KAPITEL ACHT

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
Mississippi River, Juli 1857

Abner Marsh schnitt eine Ecke Cheddar aus dem Käserad auf dem Tisch, setzte es sorgfältig auf den Rest seines Apfelkuchen und schob sich beides mit einer schnellen Bewegung seiner großen roten Hand in den Mund. Er rülpste, wischte sich den Mund mit der Serviette ab, schüttelte sich ein paar Krümel aus dem Bart und lehnte sich mit einem zufriedenen Lächeln zurück.

»Ist der Kuchen gut?« fragte Joshua York und lächelte Marsh über den Rand seines Brandyglases hinweg an.

»Toby backt keinen schlechten Kuchen«, erwiderte Marsh. »Sie hätten ein Stück kosten sollen.« Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. »Na los, trinken Sie aus, Joshua. Es ist soweit.«

»Es ist soweit?«

»Sie wollen doch den Fluß kennenlernen, oder nicht? Wenn Sie die ganze Zeit am Tisch sitzen, wird daraus nichts, soviel kann ich Ihnen schon jetzt versichern.«

York leerte sein Glas, und sie stiegen gemeinsam zum Ruderhaus hinauf. Karl Framm hatte Dienst. Er räkelte sich auf der Couch, Rauch kräuselte aus seiner Pfeife, während sein Lehrling — ein hochgewachsener Junge mit langen blonden Haaren, die ihm bis in den Kragen hingen — am Ruderrad stand. »Cap’n Marsh«, begrüßte Framm seine Besucher und nickte. »Und Sie müssen dieser geheimnisvolle Cap’n York sein. Erfreut, Sie kennenzulernen. War bisher noch nie auf einem Raddampfer mit zwei Kapitänen.« Er grinste breit und entblößte dabei einen blitzenden Goldzahn. »Dieses Boot hat fast so viele Kapitäne wie ich Ehefrauen. Natürlich leuchtet das ein. Nun, dieses Schiff hat mehr Kessel und mehr Spiegel und mehr Silber als jedes andere, das ich je gesehen habe, deshalb muß es wohl auch mehr Kapitäne haben, denke ich mir.« Der hagere Lotse lehnte sich vor und klopfte etwas Asche aus seiner Pfeife in die Öffnung eines großen Eisenofens. Er war kalt und dunkel, da die Nacht heiß und schwül war. »Was kann ich für Sie tun, Gentlemen?« fragte Framm.

»Erklären Sie uns den Fluß«, sagte Marsh.

Framms Augenbrauen gingen in die Höhe. »Ich soll Ihnen den Fluß erläutern? Ich hab’ schon einen Lehrling. Stimmt’s nicht, Jody?«

»Sicher doch, Mister Framm.«

Framm lächelte und zuckte die Achseln. »Wissen Sie, ich lerne Jody an, und es ist alles längst abgemacht, ich bekomme sechshundert Dollar von seinem ersten Lohn, nachdem er die Lizenz bekommen hat und in die Gemeinschaft aufgenommen wurde. Ich mache es nur deshalb so billig, weil ich seine Familie kenne. Ich kann aber nicht behaupten, daß ich Ihre Familien kenne, das kann ich ganz und gar nicht behaupten.«

Joshua York öffnete die Knöpfe seiner dunkelgrauen Weste. Er trug darunter einen Geldgürtel. Er holte eine Zwanzig‐Dollar‐Münze hervor und legte sie auf den Ofen, wo das Gold auf der schwarzen Unterlage des Ofens leuchtete. »Zwanzig«, sagte York. Er legte eine weitere Münze darauf. »Vierzig«, sagte er. Dann eine dritte. »Sechzig.« Als er bei dreihundert angelangt war, knöpfte York die Weste zu. »Ich fürchte, das ist alles, was ich bei mir habe, Mister Framm, aber ich versichere Ihnen, daß ich nicht ohne Reserven bin. Einigen wir uns auf siebenhundert Dollar für Sie und den gleichen Betrag für Mister Albright, wenn Sie beide mich in die Anfangskenntnisse des Steuerns einweisen und Captain Marshs Kenntnisse auffrischen, so daß er sein eigenes Schiff lenken kann, wenn nötig. Zahlbar sofort, und nicht aus zukünftigen Löhnen. Was meinen Sie?«

Framm reagierte erstaunlich gelassen, dachte Marsh. Er zog ein paar Sekunden lang nachdenklich an seiner Pfeife, als würde er über das Angebot nachdenken, und schließlich streckte er die Hand aus und nahm den Stapel Goldmünzen. »Für Mister Albright kann ich nicht entscheiden, aber für mich selbst; ich war für die Farbe des Goldes schon immer empfänglich. Ich werde Sie einweisen. Was halten Sie davon, wenn Sie morgen im Laufe des Tages, wenn meine Schicht beginnt, heraufkommen?«

»Für Captain Marsh ist das vielleicht ein guter Vorschlag«, meinte York, »ich würde lieber jetzt gleich anfangen.«

Framm schaute sich um. »Zum Teufel«, sagte er. »Sehen Sie das denn nicht? Es ist Nacht. Ich habe Jody jetzt schon fast ein Jahr bei mir, und erst seit einem Monat lasse ich ihn auch mal nachts und bei Nebel ein Boot steuern. Bei Nacht auf dem Fluß zu fahren ist niemals einfach. Nein.« Sein Ton war bestimmt. »Ich kann mit Ihnen schon früh am Tag anfangen, wenn man sehen kann, wohin man fährt.«

»Ich werde bei Nacht lernen. Ich habe einen seltsamen Tagesablauf, Mister Framm. Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Ich verfüge über eine ausgezeichnete Nachtsichtfähigkeit, besser als Ihre, vermute ich.«

Der Lotse streckte die langen Beine aus, erhob sich und stakste durch das Ruderhaus, um das Rad wieder zu übernehmen. »Geh nach unten«, befahl er seinem Lehrling. Als der Junge gegangen war, sagte Framm. »Kein Mensch hat so gute Augen, daß er nachts auf einem schwierigen Flußabschnitt fahren kann.« Er wandte ihnen den Rücken zu und starrte auf das schwarze, von Sternenschein etwas erhellte Wasser vor dem Schiff. Weit flußaufwärts konnten sie die fernen Lichter eines anderen Dampfers erkennen. »Heute haben wir eine schöne, klare Nacht, keine nennenswerten Wolken, einen fast vollen Mond, einen guten Fluß. Sehen Sie auf das Wasser dort draußen. Wie schwarzes Glas. Schauen Sie sich die Ufer an. Es ist doch wirklich einfach, sie zu erkennen, nicht wahr?«

»Ja«, sagte York. Marsh grinste und sagte nichts.

»Nun«, sagte Framm, »so ist es nicht immer. Manchmal gibt es gar keinen Mond, manchmal verdecken die Wolken alles. Dann wird es verdammt schwarz um einen herum. Das wird so schlimm, daß Sie überhaupt nichts mehr erkennen. Die Ufer weichen zurück, so daß Sie nicht ausmachen können, wo sie verlaufen, und wenn Sie nicht wissen, was getan werden muß, dann laufen Sie Gefahr, mit dem Boot mitten hineinzufahren. Bei anderen Gelegenheiten treffen Sie auf Schatten, die sich auftürmen und so aussehen wie feste Gegenstände, und man muß dann wissen, daß sie es nicht sind, sonst verbringen Sie die ganze Nacht damit, Dingen auszuweichen, die überhaupt nicht vorhanden sind. Was meinen Sie, Cap’n York, woher weiß ein Lotse solche Dinge?« Framm gab ihm gar keine Gelegenheit zu einer Erwiderung. Er tippte sich gegen die Schläfe. »Er hat das alles in seinem Schädel, indem er den Fluß den ganzen Tag vor sich sieht und sich an alles erinnert, an jede Biegung, an jedes Haus am Ufer, an jeden Holzplatz, an jede tiefe und an jede seichte Stelle und wo man entlangfahren muß. Man lenkt einen Raddampfer mit dem, was man weiß, Cap’n York, und nicht mit dem, was man sieht. Aber man muß erst sehen, ehe man weiß, und bei Nacht kann man nicht richtig sehen.«

»Das ist wahr, Joshua«, bestätigte Abner Marsh und legte York eine Hand auf die Schulter.

York sagte leise: »Das Boot vor uns ist ein Dampfer mit Seitenrädern. Zwischen den Schornsteinen scheint die Lichterkette ein K zu bilden, und das Schiff hat ein Ruderhaus mit Kuppeldach. Im Augenblick passiert das Boot einen Holzplatz. Es gibt dort ein halbverfallenes Anlegefloß, an dessen Ende ein Schwarzer sitzt und auf den Fluß hinausschaut.«

Marsh ließ Yorks Schulter los und ging zum Fenster und schaute blinzelnd hinaus. Das andere Boot hatte noch einen großen Vorsprung. Er konnte undeutlich ausmachen, daß es ein Seitenraddampfer war, aber das Gebilde zwischen ihren Schornsteinen … die Schornsteine waren schwarz vor einem schwarzen Himmel, er konnte sie kaum erkennen, und dann auch nur dank der Funken, die herausgeschleudert wurden. »Verdammt«, sagte er.

Framm drehte sich um und starrte York mit überraschten Augen an. »Ich kann noch nicht mal die Hälfte erkennen«, sagte er, »aber ich glaube dennoch, daß Sie recht haben.« Ein paar Augenblicke später dampfte die Fiebertraum an dem Holzplatz vorbei, und da saß der alte Farbige genauso, wie York ihn beschrieben hatte. »Er raucht eine Pfeife«, sagte Framm schmunzelnd. »Das haben Sie ausgelassen.«

»Entschuldigung«, sagte Joshua York.

»Nun«, sagte Framm nachdenklich, »nun.« Er kaute auf seiner Pfeife herum und richtete den Blick nach vorn auf den Fluß. »Sie haben wirklich gute Augen, das muß ich Ihnen doch mal sagen. Aber ich bin mir noch immer nicht ganz sicher. In einer klaren Nacht ist es nicht schwer, einen Holzplatz schon von weitem zu erkennen. Einen alten Schwarzen zu entdecken, ist sehr viel schwerer, wo diese Leute doch mit dem Hintergrund völlig verschmelzen, aber das ist nur eine Sache, und der Fluß selbst ist eine ganz andere. Es gibt sehr viele kleine Dinge, die ein Lotse erkennen können muß, die der normale Kabinenpassagier nicht einmal bemerkt. Die Veränderungen im Wasser, wenn eine Sandbank oder ein sonstiges Hindernis unter der Oberfläche lauert. Alte abgestorbene Bäume, die einem das Alter des Flusses hundert Meilen weiter verraten. Die Merkmale, wodurch ein Felsriff sich von einem Windriff unterscheidet. Sie müssen den Fluß lesen können wie ein Buch, in dem die Strömungen und Turbulenzen die Worte sind, manchmal schon so verblaßt, daß man sie nicht mehr richtig erkennen kann, und dann müssen Sie sich auf das verlassen können, woran Sie sich vom letzten Lesen dieser speziellen Buchseite erinnern können. Aber Sie würden doch niemals versuchen, ein Buch bei Dunkelheit zu lesen, oder etwa doch?«

York ging nicht auf die Frage ein. »Ich kann eine Turbulenz im Wasser genauso leicht erkennen wie einen Holzplatz, wenn ich weiß, wonach ich Ausschau halte. Mister Framm, wenn Sie mir nichts über den Fluß beibringen können, dann suche ich mir einen Lotsen, der es kann. Ich will Sie nur daran erinnern, daß ich der Eigentümer und Kapitän der Fiebertraum bin.«

Framm blickte in die Runde und runzelte diesmal die Stirn. »Noch mehr Arbeit für die Nacht«, sagte er. »Wenn Sie nachts lernen wollen, dann erhöht sich der Preis auf achthundert.«

Yorks Gesichtsausdruck entspannte sich zu einem zurückhaltenden Lächeln. »Abgemacht«, sagte er. »Und jetzt wollen wir anfangen.«

Karl Framm schob seinen Schlapphut so weit zurück, daß er nur noch seinen Hinterkopf bedeckte, und stieß einen langen Seufzer aus wie ein Mann, dem man einen Schabernack spielte. »Na schön«, sagte er, »es ist Ihr Geld und auch Ihr Boot. Kommen Sie nicht zu mir, wenn dem Schiff der Boden aufgerissen wird. Hören Sie jetzt genau zu: Der Fluß verläuft von St. Louis bis hinunter nach Cairo ziemlich gerade, ehe der Ohio hineinmündet. Aber Bescheid wissen müssen Sie darüber. Dieser Abschnitt wird gelegentlich ›der Friedhof‹ genannt, denn hier sind eine Menge Boote untergegangen. Man kann von einigen noch die Schornsteine sehen, die aus dem Wasser ragen, oder das ganze verdammte Wrack im Schlamm, wenn der Fluß seichter ist — die Lage derer, die unterhalb der Wasserlinie liegen, sollten Sie sich lieber merken, oder das nächste verdammte Boot, das flußabwärts unterwegs ist, wird erfahren müssen, wo Sie liegen. Sie müssen auch alle Kennzeichen erlernen und wie Sie mit einem Boot umgehen müssen. Da, kommen Sie her, und nehmen Sie das Rad, damit Sie ein Gefühl dafür bekommen. Im Augenblick würden Sie den Grund noch nicht einmal mit einem Kirchturm berühren, es besteht zur Zeit keinerlei Gefahr.« York und Framm tauschten die Plätze. »Also, der erste Punkt nach St. Louis …«, begann Framm. Abner Marsh ließ sich auf die Couch nieder und hörte zu, während der Lotse fortfuhr, von den Markierungen zu den Tricks des Steuerns überging und weiter zu Geschichten über die Raddampfer, die versunken im Friedhof lagen, über den sie gerade hinwegliefen. Er war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler, aber nach jeder Story widmete er sich wieder seiner augenblicklichen Aufgabe und kam auf die Markierungen zu sprechen. York nahm alles in sich auf, ohne ein Wort zu sagen. Er schien den Trick des richtigen Steuerns sehr schnell zu erlernen, und immer dann, wenn Framm innehielt und ihn aufforderte, einige der Informationen zu wiederholen, rasselte Joshua sie augenblicklich herunter.

Nach einiger Zeit, nachdem sie den Seitenraddampfer, der vor ihnen unterwegs gewesen war, eingeholt und überholt hatten, ertappte Marsh sich dabei, daß er gähnte. Aber es war eine so schöne klare Nacht, daß er keinesfalls Lust hatte, jetzt zu Bett zu gehen. Er raffte sich auf und ging hinunter zum Texasdeck, von wo er mit einer Kanne heißen Kaffees und einem Teller Pastetchen zurückkehrte. Als er ankam, sponn Karl gerade das Seemannsgarn über das Wrack der Drennan Whyte, die im Jahr ’50 mit einem Schatz an Bord oberhalb von Natchez gesunken war. Die Evermonde versuchte sie zu heben, fing Feuer und soff ebenfalls ab. Die Ellen Adams, ein Bergungsdampfer, suchte ’51 nach dem Schatz, lief auf einen Baumstamm auf und sackte halb weg. »Der Schatz ist verflucht, verstehen Sie«, sagte Framm, »entweder das, oder der alte Teufel von Fluß gibt nicht her, was er einmal hat.«

Marsh lächelte und schenkte Kaffee ein. »Joshua«, sagte er, »diese Geschichte entspricht den Tatsachen, aber glauben Sie nicht alles, was er sagt. Dieser Mann ist der hemmungsloseste Lügner auf dem ganzen Fluß.«

»Nun, Cap’n!« sagte Framm grinsend. Er wandte sich wieder zum Fluß. »Sehen Sie die alte Hütte dort unten mit der halb zerfallenen Veranda?« fragte er. »Gut, denn die müssen Sie sich merken …« Und er war wieder bei seinen Schiffen gelandet. Es dauerte zwanzig Minuten, ehe er durch die Geschichte von der E. Jenkins abgelenkt wurde, von dem Raddampfer, der dreißig Meilen lang war und in der Mitte Scharniere besaß, so daß er um die Flußbiegungen herumkam. Selbst Joshua York bedachte Framm deswegen mit einem ungläubigen Blick. Aber er lächelte.

Marsh zog sich eine Stunde, nachdem er die letzten Pasteten verzehrt hatte, zurück. Framm war recht amüsant, aber er würde seine Lektionen bei Tag nehmen, wenn er die Markierungen deutlich sehen konnte, die der Lotse aufzählte und erklärte.

Als er erwachte, war es früher Morgen, und die Fiebertraum befand sich in Cape Girardeau und nahm eine Ladung Mahlgut auf. Er erfuhr, daß Framm beabsichtigt hatte, dort während der Nacht anzulegen, falls es Nebel geben sollte. Cape Girardeau war eine stolze Stadt, die oben auf ihren Felsen thronte, etwa 150 Meilen flußabwärts von St. Louis, und Marsh stellte einige Berechnungen an und war mit ihrer Zeit zufrieden. Es war kein Rekord, aber die Zeit war gut.

Nach einer Stunde war die Fiebertraum wieder unterwegs und fuhr flußabwärts. Die Julisonne schickte ihre glühenden Strahlen vom Himmel, die Luft war zäh vor Hitze und Feuchtigkeit und Insekten, aber oben auf dem Texasdeck war es kühl und friedlich. Die Zwischenstops waren zahlreich. Mit ihren achtzehn Kesseln, die geheizt werden mußten, fraß der Raddampfer das Holz geradezu, aber der Treibstoffnachschub war kein Problem; Holzplätze waren in regelmäßigen Abständen am Ufer angelegt. Immer wenn ihr Vorrat zur Neige ging, gab der Maat dem Lotsen ein Zeichen, und sie legten unweit irgendeiner winzigen windschiefen Hütte an, die von hohen Stapeln zurechtgeschnittener Birken‐ oder Eichen‐ oder Kastanienbretter umgeben war, und Marsh oder Jonathon Jeffers gingen an Land, um mit dem Holzplatzverwalter zu verhandeln. Sobald sie ein Zeichen gaben, strömten die Deckshelfer an Land und stürzten sich auf die bezeichneten Holzberge, und im Nu waren die Stapel abgetragen und an Bord des Dampfers verstaut. Die Kabinenpassagiere schauten immer gern von der Reling auf dem Kesseldeck zu, wenn Holz aufgenommen wurde. Die Deckspassagiere standen immer nur im Weg.

Sie hielten auch an allen möglichen Städten und Ortschaften an und sorgten stets für große Aufregung. Sie stoppten an einer unmarkierten Anlegestelle, um einen Passagier aussteigen zu lassen, und an einem privaten Liegeplatz, um einen anderen aufzunehmen. Gegen Mittag legten sie wegen einer Frau und eines Kindes an, die ihnen vom Ufer aus zugewinkt hatten, und gegen vier mußten sie ihre Fahrt verlangsamen und die Schaufelräder rückwärts laufen lassen, damit drei Männer in einem Ruderboot den Dampfer einholen und an Bord klettern konnten. An diesem Tag fuhr die Fiebertraum nicht weit, und sie kam auch nicht schnell voran. Als die untergehende Sonne die Fluten des breiten Flusses tiefrot färbte, kam Cairo in Sicht, und Dan Albright entschied, daß sie dort für die Nacht anlegen sollten.

Südlich von Cairo mündete der Ohio in den Mississippi, und die beiden Flüsse boten einen seltsamen Anblick. Sie vermischten sich nicht sofort, sondern blieben vorerst getrennt, wodurch die klaren blauen Fluten des Ohio einen hellen Streifen am östlichen Ufer bildeten und in Kontrast zum schlammigen braunen Wasser des Mississippi standen. Von diesem Punkt an gewann der Fluß auch seinen ganz speziellen, sonderbaren Charakter; von Cairo bis nach New Orleans und weiter zum Golf, auf einer Strecke von fast 1100 Meilen also, wand und krümmte sich der Mississippi wie eine Schlange, änderte seinen Lauf beim geringsten Hindernis, fraß sich dann unerwarteterweise durch weiches Erdreich, ließ manchmal Docks hoch und ausgetrocknet aufragen und setzte an anderen Stellen ganze Städte unter Wasser. Die Lotsen behaupteten, daß der Fluß niemals das gleiche Gesicht zeigte. Der obere Mississippi, wo Abner Marsh geboren worden war und sein Handwerk erlernt hatte, war eine völlig andere Gegend. Dort floß er zwischen hohen, felsigen Hängen dahin und verlief im wesentlichen gerade. Marsh stand lange oben auf dem Sturmdeck, betrachtete die vorbeigleitende Szenerie und versuchte ihre Andersartigkeit und ihre Auswirkung auf seine Zukunft zu spüren. Er war vom Oberlauf auf den Unterlauf des Flusses hinübergewechselt, dachte er, und somit in einen ganz neuen Lebensabschnitt.

Kurz darauf hielt Marsh mit Jeffers in dessen Büro ein Schwätzchen, als er hörte, wie die Glocke dreimal anschlug. Es war das Signal zum Anlegen. Er runzelte fragend die Stirn und schaute aus Jeffers’ Fenster. Es war nichts zu sehen als bewaldete Ufer. »Ich möchte wissen, warum wir haltmachen«, sagte Marsh. »Der nächste Zwischenstop sollte New Madrid sein. Ich kenne diesen Teil des Flusses kaum, aber New Madrid ist das ganz bestimmt nicht.«

Jeffers hob die Schultern. »Vielleicht hat uns jemand gewinkt.«

Marsh entschuldigte sich und stieg hinauf ins Ruderhaus. Dan Albright stand am Ruderrad. »Hat jemand ein Signal gegeben?« erkundigte Marsh sich.

»No, Sir«, antwortete Albright. Er gehörte zu der wortkargen Sorte. Er antwortete nur auf das, was man ihn fragte, und das sehr sparsam.

»Wo legen wir an?«

»An einem Holzplatz, Cap’n.«

Marsh sah, daß voraus am Westufer tatsächlich ein Holzplatz lag. »Mister Albright, ich denke, wir haben erst vor einer Stunde frisches Holz geladen. Das kann doch nicht alles schon wieder verheizt sein. Hat Hairy Mike Ihnen gesagt, Sie sollen anlegen?« Der Maat hatte die Aufgabe, den Holzvorrat zu überwachen und darauf aufmerksam zu machen, wenn Nachschub gebraucht wurde.

»Nein, Sir. Das geschieht auf Captain Yorks Befehl. Mir wurde mitgeteilt, ich solle an diesem speziellen Holzplatz anlegen, ob wir Holz brauchen oder nicht.« Albright wandte sich zu Marsh um. Er war ein hübscher kleiner Bursche mit einem schmalen dunklen Schnurrbart, einer roten Seidenkrawatte und Lederstiefeln. »Wollen Sie, daß ich weiterfahre?«

»Nein«, sagte Abner Marsh hastig. York hätte ihm Bescheid sagen können, dachte er, aber ihre Abmachung gab Joshua das Recht, seltsame Befehle zu erteilen. »Wissen Sie, wie lange wir hier bleiben werden?«

»York hat an Land zu tun. da er nie vor Einbruch der Dunkelheit aus seiner Kabine kommt, dann dürfte es wohl den ganzen Tag bis in die Nacht hinein dauern.«

»Verdammt. Unser Fahrplan — die Passagiere werden mir jede Menge lästige Fragen stellen.« Marsh machte ein finsteres Gesicht. »Na ja, ich denke, daran kann man nichts ändern. Wenn wir schon mal hier sind, können wir auch gleich Holz nachladen. Ich kümmere mich darum.«

Marsh handelte mit dem Jungen, der den Holzplatz leitete, einem schlanken Neger in einem leichten Baumwollhemd, einen erträglichen Preis aus. Viel schien der Neger vom Feilschen nicht zu halten; Marsh bekam von ihm Birkenholz zu Cottonwood‐Preisen und überredete ihn, auch noch ein paar Tannenkloben dazuzupacken. Während die Schauerleute und die Deckshelfer herüberkamen, um mit dem Laden zu beginnen, schaute Marsh dem Farbigen in die Augen, lächelte und sagte: »Du bist neu hier, nicht wahr?«

Der Junge nickte. »Yassuh, Cap’n.« Marsh nickte und schickte sich an, auf seinen Dampfer zurückzukehren, als der Junge fortfuhr: »Ich bin erst eine Woche hier, Cap’n. Der alte Weiße, der früher hier wohnte, wurde von Wölfen gefressen.«

Marsh starrte den Jungen an. »Wir sind hier doch nur zwei Meilen von New Madrid entfernt, oder nicht, Junge?«

»Das stimmt, Cap’n.«

Als Abner Marsh auf die Fiebertraum kam, war er innerlich in Aufruhr. Verdammter Joshua York, dachte er. Was hatte der Mann vor, und warum mußten sie einen ganzen Tag an diesem verschlafenen Holzplatz vergeuden? Marsh hatte nicht übel Lust, zu Yorks Kabine hinaufzustürmen und ihm die Meinung zu sagen. Er zog diesen Schritt kurz in Erwägung, dann überlegte er es sich jedoch anders. Es ging ihn nichts an, rief Marsh sich ins Gedächtnis. Er fand sich damit ab, auf seinen Partner zu warten.

Die Stunden verstrichen träge, während die Fiebertraum wie tot im Wasser vor dem Holzplatz lag. Ein Dutzend anderer Raddampfer glitten zu Abner Marshs Verärgerung in dieser Zeit flußabwärts. Fast ebenso viele waren flußaufwärts unterwegs. Die einzige Abwechslung des Nachmittags bot ein Messerduell zwischen zwei Deckspassagieren, bei dem niemand verletzt wurde. Die meiste Zeit verbrachten die Passagiere und die Mannschaft der Fiebertraum auf ihren Decks, wo sie die Liegestühle in die Sonne geschoben hatten und rauchten oder Tabak kauten oder über Politik diskutierten. Jeffers und Albright spielten im Ruderhaus Schach. Framm erzählte im großen Salon wilde Geschichten. Einige der Damen äußerten den Wunsch zu tanzen. Und Abner Marsh wurde immer ungeduldiger.

Bei Einbruch der Dunkelheit saß Marsh oben auf der Texasveranda, trank Kaffee und zerquetschte Moskitos, als er zufällig gerade rechtzeitig zum Ufer blickte, um Joshua York beim Verlassen des Raddampfers zu beobachten. Simon begleitete ihn. Sie gingen zur Hütte, unterhielten sich kurz mit dem Holzplatzjungen, dann verschwanden sie auf einer zerfurchten Lehmstraße im Wald. »Ich glaub’, ich werd’ nicht mehr«, sagte Marsh und erhob sich. »Ohne ein Wort zu sagen.« Er runzelte die Stirn. »Und auch ohne Abendessen.« Das erinnerte ihn an seinen Hunger, und er ging hinunter in die Hauptkabine, um zu speisen.

Die Nacht verstrich; Passagiere und Mannschaft wurden allmählich unruhig. An der Bar wurde viel getrunken. Ein Plantagenbesitzer holte Karten hervor und begann eine Runde Brag, und andere Gäste stimmten ein heiseres Lied an, und ein säuerlicher junger Mann fing sich einen Stockhieb ein, weil er lauthals die Abschaffung der Sklaverei forderte.

Kurz vor Mitternacht kehrte Simon alleine zurück. Abner Marsh hielt sich im Salon auf, als Hairy Mike ihm auf die Schulter tippte; Marsh hatte Befehl gegeben, man solle ihn sofort benachrichtigen, wenn York wieder zurückkam. »Holen Sie Ihre Leute an Bord, und bestellen Sie Whitey, er soll Dampf machen«, sagte er dem Maat, »wir müssen einige Zeit aufholen.« Dann wollte er York aufsuchen. Aber York war nicht da.

»Joshua will, daß Sie weiterfahren«, meldete Simon. »Er bleibt an Land und trifft uns in New Madrid. Dort sollen Sie auf ihn warten.« Hitzige Fragen ergaben aber keine weiteren Informationen; Simon fixierte Marsh nur mit seinen kleinen kalten Augen und wiederholte die Nachricht, daß die Fiebertraum in New Madrid auf York warten solle.

Sobald genügend Dampf in den Kesseln war, wurde es eine kurze, angenehme Fahrt. New Madrid lag nur ein paar Meilen flußabwärts von dem Holzplatz entfernt, wo sie den ganzen Tag gelegen hatten. Marsh fiel der Abschied von diesem öden Ort nicht schwer, als sie in die Nacht hinausdampften. »Dieser verdammte Joshua«, murmelte er.

In New Madrid verloren sie fast zwei volle Tage.

»Er ist tot«, äußerte Jonathon Jeffers seine Meinung, als sie schon eineinhalb Tage festlagen. New Madrid hatte Hotels, Billardhallen, Kirchen und allerlei andere Unterhaltungsmöglichkeiten, die man auf Holzplätzen nicht antraf, daher war die Zeit, die man festlag, nicht annähernd so langweilig, aber nichtsdestoweniger warteten alle ungeduldig auf die Fortsetzung der Reise. Ein halbes Dutzend Passagiere, ungehalten über den Aufenthalt bei besten Wetterbedingungen — das Boot war in gutem Zustand, die Landungsbrücke stand hoch — kamen zu Marsh und forderten die Rückzahlung der Passagengebühr. Sie wurden entrüstet abgewiesen, aber Marsh schäumte innerlich vor Wut und fragte ziemlich laut, in was Joshua York wohl hineingeraten sein mochte.

»York ist nicht tot«, sagte Marsh. »Ich sage nicht, daß er sich vielleicht den Tod wünschen wird, wenn ich ihn in die Finger bekomme, aber noch ist er nicht tot.«

Hinter seiner goldgeränderten Brille wölbten sich Jeffers Augenbrauen. »Nein? Wie können Sie so sicher sein, Cap’n? Er war allein und wollte bei Nacht zu Fuß durch den Wald. Dort gibt es jede Menge Gesindel und wilde Tiere. Soviel ich weiß, sind in den letzten paar Jahren einige Leute in der Umgebung von New Madrid ums Leben gekommen.«

Marsh starrte ihn an. »Was soll das heißen?« fragte er. »Woher wissen Sie das?«

»Ich hab’s in den Zeitungen gelesen«, entgegnete Jeffers.

Marshs Gesicht verfinsterte sich. »Nun, das heißt gar nichts. York ist nicht tot. Das weiß ich, Mister Jeffers, das weiß ich ganz sicher.«

»Kann er sich dann verirrt haben?« äußerte der Zahlmeister eine andere Vermutung und lächelte kühl. »Sollen wir eine Mannschaft zusammenstellen und ihn suchen, Cap’n?«

»Ich überleg’s mir«, sagte Abner Marsh.

Aber das war nicht nötig. An diesem Abend, eine Stunde nach dem die Sonne untergegangen war, kam Joshua York zur Anlegestelle geschlendert. Er sah nicht so aus wie jemand, der zwei Tage allein im Wald verbracht hatte. Seine Stiefel und seine Hosenbeine waren staubig, aber ansonsten sah seine Kleidung genauso elegant aus wie an dem Abend, an dem er das Schiff verlassen hatte. Sein Schritt war schnell, aber geschmeidig. Er stürmte die Landungsbrücke hinauf und lächelte, als er Jack Ely sah, den zweiten Maschinisten. »Holen Sie Whitey, und machen Sie Dampf«, meinte York zu Ely, »wir legen ab.« Dann, ehe jemand ihm eine Frage stellen konnte, war er die breite Treppe schon zur Hälfte hinaufgeeilt.

Trotz seiner Verärgerung und seiner Unruhe, so stellte Marsh fest, war er über Joshuas Rückkehr doch erstaunlich erleichtert. »Los, lassen Sie die verdammte Glocke schlagen, daß die, die an Land gegangen sind, wissen, daß wir weiterfahren wollen«, forderte er Hairy Mike auf. »Ich will so schnell wie möglich draußen auf dem Fluß sein.«

York hatte seine Kabine aufgesucht und wusch sich die Hände in der Waschschüssel, die auf seiner Schubladenkommode stand. »Abner«, sagte er höflich, als Marsh nach kurzem, donnergleichem Anklopfen hereinstürzte. »Meinen Sie, ich könnte Toby noch um ein sehr spätes Abendessen bitten?«

»Erst einmal will ich wissen, warum wir soviel Zeit vergeudet haben«, sagte Marsh. »Verdammt noch mal, Joshua, ich weiß ja, Sie meinten, Sie würden sich gelegentlich etwas seltsam benehmen, aber zwei Tage! So kann man kein Paketschiff betreiben, das muß ich Ihnen sagen.«

York trocknete sich die langen, blassen Hände sorgfältig ab und wandte sich um. »Es war wichtig. Und ich warne Sie schon jetzt, daß es möglicherweise wieder vorkommen kann. Sie werden sich an meine Eigenheiten gewöhnen müssen, Abner, und dafür sorgen, daß man mir keine neugierigen Fragen stellt.«

»Wir haben Fracht zu transportieren und Passagiere, die für eine Passage bezahlt haben und nicht dafür, auf irgendwelchen Holzplätzen herumzulungern. Was soll ich denen erzählen, Joshua?«

»Was immer Sie wollen. Sie sind doch so klug, Abner. Ich habe das Geld in unsere Partnerschaft eingebracht. Dafür erwarte ich, daß Sie die Entschuldigungen finden.« Sein Tonfall war freundlich, aber bestimmt. »Falls es Sie tröstet, diese erste Fahrt dürfte die unangenehmste sein. Auf weiteren Fahrten rechne ich mit weniger von meinen geheimnisvollen Ausflügen. Sie werden Ihre Rekordfahrt bekommen, ohne daß ich Ihnen Schwierigkeiten mache.« Er lächelte. »Ich hoffe, das stellt Sie etwas zufrieden. Halten Sie Ihre Ungeduld im Zaum, Freund. In Kürze werden wir in New Orleans ankommen, und dann wird alles etwas einfacher werden. Können Sie das akzeptieren, Abner? Abner? Stimmt etwas nicht?«

Abner Marsh hatte angestrengt auf etwas geschielt und York dabei gar nicht zugehört. Ihm wurde bewußt, daß sein Gesicht einen seltsamen Ausdruck zeigen mußte. »Nein«, sagte er hastig, »es waren nur die zwei Tage, die waren etwas unerfreulich. Aber das ist jetzt gleichgültig. Es macht überhaupt nichts aus. Was immer Sie wollen, Joshua.«

York nickte, offensichtlich zufrieden. »Ich werde mich umziehen, dann werde ich Toby um eine Mahlzeit bitten, und anschließend komme ich ins Ruderhaus, um mehr über Ihren Fluß zu erfahren. Wer hat heute nacht Spätschicht?«

»Mister Framm«, sagte Marsh.

»Gut«, sagte York. »Karl ist sehr unterhaltsam.«

»Das ist er«, pflichtete Marsh ihm bei. »Entschuldigen Sie mich, Joshua. Ich muß nach unten gehen und mich um einige Dinge kümmern, wenn wir heute noch ablegen wollen.« Er drehte sich ruckartig um und eilte aus der Kabine. Aber draußen, in der Hitze der Nacht, stützte Abner Marsh sich schwer auf seinen Spazierstock und starrte hinaus in die sternenübersäte Dunkelheit und versuchte sich wieder ins Bewußtsein zu rufen, was er quer durch die Kabine zu sehen geglaubt hatte.

Wenn doch nur seine Augen besser wären. Wenn York doch nur beide Öllampen entzündet hätte, statt nur einer. Wenn er es doch nur gewagt hätte, etwas näher heranzugehen. Es war schwierig gewesen, es genau zu erkennen, ein gutes Stück entfernt auf der Schubladenkommode. Aber Marsh konnte es nicht aus seinem Gedächtnis verbannen. Das Tuch, an dem York sich die Hände abgewischt hatte, wies Flecken auf. Dunkle Flecken. Rötliche Flecken.

Und sie hatten verdammt noch mal zu sehr nach Blut ausgesehen.

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