlichter wühlen wir mit Händen und Schuhen in dem Matsch herum, klauben uns Brauchbares heraus. Mohren und die lehmigen Kohlrüben lassen wir liegen, füllen die Eimer mit Kartoffeln. Wir stoßen auf einen Sack, schon halb gefüllt, fragen nicht, wem er gehört, zerren ihn mit uns, treppauf, die Straßen entlang, nach Hause, aufwärts in den ersten Stock.

Um uns wieder Geknatter und Gedröhn, keiner schert sich darum, das Plünderfieber hat sie alle ergriffen. Wir rannten gleich ein zweites Mal, schleppten diesmal unsere Eimer mit Briketts gefüllt heimwärts. Um uns die Meute, sie rennt und rafft.

Nun hat auch die Plünderung der verlassenen Läden begonnen. Ein weißhaariger Mann, »Herr« paßte besser, schleppt eine Schublade voller Seifenpulverkartons daher. Auf der Schublade steht »Reis«.

Hinauf in den ersten Stock. Wir hocken uns aufs Wohnzimmersofa. Unsere Arme sind lahm, die Beine zittern. Die Fensterscheiben, soweit vorhanden, beben sacht. Durch die zerbrochenen Fensterflügel weht linde Wärme herein, untermischt von Brandgeruch. Manchmal Wuu-ummmm! Mit langhinrollendem Echo, von schweren Flakgeschützen. Dann Päääng! Ganz kurzer Stoß, der aufs Trommelfell drückt: Abschuß schwerer Batterien der Ari. Und, weit weg, manchmal sehr schnelles Knack-wum-Knackwum, von Heulen und Bellen begleitet. Ich weiß nicht, was das ist. Die Witwe behauptet, es sei die sogenannte Stalinorgel der Russen. Übrigens hat der Russe bisher keinen Teppich gelegt, es sind immer nur einzelne Bomben unterwegs. Schließlich spazieren wir zu zweit los, um im Eckladen, dem einzigen, der noch funktioniert, nach dem Puddingmehl zu schauen, in das gestern die Bombe fiel. Tatsächlich sind noch Kunden da, und tatsächlich wird verkauft. Dies Puddingmehl hat einen aufgedruckten Pfennigpreis, ich glaube, 38 Pfennig. Der Verkäufer, der hier Inhaber ist und beim Laden wohnt, bestand darauf, jedem Käufer die ihm zukommenden Pfennige herauszugeben, fragte draußen und drinnen herum, wer Klein-geld bei sich habe und wechseln könne. Und das bei Beschuß! Sowas gibt es nur bei uns. Pfennigfuchsend fahren wir in die Grube.

Nur zum Spaß gingen wir um die Ecke herum, beim Fleischer nachschauen, da ich meine Fleischzuteilung immer noch nicht geholt hatte. Wahrhaftig wurde auch dort verkauft, es war höchstens ein Dutzend Personen im Laden und mehr Ware als derzeit verlangt. So bekamen wir gute Stücke, schieres Schwei-nernes und anständig gewogen.

Als wir aus dem Laden traten, fuhr ein LKW vorbei; deutsche Truppen darauf, rote Spiegel, also Flak. Sie fuhren in Richtung Stadt, von uns weg aufs Zentrum zu. Saßen stumm da und stierten vor sich hin. Eine Frau rief ihnen nach: »Haut ihr ab?« Sie bekam keine Antwort. Wir sahen uns achselzuckend an. Die Frau meinte: »Sind auch bloß arme Schweine.«

Immer wieder bemerke ich in diesen Tagen, daß sich mein Gefühl, das Gefühl aller Frauen den Männern gegenüber ändert. Sie tun uns leid, erscheinen uns so kümmerlich und kraftlos. Das schwächliche Geschlecht. Eine Art von Kollektiv-Enttäuschung bereitet sich unter der Oberfläche bei den Frauen vor. Die männerbeherrschte, den starken Mann verherrlichende Naziwelt wankt - und mit ihr der Mythos »Mann«. In früheren Kriegen konnten die Männer darauf pochen, daß ihnen das Privileg des Tötens und Getötetwerdens fürs Vaterland zustand. Heute haben wir Frauen daran teil. Das formt uns um, macht uns krötig. Am Ende dieses Krieges steht neben vielen anderen Niederlagen auch die Niederlage der Männer als Geschlecht. Nachher im Keller sinnige Abendbrotgemeinde. Trauliche Stilleben auf einem Quadratmeter pro Haushalt. Hier Tee mit Stullen, dort Kartoffelbrei. S-tinchen piekt mit Messer und Gabel formvollendet eine saure Gurke auf. Ihr verletzter Kopf ist säuberlich verbunden. Die Buchhändlergattin fragt: »Darf ich Ihnen einschenken?« - »Aber bitte sehr, gnädige Frau«, säuselt Gardinenschmidt.

Über den Kanari wird ein Handtuch gebreitet. Der desertierte Soldat kommt und meldet, daß die Russen sich zum Kino vorfühlen. Unsere Ecke liegt bereits unter Kleinkaliberbeschuß. Keine Uniform darf in unseren Keller, so befiehlt der Ex-Soldat - sonst fallen wir unter Kriegsrecht und werden nach den Regeln des Standgerichts erledigt.

Palaver hin und her über die Meldungen im Blättchen Panzerbär. Es sollen tatsächlich zwei Armeen zum Entsatz von Berlin im Anmarsch sein, Schörner von Süd, eine andere von Nord. Treuenbrietzen, Oranienburg und Bernau sollen freige-kämpft sein.

Und wir? Sehr gemischte Gefühle, fast erschrockene. »Nun soll also das Hin und Her losgehen, und wir mitten darin. Sollen wir denn Monate hier unten hausen? Verloren sind wir so und so. Flutscht es beim Iwan nicht, dann kommen eben die Amerikaner aus der Luft. Und bei deren Teppichen gnade uns Gott. Dann sind wir im Keller begraben.«

Soeben neue Meldung von der Straße: Der Volkssturm ist zurückgewichen, Iwan dringt auf uns vor. Deutsche Artillerie ist an unserer Ecke aufgefahren, ihre Abschüsse dröhnen durch den Keller. Derweil sitzen sechs Frauen im Kreis um ein Tischchen herum, und die Witwe legt der Likörfabrikantin die Karten. Das kann sie perfekt: »Über den kleinen Weg liegt eine Enttäuschung im Zusammenhang mit Ihrem Mann.« (Er hält immer noch mitsamt der rothaarigen Elvira die Stellung in seiner Likörfabrik.)

Gleich will ich schlafen. Ich freue mich darauf. Randvoller Tag. Bilanz: bin gesund, frisch und frech, die Angst ist im Augenblick so ziemlich fort. Im Hirn heftige Eindrücke von Gier und Wut. Lahmer Rücken, müde Füße, ein Daumennagel abgebrochen, die zerscherbte Lippe brennt. Es stimmt doch: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.«

Nachzutragen: Ein Bild, das ich auf der Straße sah. Ein Mann schob einen Handkarren, auf dem brettsteif eine tote Frau lag. Graue Strähnen, lose flatternd, blaue Küchenschürze. Die dürren, graubestrumpften Beine stakten lang über das hintere Karrenende hinaus. Kaum einer sah hin. War wie früher einmal die Müllabfuhr.

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