Mittwoch, 25. April 1945, nachmittags

Ich rekapituliere: Gegen l Uhr nachts stieg ich aus dem Keller in den ersten Stock, haute mich wieder auf der Couch bei der Witwe hin. Plötzlich heftiger Bombenfall, die Flak tobt. Ich warte, bin so schlaftrunken, mir ist alles gleich. Die Fenster-scheibe ist bereits entzwei, Wind mit Brandgeruch weht herein. Unter dem Bettzeug hab ich ein idiotisches Gefühl von Sicherheit, als seien die Decken und Laken aus Eisen. Und dabei soll gerade Bettzeug so gefährlich sein. Dr. H. erzählte mir einmal, wie er eine im Bett getroffene Frau verarzten mußte, der die Federpartikel bis tief in ihre Wunden hineingedrungen waren, so daß man sie kaum herausbekam. Aber es kommt der Augenblick, wo tödliche Müdigkeit über die Angst siegt. So schlafen wohl auch Frontsoldaten im Dreck.

Ich stand um 7 Uhr auf, der Tag begann mit bebenden Mauern. Nun tobt die Schlacht auf uns zu. Kein Wasser mehr, kein Gas. Ich wartete eine halbwegs ruhige Minute ab und jagte die vier Treppen hoch in meine Dachwohnung. Wie ein Tier in seine umstellte Höhle, so schlich ich mich in die Zimmer, stets zu hastigem Rückzug bereit. Griff mir etwas Bettzeug und Waschkram und floh damit abwärts, in den ersten Stock, zur Witwe. Wir vertragen uns gut miteinander. Man lernt sich schnell kennen in solchen Tagen.

Mit einem Eimer in jeder Hand wanderte ich durchs blühende Laubengelände zur Pumpe. Die Sonne strahlte so warm. Lange Pumpenschlange, jeder rührte den Schwengel für sich; er bewegt sich schwerfällig, mit Gequietsche. Zurück die Viertel-stunde Weg mit überschwappenden Eimern. »Wir sind alle hübsch lastbare Eselinnen.« (Von Nietzsche, glaub ich.) Bei Bolle immer noch Geschubse wegen der Gratisbutter. Bei Meyer endlose, dunkelfarbige Schlange, die ausschließlich aus Männern besteht; es wird dort Schnaps verkauft, pro Ausweis ein halber Liter, alle vorhandenen Sorten.

Ich ging gleich nochmals Wasser holen. Auf dem Rückweg plötzlich Bombenfall. Aus dem Rasenplatz vor dem Kino stieg eine Säule aus Rauch und Staub. Zwei Männer vor mir warfen sich platt in den Rinnstein. Frauen rannten in den nächstbesten Hausflur, treppab. Ich hinterdrein, abwärts, in einen völlig fremden Keller, der nicht die Spur von Beleuchtung hat. Die vollen Eimer schleppte ich mit, sonst werden sie einem geklaut. Drunten im Stockfinstern ein aufgescheuchter Haufen, unheimlich. Eine Frauenstimme ächzt: »Mein Gott, mein Gott...« Und wieder Stille.

War das ein Gebet? Ich denke zwei Jahre zurück, sehe mich im kümmerlichsten aller kümmerlichen Keller, einer wahren Gruft, unter einem einstöckigen Dorfhaus. Ein Ort mit 3000 Ein-wohnern, unwichtig, doch auf dem Weg zum Ruhrgebiet gelegen. Eine Kerze brannte in der Finsternis, und die Frauen (Männer gab es dort kaum) beteten den Rosenkranz, den schmerzhaften; ich höre sie noch, eintönig, leiernd: »... der für uns ist gegeißelt worden...« Und wieder die Vaterunser, die Aves, monoton, gedämpft, lindernd und lösend, wie es wohl das »Om mani padme hum« tibetanischer Gebetmühlen sein muß. Dazwischen dann manchmal Motorengebrumm, einmal Bom-benfall, der die Kerzenflamme zittern machte. Und wieder: »...der für uns das schwere Kreuz getragen.« Damals griff ich mit Händen, wie das Beten eine Ölschicht über die erregten Gemüter breitete, wie es guttat, wie es half. Seither hab ich niemals wieder einen betenden Keller erlebt. Hier in Berlin, in diesen buntgemischten vierstöckigen Mietshäusern, wird sich wohl kaum eine Betergemeinde zu gemeinsamen Vaterunser finden. Sicherlich werden auch hier Gebete geflüstert, öfter vielleicht, als es den Anschein hat. Und es wird »mein Gott, mein Gott« geächzt. Doch wird die Ächzende kaum wissen, was sie da spricht, sie greift auf entleerte Formeln zurück, benutzt sie mechanisch und ohne Sinn.

Nie hab ich das Sprichwort »Not lehrt Beten« gemocht. Es klingt so höhnisch, so wie »Not lehrt Betteln«.

Ein Gebet, von Angst und Not erpreßt aus dem Munde solcher, die an guten Tagen nichts vom Gebet wußten, ist kläg-liches Gebettel.

Ein Sprichwort »Glück lehrt Beten« gibt es nicht. Solch ein Dankgebet müßte frei hochsteigen wie wohlriechender Weihrauch. Aber das sind Spekulationen. Unsere Sprache wird recht haben, wenn sie die Wörter »beten« und »betteln« ähnlich wie Brüder formte. Es gab ja einmal Zeiten, wo der Bettler an die Kirchentür gehörte wie die Klinke; da er sozu-sagen legitim und von Gottes Gnaden war wie der König, auf daß der König einen äußersten Gegenpol auf Erden habe und der Beter und Gott-Anbettier einen, dem gegenüber er die spendende Gottesfunktion ausüben konnte. Womit ich immer noch nicht herausgefunden habe, ob das Geächz im finsteren Keller Gebet war. Eins steht fest: daß es ein Glück und eine Gnade ist, unter der Kelter und Folter unserer Not und Angst leicht und ohne Beschämung beten zu können. Ich kann es nicht - noch nicht, noch wehre ich mich dagegen.

Als ich vom Wasserholen zurück war, schickte mich die Witwe auf Kundschaft zur Fleischschlange. Dort großes Geschimpfe. Es scheint, daß immer wieder die Zulieferung von Wurst und Fleisch stockt. Dies ärgert die Frauen im Augenblick mehr als der ganze Krieg. Das ist unsere Stärke. Immer haben wir Frauen das Nächstliegende im Kopf. Immer sind wir froh, wenn wir vom Grübeln über Künftiges ins Gegenwärtige flüchten dürfen. Die Wurst steht zur Zeit im Vordergrund dieser Hirne und verstellt ihnen perspektivisch die großen, doch fernen Dinge.

Im Keller wiederum, gegen 18 Uhr. Konnte oben nicht länger ruhig liegen, bekam Angst, da Volltreffer nahebei und dicke Kalkbrocken auf meine Wolldecke gefallen sind. Hab hier unten geduselt, bis die Henni vom Bäcker kam und meldete, daß ein Volltreffer in die Drogerie neben dem Kino gegangen sei. Der Inhaber war gleich tot. Ob durch Splitter, Luftdruck oder Herzschlag, war nicht sofort feststellbar. Henni sagt, er hat nicht geblutet. Aus dem Drei-Schwestern-Pudding der schwarzen Damen erhebt sich eine und fragt mit vornehm gespitztem Munde: »Ach bitte - wie ist der Mann kaputtgegangen?« So reden wir jetzt, so sind wir sprachlich heruntergekommen. Das Wort Scheiße rutscht uns leicht von der Zunge. Man spricht es mit Befriedigung aus, als könnte man inneren Unrat damit ausstoßen. Man kommt der drohenden Erniedrigung auch sprachlich entgegen

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