KAPITEL NEUN

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
Mississippi River, August 1857

Ein langweiliger Tag nach dem anderen verstrich, als die Fiebertraum den Mississippi hinunterkroch.

Ein schneller Raddampfer schaffte die Reise von St. Louis nach New Orleans und zurück in achtundzwanzig Tagen, und zwar mit Zwischenstops und gelegentlichen Landungen, mit über einer Woche Liegezeit im Hafen zum Be‐ oder Entladen und bei einigen Schlechtwetterperioden. Aber das Tempo der Fiebertraum war noch träger, sie würden wohl einen ganzen Monat brauchen, nur um New Orleans zu erreichen. Abner Marsh erschien es so, als hätten das Wetter, der Fluß und Joshua York sich miteinander verschworen, ihn aufzuhalten. Zwei Tag lang lag Nebel auf dem Wasser, so dicht und grau wie schmutzige Baumwolle; Dan Albright fuhr sechs Stunden lang mit dem Schiff weiter, lenkte es vorsichtig in dichte, wallende Nebelwälle hinein, die zerstoben und dem Dampfer Platz machten, bis Marsh nur noch ein Nervenbündel war. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie schon in dem Augenblick irgendwo angelegt, als der Nebel sich auf sie niedersenkte, anstatt die Fiebertraum in Gefahr zu bringen, aber draußen auf dem Fluß war es allein der Lotse, der solche Dinge entschied, nicht der Kapitän, und Albright setzte die Fahrt fort. Am Ende jedoch wurde sogar ihm der Nebel zu dicht, und sie verloren eineinhalb Tage an einer Anlegestelle in der Nähe von Memphis, wo sie den braunen Fluten zusahen, wie sie vorüberrauschten und an ihnen zerrten, und wo sie einem gelegentlichen fernen Plätschern im Nebel lauschten. Einmal kam ein Floß vorbei, auf seinem Deck brannte ein Feuer, und sie hörten, wie die Flößer ihnen etwas zuriefen, undeutliche Rufe, die über den Fluß halten, ehe der Nebel Floß und Geräusche verschluckte.

Als sich der Nebel endlich so weit hob, daß Karl Framm entschied, man könne sich wieder auf den Fluß hinauswagen, dampften sie kaum eine Stunde weiter, ehe sie auf ein Hindernis aufliefen, weil Framm versucht hatte, eine nicht ganz sicher erscheinende Abkürzung zu durchfahren, um etwas Zeit einzusparen. Deckshelfer und Heizer und Schauerleute strömten an Land, wobei Hairy Mike die Aufsicht führte, und trugen den Dampfer regelrecht über die Sandbank, aber es dauerte mehr als drei Stunden, und anschließend ging es in Kriechfahrt weiter, wobei Albright mit der Jolle vorausfuhr und die Tiefenwerte ausrief. Am Ende ließen sie die Abkürzung hinter sich und gelangten wieder in tieferes Wasser, aber damit waren ihre Probleme noch nicht überstanden. Drei Tage später ging ein Unwetter über sie hinweg, und mehr als einmal mußte die Fiebertraum wegen Baumstümpfen oder Untiefen in den Abkürzungen oder an den Stromschnellen den langen Weg um eine Flußbiegung nehmen, oder sie schlich weiter mit sich kaum drehenden Schaufelrädern, während die Lotjolle mit dem dienstfreien Lotsen und einem Offizier und einer ausgesuchten Mannschaft vorausfuhr und die Wassertiefe ausrief: »Viertel zwei«, oder »Viertel weniger drei«, oder »Marke drei«. Wenn mal kein Nebel aufkam, waren die Nächte pechschwarz und bewölkt; wenn das Boot überhaupt weiterfuhr, dann nur sehr langsam, mit Viertelkraft oder noch weniger; oben im Ruderhaus durfte nicht geraucht werden, und alle Fenster auf den Decks waren sorgfältig mit Läden und Vorhängen verdunkelt, so daß von dem Boot kein Lichtschein ausging und der Steuermann den Fluß leichter erkennen konnte. Die Ufer waren in solchen Nächten stockfinster und verlassen und schienen sich herumzuwälzen wie ruhelose Schläfer, bewegten sich hin und her, so daß man nicht eindeutig ausmachen konnte, wo das Wasser tief genug war oder gar wo das Wasser endete und das Land begann. Der Fluß lag so düster da, wie die Sünde, ohne daß sich das Licht des Mondes oder der Sterne in seinen Fluten widerspiegelte. In einigen Nächten war es sogar schwierig, die Nachteule zu erkennen, ein Gerät etwa auf halber Höhe des Flaggenmastes, mittels dessen die Lotsen ihre Markierungen anpeilten. Aber Framm und Albright, so verschieden sie auch waren, erwiesen sich als erstklassige Lotsen, und sie hielten die Fiebertraum auf Kurs, so lange ein Weiterfahren überhaupt möglich war. Wenn sie wirklich einmal anlegten, dann geschah es nur dann, wenn sich auf dem Fluß überhaupt nichts mehr rührte, außer Flößen und Baumstämmen und einer Handvoll Flachrumpfboote und kleine Dampfer, die so gut wie überhaupt keinen Tiefgang hatten.

Joshua York half ihnen weiter; jede Nacht erschien er oben im Lotsenhaus, um wie ein gehorsamer Lehrling seine Wache anzutreten. »Ich hab’ ihm sofort gesagt, daß es in einer solchen Nacht gar keinen Sinn hätte«, erzählte Framm Marsh einmal während des Abendessens. »Ich kann ihm doch keine Markierungen erklären, die ich selbst nicht einmal deutlich erkennen kann, habe ich recht? Nun, dieser Mann hat die verdammt besten Augen bei Dunkelheit, die ich je erlebt habe. Es gibt Augenblicke, da könnte ich schwören, daß er nur ins Wasser blickt und alles sieht, und es macht ihm gar nichts aus, wie schwarz es ist. Ich stehe neben ihm und erkläre ihm die Markierungen, und in neun von zehn Fällen erkennt er sie schon vor mir. Letzte Nacht hätte ich das Boot mindestens für die halbe Spätschicht irgendwo anlegen lassen, wäre Joshua nicht dabei gewesen.«

Aber York hielt den Dampfer andererseits auch auf. Sechsmal wurde auf seinen Befehl hin haltgemacht, in Greenville und in zwei anderen kleinen Städten, an einem privaten Anlegefloß in Tennessee und zweimal an Holzplätzen. Zweimal verschwand er für die ganze Nacht. In Memphis hatte York an Land nichts zu erledigen, aber sonst dehnte er ihre Aufenthalte unerträglich lange aus. Als sie in Helena anlegten, blieb er die ganze Nacht weg, und in Napoleon hielt er sie drei Tage auf, er und Simon; weiß der Himmel, was sie die ganze Zeit trieben. In Vicksburg war es sogar noch schlimmer; dort vertrödelten sie vier Tage, ehe Joshua York endlich wieder auf der Fiebertraum erschien.

Am Tag, als sie Memphis verließen, war der Sonnenuntergang besonders schön. Ein paar noch zurückgebliebene Dunstschwaden erglühten in einem Orangeton, und die Wolken im Westen nahmen ein leuchtendes feuriges Rot an, bis der ganze Himmel in Flammen zu stehen schien. Doch Abner Marsh, der allein oben auf dem Texasdeck stand, hatte nur Augen für den Fluß. Keine anderen Dampfschiffe waren in Sicht. Das Wasser vor ihnen war ruhig; hier erzeugte der Wind ein Wellengekräusel, dort umschäumte die Strömung die tückischen schwarzen Gliedmaßen eines abgestorbenen Baumes, der vom Ufer ins Wasser hinausragte, doch im wesentlichen war der alte Teufel friedlich. Und als die Sonne endgültig unterging, bekam das schlammige Wasser einen roten Schimmer, einen Schimmer, der zunahm und sich ausbreitete und dunkler wurde, bis es so aussah, als wäre die Fiebertraum auf einem dahinströmenden Fluß aus Blut unterwegs. Dann verschwand die Sonne hinter den Bäumen und den Wolken, und allmählich verdunkelte sich das Blut, es wurde braun, wie es bei getrocknetem Blut immer der Fall ist, und schließlich war es schwarz, tödlich schwarz, schwarz wie das Grab. Marsh beobachtete, wie der letzte rote Schimmer sich verflüchtigte. In dieser Nacht waren keine Sterne zu sehen. Er ging hinunter zum Abendessen und dachte dabei an Blut.

Seit New Madrid waren einige Tage vergangen, und Abner Marsh hatte nichts getan und nichts gesagt. Aber er hatte eine Menge nachgedacht über das, was er in Joshuas Kabine gesehen oder nicht gesehen hatte. Natürlich konnte er sich nicht einmal sicher sein, ob er überhaupt etwas gesehen hatte. Überdies, was hieß es, wenn ja? Vielleicht hatte Joshua sich im Wald irgendwie verletzt … obgleich Marsh am folgenden Abend Yorks Hände eingehend betrachtet und keine Spur von einem Schnitt oder einem Kratzer gefunden hatte. Vielleicht hatte er ein Tier geschlachtet oder sich gegen Diebe verteidigt; ein Dutzend einleuchtende Gründe boten sich an, aber alle waren durch die simple Tatsache, daß Joshua sich ausschwieg, hinfällig. Wenn Joshua nichts zu verbergen hatte, warum tat er dann so geheimnisvoll? Je mehr Abner Marsh darüber nachdachte, desto weniger gefiel ihm das Ganze.

Marsh hatte schon vorher Blut zu sehen bekommen, und zwar eine ganze Menge; Schlägereien und Prügelstrafen, Duelle und Schießereien. Der Fluß strömte durch Sklavenland, und bei denen, deren Haut schwarz war, floß das Blut sehr schnell. In den freien Staaten war es nicht viel besser. Marsh hatte sich einige Zeit in dem verfluchten Kansas aufgehalten und miterlebt, wie Männer verbrannt und erschossen wurden. Als er noch jünger war, hatte er in der Miliz von Illinois gedient und im Black‐Hawk‐Krieg gekämpft. Gelegentlich träumte er sogar noch von der Schlacht von Bad Axe, als sie das Volk von Black Hawk niedergemacht hatten, auch Frauen und Kinder, als sie versuchten, den Mississippi zu überqueren und zum westlichen Ufer und damit in Sicherheit zu gelangen. Das war ein blutiger Tag gewesen, aber notwendig; schließlich hatte Black Hawk seine Raub‐ und Kriegszüge in Illinois veranstaltet.

Das Blut, das möglicherweise an Joshuas Händen geklebt hatte, oder auch nicht, war irgendwie anders. Marsh war beunruhigt und fühlte sich unbehaglich.

Trotzdem, so rief er sich ins Gedächtnis zurück, hatte er eine Abmachung getroffen. Und für Abner Marsh war eine Abmachung eine wichtige Angelegenheit, und ein Mann mußte jede, die er getroffen hatte, unbedingt einhalten, seien sie gut oder schlecht, ob mit einem Prediger oder mit einem Gauner oder mit dem Teufel persönlich. Joshua York hatte erwähnt, daß er Feinde habe, erinnerte Marsh sich, und wie ein Mann mit seinen Feinden umspringt, war seine eigene Sache. York war Marsh gegenüber stets fair gewesen.

Dies waren seine Gedanken, und er versuchte, die ganze Angelegenheit aus seinem Bewußtsein zu verdrängen.

Aber der Mississippi verwandelte sich in Blut, und auch in seinen Träumen floß viel von dem Saft. An Bord der Fiebertraum wurde die Stimmung gelangweilt und trübe. Ein Öler war unvorsichtig und zog sich durch ausströmenden Dampf Verbrühungen zu und mußte in Napoleon an Land gebracht werden. Ein Schauermann machte sich in Vicksburg aus dem Staub, was ziemlich verrückt war, denn immerhin befand man sich im Sklavenland, und er war ein freier Farbiger. Es kam zu Streitereien unter den Deckspassagieren. Daran seien nur die Langeweile und die schwüle, erstickende feuchte Augusthitze schuld, erklärte Jeffers ihm. Abschaum dreht schon mal durch, wenn es heiß wird, bekräftigte Hairy Mike. Abner Marsh war sich da nicht so sicher. Ihm schien es fast so, als würden sie für irgend etwas bestraft.

Missouri und Tennessee blieben hinter ihnen zurück, und Marsh schäumte innerlich vor Wut. Städte und Ortschaften und Holzplätze glitten vorbei, Tage wurden zu quälend langsam verstreichenden Wochen; und sie verloren wegen Yorks Fahrtunterbrechungen Passagiere und Fracht. Marsh ging an Land, suchte Saloons und Hotels auf, die von Dampfschiffern bevölkert wurden und lauschte den Gesprächen, und ihm gefiel das Gerede überhaupt nicht, das über sein Boot geführt wurde. Trotz all ihrer Kessel, so lautete eine dieser Geschichten, war die Fiebertraum zu schwer und zu groß gebaut worden, und angeblich war sie überhaupt nicht schnell. Maschinendefekte, lautete ein anderes Gerücht; die Schweißnähte an den Kesseln stünden kurz vor dem Aufreißen. Das war schlimmes Gerede; Kesselexplosionen waren ein gefürchteter Unglücksfall. Ein Maat von irgendeinem Schiff in New Orleans erzählte Marsh in Vicksburg, daß die Fiebertraum zwar sehr gut aussah, daß aber ihr Kapitän nur ein unfähiger Mann vom oberen Flußlauf sei, der nicht die Courage habe, sie voll auszufahren. Marsh platzte fast der Schädel bei solchem Unsinn. Es wurde auch über York geredet, über ihn und seine seltsamen Freunde. Die Fiebertraum war tatsächlich im Begriff, einen bestimmten Ruf zu bekommen, das stimmte schon, aber der war nicht so geartet, daß Abner Marsh darüber in Freudenstürme ausgebrochen wäre.

Als sie sich Natchez näherten und in den Hafen hineindampften, hatte Marsh wirklich genug erlebt.

Es war die Stunde der ersten zaghaften Dämmerung, als sie Natchez zum erstenmal in der Ferne sichteten. Die ersten Lampen brannten am trüben Nachmittag, und die Schatten wurden von Westen her immer länger. Bis auf die Hitze war es ein schöner Tag gewesen; sie hatten seit dem Verlassen Cairos ihre beste Zeit geschafft. Auf dem Fluß lag ein goldener Glanz, und die Sonne blitzte darauf wie polierter Messingschmuck, prachtvoll auf dem Wasser hüpfend und tanzend, als ein leichter Wind aufkam und die Fluten kräuselte. Marsh hatte sich an diesem Nachmittag ins Bett gelegt, weil er sich etwas unwohl fühlte, aber er tauchte aus seiner Kabine auf, als er den Schrei der Dampfpfeife hörte als Antwort auf den Ruf eines anderen Raddampfers, der hoch und schnell durch das Wasser herankam. Sie verständigten sich, wie Marsh wußte, wie es immer geschieht, wenn ein flußabwärts und ein flußaufwärts fahrendes Schiff sich begegnen, und teilten sich gegenseitig mit, welches von beiden sich rechts hielt und welches links, wenn sie einander passierten. So etwas geschah jeden Tag etwa dutzendmal. Aber im Ruf des anderen Bootes war etwas, das ihn anrief, ihn aus seinen verschwitzten Laken herausscheuchte, und er kam rechtzeitig auf das Texasdeck, um sie vorbeirauschen zu sehen; die Eclipse, schnell und würdevoll; das vergoldete Gebilde zwischen ihren Schornsteinen funkelte in der Sonne, die Passagiere drängten sich an Deck, und dichte Rauchwolken wallten hinter ihr her. Marsh schaute ihr nach, als sie flußaufwärts verschwand, bis nur noch die Rauchschwaden zu erkennen waren. Dabei hatte er die ganze Zeit ein seltsames Gefühl in der Magengrube.

Nachdem die Eclipse verschwunden war, wie ein Traum am Morgen verblaßt, wandte Marsh sich um, und da lag Natchez vor ihm. Er hörte das Glockensignal, das das Anlegemanöver ankündigte, und ihre Pfeife ließ sich erneut vernehmen.

Ein Gedränge von Raddampfern besetzte den Kai, und dahinter warteten zwei Städte auf die Fiebertraum. Hoch oben auf seinen ausgedehnten Felsbastionen lag Natchez‐on‐the‐Hill, die eigentliche Stadt mit ihren breiten Straßen, den Bäumen und Blumen und all den prächtigen Häusern. Jede Straße hatte einen Namen. Monmouth. Linden. Auburn. Ravenna. Concord und Belfast und Windy Hill. The Burn. Marsh war in jüngeren Jahren, bevor er eigene Dampfschiffe besaß, etliche Male in Natchez gewesen, und er hatte sich geschworen, einmal dort hinaufzusteigen und sich all die mehrstöckigen Häuser anzusehen. Es waren gottverdammte Paläste, jedes von ihnen, und Marsh fühlte sich dort nicht richtig wohl. Die alten Familien, die darin wohnten, benahmen sich auch noch wie Könige; hochmütig und arrogant, tranken sie ihre Mint Juleps und ihre Sherry Cobblers, kühlten ihren verdammten Wein mit Eis, vertrieben sich die Zeit, indem sie ihre hochgezüchteten Pferde um die Wette laufen ließen, und jagten Bären, duellierten sich mit Revolvern und Bowiemessern wegen der geringsten Kleinigkeiten. Marsh hatte einmal gehört, wie man sie nannte: die Nabobs. Sie waren ein feiner Haufen, und jeder gottverdammte Bursche davon führte sich auf, als ob er mindestens Colonel wäre. Manchmal tauchten sie am Anlegeplatz auf, und dann mußte man sie an Bord einladen, zu Zigarren und Drinks, ganz gleich, wie sie sich benahmen.

Aber es war auch eine seltsam blinde Gesellschaft. Von ihren großen Häusern auf den Felsen aus blickten die Nabobs auf die funkelnde Majestät des Flusses, aber aus irgendeinem Grunde konnten sie die Dinge nicht sehen, die sich direkt unter ihnen befanden.

Denn unterhalb ihrer Anwesen, ihrer Herrenhäuser, zwischen dem Fluß und den Felsbastionen befand sich eine andere Stadt: Natchez‐under‐the‐Hill. Keine Marmorsäulen standen dort, und es gab dort auch verdammt wenige Blumen. Die Straßen waren Schlamm und Staub. Freudenhäuser drängten sich um den Dampfboothafen und säumten die Silver Street oder was davon noch übrig war. Ein großer Teil der Straße war vor zwanzig Jahren in den Fluß gesackt, und die Gehsteige, die noch übrig waren, hingen schief herab und waren mit aufgedonnerten Frauen und gefährlichen, fischäugigen, geckenhaften jungen Männern besetzt. Die Main Street bestand aus Saloons und Billardsälen und Spielhallen, und jede Nacht kochte und brodelte die Stadt unter der Stadt. Streit und Prügeleien und Blut, gezinktes Poker und spanische Beerdigungen, Huren, die zu fast allem bereit waren, und Männer, die einen angrinsten und einem die Geldbörse abnahmen und einem dafür die Kehle aufschlitzten, das war Natchez‐under‐the‐Hill. Whiskey und Fleisch und Karten, rotes Licht und obszöne Lieder und verwässerter Gin, so sah der Betrieb am Fluß aus. Dampfschiffer liebten und haßten Natchez‐under‐the‐Hill und seine umherhastende Bevölkerung von billigen Frauen und Halsabschneidern und Glücksspielern und freien Schwarzen und Mulatten, obgleich die älteren Männer schworen, daß die Stadt unter den Felsen bei weitem nicht mehr so wild war wie vor vierzig Jahren oder gar vor dem Tornado, den Gott 1840 geschickt hatte, um sie zu säubern. Marsh wußte davon nichts; für ihn war sie wild genug, und er hatte vor einigen Jahren dort so manche denkwürdige Nacht verbracht. Aber diesmal hatte er ein ungutes Gefühl dabei.

Marsh erwog kurz den Gedanken, die Stadt zu passieren, zum Ruderhaus hinaufzusteigen und Albright mitzuteilen, er solle die Fahrt fortsetzen. Aber sie mußten Passagiere absetzen, Fracht löschen, und die Mannschaft freute sich sicher schon auf eine Nacht im vielgerühmten Natchez, daher verwarf Marsh seine düsteren Ahnungen. Die Fiebertraum dampfte in den Hafen und machte für die Nacht fest. Sie legten sie still, ließen den Dampf ab und die Feuer in ihren Eingeweiden verlöschen, und dann strömte die Mannschaft vom Schiff wie Blut aus einer offenen Wunde. Einige blieben auf dem Kai zurück, um Eiscreme oder Obst bei den schwarzen Händlern mit ihren Karren zu kaufen, doch die meisten eilten durch die Silver Street zu den verheißungsvollen hellen Lichtern.

Abner Marsh lungerte auf dem Texasdeck herum, bis die ersten Sterne sich hervorwagten. Gesangsfetzen schwebten aus den Fenstern der Freudenhäuser über das Wasser, aber sie verbesserten seine Stimmung nicht. Schließlich öffnete Joshua York seine Kabinentür und trat in die Nacht hinaus. »Gehen Sie an Land, Joshua?« fragte Marsh ihn.

York lächelte kühl. »Ja, Abner.«

»Wie lange werden Sie diesmal wegbleiben?«

Joshua York deutete ein Achselzucken an. »Das kann ich nicht sagen. Ich werde so schnell es geht wieder zurückkommen. Warten Sie auf mich.«

»Ich sollte Sie lieber begleiten, Joshua«, sagte Marsh. »Das dort draußen ist Natchez. Natchez‐under‐the‐Hill. Dort weht ein rauher Wind. Am Ende hängen wir hier einen ganzen Monat fest, während Sie mit aufgeschlitzter Kehle irgendwo in der Gosse liegen. Lassen Sie mich mitkommen, um auf Sie aufzupassen. Ich bin ein Mann vom Fluß. Sie nicht.«

»Nein«, wehrte York ab. »Ich habe an Land einige Geschäfte zu erledigen, Abner.«

»Wir sind doch Partner, nicht wahr? Ihre Geschäfte sind meine Geschäfte, wenn es die Fiebertraum betrifft.«

»Ich habe neben Ihrem Raddampfer auch noch andere Interessen, mein Freund. Dinge, bei denen Sie mir nicht helfen können. Einige Dinge, die ich ganz allein erledigen muß.«

»Simon geht mit Ihnen, nicht wahr?«

»Manchmal. Das ist etwas anderes, Abner. Simon und ich haben … gewisse gemeinsame Interessen, die wir beide, Sie und ich, nicht haben.«

»Sie haben einmal Feinde erwähnt, Joshua. Wenn es das ist, was Sie vorhaben, sich um die zu kümmern, die Ihnen geschadet haben, dann sagen Sie es nur. Ich helfe Ihnen.«

Joshua York schüttelte den Kopf. »Nein, Abner. Meine Feinde sind wahrscheinlich nicht Ihre Feinde.«

»Lassen Sie das lieber mich entscheiden, Joshua. Sie waren bisher zu mir immer fair. Vertrauen Sie darauf, daß auch ich fair sein werde.«

»Das kann ich nicht«, entgegnete York kummervoll. »Abner, wir haben eine Abmachung getroffen. Stellen Sie mir keine Fragen. Bitte. Und nun lassen Sie mich freundlicherweise durch.«

Abner Marsh nickte und trat beiseite, und Joshua York eilte an ihm vorbei und die Treppe hinunter. »Joshua«, rief Marsh ihm nach, als York fast das Ende der Treppe erreicht hatte. Der Angerufene drehte sich um. »Nehmen Sie sich in acht, Joshua«, warnte Marsh. »In Natchez geht es oft … blutig zu.«

York starrte einen langen Augenblick zu ihm hinauf, seine Augen grau und der Ausdruck in ihnen unlesbar wie Rauch. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich werde mich vorsehen.« Dann drehte er sich um und eilte davon.

Abner Marsh schaute ihm nach, während er an Land ging und sich in Richtung Natchez‐under‐the‐Hill entfernte, wobei seine schlanke Gestalt im Licht der Petroleumlampen lange Schatten warf. Als Joshua York nicht mehr zu sehen war, wandte Marsh sich um und ging nach vorn zur Kapitänskabine. Die Tür war verschlossen, wie er es erwartet hatte. Marsh griff in seine geräumige Tasche und holte den Schlüssel heraus.

Er zögerte, ehe er ihn ins Schloß schob. Sich von den Schlüsseln Duplikate anfertigen zu lassen und sie im Safe des Dampfers aufzubewahren, war kein Verrat, sondern einfach nur vernünftig. Es kam vor, daß Menschen in ihren verriegelten Kabinen starben, und dann war es günstiger, einen Ersatzschlüssel zu haben, als die Tür aufzubrechen. Aber diesen Schlüssel auch zu benutzen, war eine andere Sache. Er hatte immerhin eine Vereinbarung getroffen. Aber Geschäftspartner mußten sich gegenseitig vertrauen, und wenn Joshua York ihm nicht trauen wollte, wie konnte er dann andererseits von ihm Vertrauen erwarten? Entschlossen entriegelte Marsh das Schloß und betrat Yorks Kabine.

Er zündete eine Petroleumlampe an und verriegelte die Tür hinter sich. Für einen Moment stand er unschlüssig da, schaute sich um und fragte sich, was er eigentlich zu finden hoffte. Yorks Kabine war lediglich ein geräumiges Einzelabteil und sah genauso aus wie bei allen vorherigen Gelegenheiten, bei denen Marsh sich in ihr aufgehalten hatte. Dennoch mußte es irgend etwas geben, das ihm Aufschluß über York geben würde, das ihm einen Hinweis auf Herkunft und Ursache der Absonderlichkeiten seines Partners lieferte.

Marsh bewegte sich zum Schreibtisch, der ihm als wahrscheinlichste Ort erschien, mit seiner Suche zu beginnen, ließ sich langsam in Yorks Sessel sinken und begann die Zeitungen durchzublättern. Er berührte sie behutsam und merkte sich die Position jeder Zeitung, bevor er sie zu einer eingehenderen Untersuchung herauszog, so daß er alles so hinterlassen würde, wie er es vorgefunden hatte. Die Zeitungen waren … nun, Zeitungen. Etwa fünfzig Stück lagen auf dem Schreibtisch, alte und neue Ausgaben, der Herald und die Tribune aus New York, einige Zeitungen aus Chicago, sämtliche Blätter aus St. Louis und New Orleans, Zeitungen aus Napoleon und Baton Rouge und Memphis und Greenville und Vicksburg und Bayou Sara sowie Wochenjournale aus einem Dutzend kleiner Flußorte: Die meisten waren unversehrt. Aus einigen waren Artikel ausgeschnitten worden.

Unter dem Zeitungsstapel fand Marsh zwei in Leder gebundene Hauptbücher. Er zog sie behutsam hervor und versuchte dabei, ein nervöses Verkrampfen seines Magens zu ignorieren. Vielleicht hatte er ein Journal oder ein Tagebuch in Händen, dachte Marsh, etwas, das ihm verriet, woher York kam und welche Ziele er verfolgte. Er schlug das erste Buch auf und runzelte enttäuscht die Stirn. Kein Tagebuch. Nur Artikel, sorgfältig aus Zeitungen ausgeschnitten und eingeklebt, jeder mit einem Datum und einer Ortsangabe in Joshuas flüssiger Handschrift versehen.

Marsh las den Artikel, den er aufgeschlagen hatte, aus einer Zeitung in Vicksburg, über eine Leiche, die am Flußufer angetrieben worden war. Laut Datum war das vor sechs Monaten geschehen. Auf der gegenüberliegenden Seite befanden sich zwei Meldungen, beide ebenfalls aus Vicksburg; eine Familie war tot in einer Baracke, zwanzig Meilen von der Stadt entfernt, aufgefunden worden; ein Negermädchen — wahrscheinlich eine Ausreißerin — war im Wald gefunden worden, tot aus unbekannten Gründen.

Marsh blätterte weiter, las, blätterte weiter. Nach einiger Zeit schlug er das Buch zu und griff nach dem nächsten. Es war das gleiche. Seite für Seite mit aufgefundenen Leichen, geheimnisvollen Todesfällen, unbekannten Toten, die man hier und da gefunden hatte, alle um die Stadt verteilt. Marsh schlug die Bücher zu, legte sie an ihren Platz zurück und versuchte nachzudenken. In den Zeitungen standen zahlreiche Meldungen über Sterbefälle und Morde, die auszuschneiden York sich gar nicht die Mühe gemacht hatte. Warum? Er blätterte ein paar Zeitungen durch und überflog sie, bis er sich ganz sicher sein konnte. Dann machte Marsh ein finsteres Gesicht. Es schien, als interessiere Joshua sich nicht für Schießereien oder Messerstechereien, für Flußleute, die ertrunken oder bei einer Kesselexplosion ums Leben gekommen und verbrannt waren, für Diebe, die nach einem Richterspruch gehängt worden waren. Die Geschichten, die er sammelte, waren anders. Es waren Todesfälle, für die man niemanden verantwortlich machen konnte. Leute mit zerfetzten Kehlen. Leichen, allesamt verstümmelt und aufgeschlitzt oder auch schon zu stark verwest, um feststellen zu können, welche Todesursache vorlag. Aber auch unversehrte Leichen, die man tot aufgefunden hatte und für die es keine Erklärung gab, die Wunden aufwiesen, die einfach zu klein waren, um auf Anhieb gefunden zu werden, die vollkommen blutleer waren. In den beiden Hauptbüchern mußten sich fünfzig oder sechzig solcher Geschichten befinden; Todesfälle aus neun Monaten, die sich entlang des unteren Mississippi verteilten. Abner Marsh empfand kurz ein Gefühl der Angst, ihm wurde fast schlecht bei dem Gedanken, daß Joshua vielleicht Hinweise auf seine bösen Taten sammelte und sie wie Trophäen aufhob. Aber ein kurzes Nachdenken sagte ihm, daß das nicht der Fall sein konnte. Einige schon, vielleicht, aber in anderen Fällen stimmten die Datumsangaben nicht; als die Menschen ihren schrecklichen Tod gefunden hatten, war Joshua mit ihm in St. Louis oder New Albany oder an Bord der Fiebertraum gewesen. Er konnte damit nichts zu tun haben.

Dennoch, so erkannte Marsh, lag den Aufenthalten, die York angeordnet hatte, und seinen heimlichen Landausflügen ein spezielles Muster zugrunde. Er suchte die Schauplätze dieser Meldungen nacheinander auf. Was suchte York? Was … oder wen? Einen Feind? Einen Feind, der all das auf dem Gewissen hatte, der irgendwie unerkannt am Fluß unterwegs war? Wenn ja, dann stand Joshua auf der Seite des Rechts. Aber warum das Schweigen, wenn seine Absicht völlig berechtigt war?

Es mußte mehr als nur ein Feind sein, erkannte Marsh. Keine einzelne Person konnte für all die Morde auch nur in einem der Bücher verantwortlich sein, und Joshua hatte schließlich von ›Feinden‹ gesprochen. Außerdem war er aus New Madrid zurückgekommen und hatte Blut an den Händen gehabt, aber damit war seine Suche noch nicht beendet.

Er konnte sich keinen Reim darauf machen.

Marsh widmete sich bei seiner Suche jetzt den Schubladen und Fächern in Yorks Schreibtisch. Papier, gediegenes Briefpapier mit einem Bild der Fiebertraum und dem Namen der Dampfschiffahrtslinie versehen; Briefumschläge, Tinte, ein halbes Dutzend Bleistifte, ein Tintenlöscher. Eine Karte vom Flußsystem mit eingezeichneten Markierungen, Stiefelwichse, Siegelwachs: kurz, nichts Verwendbares. In einer Schublade fand er Briefe und nahm sie sich sofort hoffnungsvoll vor. Aber sie verrieten ihm nichts. Zwei waren Kreditbriefe, und der Rest war simple Geschäftskorrespondenz mit Agenten in London, New York, St. Louis und anderen Städten. Marsh stieß auf einen Brief von einem Bankier in St. Louis, der York auf die Fevre River Packets aufmerksam machte. »Ich denke, diese Firma ist für Ihre Zwecke, so wie Sie sie beschreiben, am besten geeignet«, hatte der Mann geschrieben. »Der Eigentümer ist ein erfahrener Flußmann, der für seine Ehrlichkeit bekannt ist, der ungeheuer häßlich und dabei fair sein soll und der kürzlich einige Rückschläge einstecken mußte, die ihn für Ihr Angebot empfänglich machen dürften.« Der Brief ging noch weiter, aber er verriet Marsh nichts, was er nicht schon längst gewußt hatte.

Nachdem er die Briefe wieder genauso arrangiert hatte, wie er sie vorgefunden hatte, erhob Abner Marsh sich und ging in der Kabine umher auf der Suche nach etwas anderem, nach anderen Hinweisen, die ihm Aufschlüsse geben könnten. Er fand nichts; Kleidung in den Schubladen, Yorks widerwärtig schmeckendes Spezialgetränk im Weinregal, Anzüge im Schrank, überall Bücher. Marsh las die Titel der Bände auf Yorks Nachttisch, einer war ein Buch mit Gedichten von Shelley, der andere ein medizinisches Fachbuch, von dem er kaum eine Zeile verstand. Das hohe Bücherregal enthielt eine Menge ähnlicher Werke; viel Prosa und Lyrik, zahlreiche historische Abhandlungen, Bücher über Medizin und Philosophie und Naturwissenschaften, ein staubiger alter Foliant über Alchemie, eine ganze Reihe Bücher in fremden Sprachen. Ein paar Bücher ohne Titel standen ebenfalls dort, handgebunden in bestem Leder und mit Goldschnitt versehen, und Marsh zog eins heraus in der Hoffnung, daß er das Tagebuch oder Journal gefunden hatte, das ihm die Antworten auf seine Fragen lieferte. Aber wenn es so etwas sein sollte, dann konnte er es dennoch nicht entziffern; der Text war in einer seltsamen verdrehten Sprache geschrieben, und die Handschrift zeigte nicht jene für Joshua typische Leichtigkeit und Eleganz, sondern sie war krakelig und winzig.

Marsh ließ seine Blicke ein letztesmal durch die Kabine schweifen, um sich zu versichern, daß er nichts übersehen hatte, und entschied schließlich, sie zu verlassen, am Ende genauso schlau wie in dem Augenblick, als er sie betreten hatte. Er schob den Schlüssel ins Schloß, drehte ihn behutsam, löschte die Lampe, trat hinaus und verriegelte die Tür hinter sich. Es hatte sich draußen etwas abgekühlt. Marsh bemerkte erst jetzt, daß er in Schweiß gebadet war. Er verstaute den Schlüssel wieder in seiner Jackentasche und wandte sich zum Gehen.

Und verharrte.

Ein paar Meter entfernt stand die gespenstische alte Frau, Katherine, und starrte ihn an, einen Ausdruck eisiger Feindseligkeit in den Augen. Marsh beschloß, die Situation mit Unverfrorenheit zu überspielen. Er tippte an seine Mütze. »Guten Abend, Ma’am«, sagte er zu ihr.

Katherine lächelte kalt; der in einem Grinsen langsam aufklaffende Mund verzerrte ihr fuchsartiges Gesicht zu einer Maske grausamer Schadenfreude. »Guten Abend, Captain«, erwiderte sie. Ihre Zähne waren, wie Marsh bemerkte, gelb — und sehr lang.


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