KAPITEL ZWÖLF

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
Mississippi River, August 1857

Abner Marsh hatte einen Verstand, der seinem Körper nicht unähnlich war. Er war groß, geräumig an Volumen und Fassungsvermögen, und er stopfte alle möglichen Dinge hinein. Er war auch stark; wenn Abner Marsh etwas in die Hand nahm, dann entglitt es ihm nicht so leicht, und wenn er sich in seinem Kopf etwas einprägte, dann wurde es nicht so leicht vergessen. Er war ein fähiger Mann mit einem fähigen Gehirn, aber Körper und Geist hatten auch noch eine andere Eigenschaft gemeinsam: Sie waren bedächtig. Einige meinten sogar langsam, träge. Marsh rannte nicht, er tanzte nicht, er hastete und beeilte sich nicht; er stolzierte würdig und gemessenen Schrittes immer geradeaus und gelangte nichtsdestoweniger stets an sein Ziel. Genauso war es mit seinem Verstand. Abner Marsh war nicht schnell, wenn es ums Denken oder um geschliffene Worte ging, aber er war alles andere als dumm; er kaute seine Gedanken gründlich durch, aber er allein bestimmte das Tempo.

Während die Fiebertraum Natchez verließ, begann Marsh erst, sich die Geschichte, die er von Joshua York erfahren hatte, durch den Kopf gehen zu lassen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ärgerte er sich. Wenn man sie glauben konnte, dann erklärte Joshuas ausgefallene Geschichte über seine Jagd auf Vampire eine ganze Menge der seltsamen Vorkommnisse, die die Fiebertraum aufgehalten hatten. Aber sie erklärte nicht alles. Abner Marshs langsames, aber zuverlässiges Gedächtnis warf weiterhin Fragen auf und produzierte Erinnerungen, die in seinem Kopf herumschwammen wie abgestorbenes Holz auf dem Fluß, zu nichts zu gebrauchen, aber störend und hinderlich.

Zum Beispiel Simon, der zerquetschte Moskitos aufleckt. Joshuas außergewöhnliche Nachtsicht.

Und vor allem die Art und Weise, wie er an dem Tag in Wut geraten war, als Marsh in seine Kabine gestürmt war. Er war auch nicht herausgekommen, um sich anzusehen, wie sie die Southerner ausmanövrierten und hinter sich ließen. Das beunruhigte Marsh erheblich. Es mochte durchaus so sein, wie Joshua sagte, nämlich daß er wegen der Vampire hauptsächlich nachts auf den Beinen war, aber das war noch keine Erklärung für sein Verhalten an jenem Nachmittag. Die meisten Leute, die Abner Marsh kannte, nutzten den hellen Tag, aber das hieß nicht, daß sie sich nicht gelegentlich auch schon um drei Uhr in der Frühe aus dem Bett quälen würden, wenn es etwas Interessantes zu beobachten gab.

Marsh verspürte das heftige Bedürfnis, mit jemandem über das alles zu reden. Jonathan Jeffers war ganz wild auf Bücher, und Karl Framm kannte wahrscheinlich jede verrückte Geschichte, die an diesem Fluß in Umlauf war; und beide wüßten sicherlich so gut wie alles, was man über Vampire wissen konnte. Doch er konnte nicht mit ihnen sprechen. Er hatte Joshua Stillschweigen versprochen, und er war dem Mann verpflichtet und würde ihn nicht noch ein zweitesmal betrügen. Jedenfalls nicht ohne triftigen Grund, und bisher hatte er nicht mehr als einen nur unzureichend bewiesenen Verdacht.

Doch seine Zweifel wurden jeden Tag greifbarer, während die Fiebertraum den Mississippi hinunterdampfte. Gewöhnlich waren sie jetzt tagsüber unterwegs, gingen bei Einbruch der Dämmerung vor Anker und setzten am nächsten Morgen ihre Fahrt fort. Sie kamen schneller voran als vor ihrem Aufenthalt in Natchez, was Marsh nur recht war. Andere Veränderungen gefielen ihm weniger.

Marsh konnte sich für Joshuas neue Freunde überhaupt nicht erwärmen; sehr bald schon kam er zu der Überzeugung, daß sie mindestens genauso seltsam waren wie Joshuas alte Freunde, da auch sie erst nachts lebendig wurden und so weiter. Raymond Ortega war für Marsh ein ruheloser, wenig vertrauenerweckender Zeitgenosse. Der Mann blieb nicht in den für die Passagiere des Schiffs zugänglichen Bereichen, sondern tauchte regelmäßig an Orten auf, wo er nichts zu suchen hatte. Er war immerhin auf seine arrogante und lässige Art höflich, aber Marsh lief es in seiner Nähe kalt über den Rücken.

Valerie erschien wärmer und wirkte mit ihren sanften Worten und ihrem reizenden Lächeln und ihren unergründlichen Augen geradezu beunruhigend. Sie benahm sich überhaupt nicht wie Raymond Ortegas Verlobte. Von Anfang an war sie zu Joshua ausnehmend freundlich. Zu verdammt freundlich, wenn es nach Marsh ging. Das mußte zu Schwierigkeiten führen. Eine anständige Lady wäre im Damensalon geblieben, aber Valerie verbrachte ihre Nächte gemeinsam mit Joshua im großen Salon und unternahm mit ihm gelegentlich Spaziergänge an Deck. Marsh hörte sogar, wie einmal jemand erzählte, sie seien gemeinsam in Joshuas Kabine gegangen. Er versuchte York vor dem üblen Gerede zu warnen, das mittlerweile entstanden war, aber Joshua ging mit einem Achselzucken darüber hinweg. »Sollen sie doch ihren Skandal haben, Abner, wenn es ihnen Spaß macht«, sagte er. »Valerie interessiert sich für unser Schiff, und ich gönne mir das Vergnügen, es ihr zu zeigen. Zwischen uns ist nicht mehr als Freundschaft, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.« Er erschien beinahe traurig, als er das sagte. »Ich wünschte manchmal, es wäre anders, aber das ist die Wahrheit.«

»Sie sollten sich lieber genau überlegen, was Sie sich wünschen«, platzte Marsh heraus. »Dieser Ortega hat in dieser Angelegenheit vielleicht eine ganze andere Meinung. Er kommt aus New Orleans und ist wahrscheinlich einer dieser Kreolen. Die duellieren sich ja wegen jeder Lächerlichkeit, Joshua.«

Joshua York lächelte. »Ich habe vor Raymond keine Angst, aber ich danke Ihnen für Ihre Warnung, Abner. Und nun lassen Sie Valerie und mich unsere eigenen Angelegenheiten regeln.«

Genau das tat Marsh, allerdings nicht ohne Bedenken. Er war überzeugt, daß Ortega früher oder später Schwierigkeiten machen würde, vor allem als Valerie Mersault während der folgenden Nächte zu Joshua Yorks ständiger Begleiterin wurde. Diese gottverdammte Frau machte ihn für alle Gefahren, die ihn umgaben, völlig blind, aber es gab nichts, was Marsh hätte dagegen tun können.

Und das war nur der Anfang. An jeder Landungsstelle kamen weitere Fremde an Bord, und Joshua wies auch ihnen eigene Kabinen zu. In Bayou Sara verließen er und Valerie das Schiff für eine Nacht und kehrten mit einem blassen, düsteren Mann namens Jean Ardant zurück. Ein paar Minuten weiter flußabwärts legten sie dann an einem Holzplatz an, und Ardant verschwand, um diesen fahlgesichtigen Dandy namens Vincent zu holen. In Baton Rouge kamen vier andere Fremde aufs Schiff, und in Donaldsville waren es noch mal drei.

Und dann fanden diese Abendessen statt. Als seine Gesellschaft anwuchs, ließ Joshua York einen Tisch im Texassalon aufstellen und decken, und dort speiste er dann mit seinen Gefährten, den alten sowie den neuen, stets gegen Mitternacht. Das normale Abendessen nahmen sie mit allen anderen Passagieren im großen Salon ein, doch diese Diners waren rein privater Natur. Das erstemal kam es in Bayou Sara dazu. Abner Marsh ließ Joshua York gegenüber einmal verlauten, wie gut ihm die Vorstellung von einer regelmäßigen Mahlzeit um Mitternacht gefiel, aber das verschaffte ihm keine Einladung dazu. Joshua lächelte nur, und die Diners wurden weiterhin veranstaltet, wobei die Anzahl der Gäste ständig stieg. Am Ende gab Marsh seiner bohrenden Neugier nach, und er schaffte es, einige Male an dem Salon vorbeizugehen und einen Blick durch das Fenster zu werfen. Viel gab es nicht zu sehen. Nur ein paar Leute, die gemeinsam aßen und sich angeregt unterhielten. Die Öllampen waren heruntergedreht und gaben gedämpftes Licht, die Vorhänge waren halb zugezogen. Joshua saß am Kopfende des Tisches, Simon ihm zur Rechten und Valerie an seiner Linken. Jeder trank aus Gläsern von Joshuas widerwärtigem Elixier, von dem einige Flaschen geöffnet worden waren. Als Marsh zum erstenmal am Fenster vorbeikam, redete Joshua eindringlich, und die Anwesenden lauschten aufmerksam. Valerie starrte ihn an, als würde sie ihn anbeten. Als Abner das zweitemal hineinlugte, hörte Joshua Jean Ardant zu, wobei eine seiner Hände entspannt auf der Tischdecke lag. Während Marsh das Geschehen verfolgte, legte Valerie ihre Hand darauf. Joshua sah sie an und lächelte sie voller Zuneigung an. Valerie erwiderte das Lächeln. Abner Marsh schaute sich suchend nach Raymond Ortega um, murmelte ein halblautes »gottverdammtes verrücktes Weib« und zog sich zurück.

Marsh versuchte einen Sinn zu erkennen in all diesen seltsamen Fremden, den rätselhaften Vorgängen, in allem, was Joshua York ihm über Vampire erzählt hatte. Es war nicht leicht, und je mehr er darüber nachdachte, desto verwirrter wurde er. In der Bibliothek auf der Fiebertraum gab es keine Bücher über Vampire oder solche Erscheinungen, und er hatte ganz bestimmt nicht die Absicht, noch einmal in Joshuas Kabine einzudringen. In Baton Rouge begab er sich in die Stadt und spendierte in einigen Kneipen ein paar Runden und hoffte, auf diese Art und Weise etwas mehr herauszubekommen. Wenn es sich anbot, brachte er das Gespräch auf das Vampir‐Thema, indem er sich gewöhnlich an seine Trinkkumpane wandte und meinte: »Sagen Sie mal, haben Sie schon irgendwas über Vampire gehört, die sich hier am Fluß herumtreiben sollen?« Er dachte sich, daß es so sicherer war, als wenn er auf dem Raddampfer von diesem Thema angefangen hätte, wo allein schon das Wort bestimmt zu schlimmen Gerüchten geführt hätte.

Ein paar Leute lachten ihn aus oder musterten ihn mit argwöhnischen Blicken. Ein freier Farbiger, ein stämmiger kohlschwarzer Bursche mit gebrochener Nase, den Marsh in einer ausgesprochen verräucherten Kneipe ansprach, rannte davon, kaum daß Marsh seine Frage beendet hatte. Marsh versuchte ihm nachzulaufen, aber schon bald mußte er sein Vorhaben mit pfeifender Lunge aufgeben. Andere schienen über Vampire recht gut Bescheid zu wissen, allerdings hatte keine ihrer Geschichten auch nur entfernt mit dem Mississippi zu tun. Alles, was er von Joshua erfahren hatte, über Kreuze und Knoblauch und Särge voller Erde, bekam er erneut zu hören, und sogar noch weitere Einzelheiten.

Marsh begann York und seine Gefährten während des Mittagessens und anschließend im großen Salon genau zu beobachten. Vampire aßen und tranken nicht, hatte er erfahren, aber Joshua und die anderen tranken reichliche Mengen Whiskey und Wein und Brandy, wenn sie nicht gerade Yorks Privatgebräu zusprachen, und alle waren nur allzu bereit, einem leckeren Brathuhn oder einer Schweinshaxe zu Leibe zu rücken.

Joshua trug stets seinen Silberring mit dem Saphir, so groß wie ein Taubenauge, und keiner der anderen schien sich durch das Silber in der großen Kabine gestört zu fühlen. Sie benutzten beim Essen auch wie selbstverständlich das silberne Besteck, und zwar weitaus geschickter als die meisten Mannschaftsangehörigen der Fiebertraum.

Und sobald die Kronleuchter abends angezündet wurden, erstrahlten die Spiegel in der Hauptkabine, und ein elegant gekleidetes Völkchen erwachte in ihnen zum Leben und tanzte und trank und spielte Karten genauso wie die richtigen Leute im richtigen Salon. Abend für Abend ertappte Abner Marsh sich dabei, wie er in diese Spiegel starrte. Joshua war immer da, wo er sein sollte, lächelnd, lachend, und er schwebte mit Valerie am Arm von Spiegel zu Spiegel, unterhielt sich mit einem Passagier über Politik, lauschte Framms wilden Flußgeschichten, wechselte ein paar persönliche Worte mit Simon oder Jean Ardant; jede Nacht wanderten tausend Joshua Yorks über das mit Teppichen ausgestattete Deck der Fiebertraum, jeder so lebendig und prächtig wie alle anderen. Und auch seine Freunde hatten Spiegelbilder.

Das hätte eigentlich ausreichen müssen, aber Marshs langsamer, mißtrauischer Geist war immer noch beunruhigt. Es dauerte bis Donaldsonville, daß er einen Plan schmiedete, was zu tun war, um seine Sorgen zu beenden. Er ging mit einer Feldflasche in den Ort und füllte sie in einer Papistenkirche unweit des Flusses mit Weihwasser. Dann nahm er einen Jungen beiseite, der an ihrem Ende des Tisches bediente, und gab ihm fünfzig Cents. »Heute nacht füllst du Cap’n Yorks Glas aus dieser Flasche, verstanden?« befahl Marsh ihm. »Ich will ihm einen Streich spielen.«

Während des Abendessens beobachtete der Kellner Joshua York in der Erwartung, daß er in schallendes Gelächter ausbrach. Aber er wurde enttäuscht. Joshua trank das geweihte Wasser wie selbstverständlich. »Nun, ich will verdammt sein«, murmelte Marsh anschließend, »damit dürfte diese Angelegenheit wohl geklärt sein.«

Das war aber nicht der Fall, und in dieser Nacht verließ Marsh den großen Salon schon recht früh, um in Ruhe nachzudenken. Er hatte schon zwei Stunden lang auf der Texasveranda gesessen, allein, den Sessel zurückgekippt und die Füße auf die Reling gelegt, als er vom Treppenaufgang her das Rascheln von Röcken hörte.

Valerie näherte sich, blieb dicht neben ihm stehen und lächelte auf ihn herab. »Guten Abend, Captain Marsh«, sagte sie.

Abner Marshs Sessel schlug mit einem dumpfen Laut nach vorne auf das Deck, als er mit finsterer Miene seine Füße von der Reling nahm. »Passagiere haben auf dem Texasdeck nichts zu suchen«, sagte er und versuchte, sich seine Verärgerung nicht anmerken zu lassen.

»Es war unten so heiß. Ich dachte mir, daß es hier oben vielleicht etwas kühler ist.«

»Nun, das ist richtig«, erwiderte Marsh unsicher. Er wußte nicht so recht, was er als nächstes sagen sollte. Die Wahrheit war, daß die Nähe von Frauen ihm schon immer Unbehagen bereitet hatte. Sie hatten keinen Platz in der Welt eines Dampfschiffers, und Marsh wußte nie, wie er richtig mit ihnen umgehen sollte. Schöne Frauen machten ihn sogar noch unsicherer, und Valerie war beunruhigender als jede andere hübsche Frau aus New Orleans.

Sie stand da, eine schlanke Hand leicht um einen mit Schnitzereien verzierten Pfosten gelegt, und blickte über das Wasser nach Donaldsonville. »Morgen erreichen wir New Orleans, nicht wahr?« erkundigte sie sich.

Marsh stand auf, da ihm einfiel, daß es wohl kein Zeichen von Höflichkeit war, wenn er saß, während Valerie bei ihm stand. »Ja, Ma’am«, antwortete er. »Wir sind nur noch ein paar Stunden von dort entfernt, und ich werde mit voller Kraft losdampfen, so daß wir im Nu dort sind.«

»Ich verstehe.« Sie wandte sich plötzlich um, und ihr blasses, wohlgeformtes Gesicht zeigte einen ernsten Ausdruck, als sie ihn mit ihren großen violetten Augen eindringlich ansah. »Joshua sagt, Sie seien der wahre Meister der Fiebertraum. Auf eine ziemlich seltsame Art und Weise hat er sehr viel Respekt vor Ihnen. Er wird auf Sie hören.«

»Wir sind Partner«, erklärte Marsh.

»Wenn Ihr Partner sich in Gefahr befände, würden Sie ihm dann zu Hilfe kommen?«

Abner Marsh blickte finster, dachte an die Vampirgeschichten, die Joshua ihm erzählt hatte, und war sich bewußt, wie blaß und schön Valerie im Sternenlicht aussah, wie unergründlich tief ihre Augen waren. »Joshua weiß, daß er zu mir kommen kann, wenn er in Schwierigkeiten ist«, sagte Marsh. »Ein Mann, der seinem Partner nicht helfen würde, verdient es nicht, ein Mann genannt zu werden.«

»Worte«, sagte Valerie spöttisch und warf ihre vollen schwarzen Haare mit einem Schwung des Kopfes nach hinten. Der Wind spielte damit und wehte es über ihr Gesicht, während sie fortfuhr. »Joshua York ist ein großer Mann, ein starker Mann. Ein König. Er verdient einen besseren Partner, als Sie es sind, Captain Marsh.«

Abner Marsh spürte, wie ihm das Blut ins Gesicht schoß. »Was, zum Teufel, reden Sie da?« wollte er wissen.

Sie lächelte schlau. »Sie sind in seine Kabine eingebrochen«, meinte sie.

Marsh geriet plötzlich in Zorn. »Hat er Ihnen das erzählt?« schnaubte er. »Verdammter Kerl, das war zwischen uns längst erledigt. Außerdem geht es Sie überhaupt nichts an.«

»Das tut es doch«, widersprach sie. »Joshua schwebt in großer Gefahr. Er ist tollkühn, leichtsinnig. Er braucht Hilfe. Ich möchte ihm helfen, aber Sie, Captain Marsh, machen nichts als große Worte.«

»Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wovon Sie reden, Frau«, sagte Marsh. »Welche Art von Hilfe braucht Joshua? Ich habe ihm angeboten, ihn bei diesen gottverfluchten Vam… bei einigen Problemen zu unterstützen, die er lösen muß, aber er wollte davon nichts wissen.«

Valeries Gesicht entspannte sich und nahm plötzlich einen weichen Ausdruck an. »Würden Sie ihm tatsächlich helfen?« fragte sie.

»Er ist mein verdammter Partner.«

»Dann wenden Sie Ihren Dampfer, Captain Marsh. Bringen Sie uns von hier weg, bringen Sie uns nach Natchez, nach St. Louis, es ist mir egal. Aber nicht nach New Orleans. Wir dürfen morgen nicht in New Orleans ankommen.«

Abner Marsh schnaubte. »Warum nicht, zum Teufel?« fragte er. Als Valerie den Blick abwandte, anstatt ihm eine Antwort zu geben, fuhr er fort. »Das hier ist ein Raddampfer, nicht irgendein verdammtes Pferd, das ich hinlenken kann, wohin ich gerade will. Wir müssen einen Fahrplan einhalten, wir haben Passagiere, die für ihre Fahrt mit uns bezahlt haben, wir müssen Fracht liefern. Wir müssen nach New Orleans.« Er runzelte die Stirn. »Und was ist mit Joshua?«

»Er wird bei Morgengrauen in seiner Kabine liegen und schlafen«, sagte Valerie. »Wenn er aufwacht, sind wir ein gutes Stück weiter flußaufwärts und in Sicherheit.«

»Joshua ist mein Partner«, sagte Marsh. »Ein Mann muß seinem Partner vertrauen. Sicher, ich habe ihm einmal nachspioniert, aber so etwas werde ich nie wieder tun, weder für Sie noch für sonst jemanden. Und ich werde die Fiebertraum auch nicht wenden, ohne ihn davon zu informieren. Wenn Joshua zu mir kommt und sagt, daß er doch nicht nach New Orleans will, zum Teufel, dann können wir darüber reden. Aber nicht anders. Wollen Sie, daß ich Joshua deswegen frage?«

»Nein!« erwiderte Valerie hastig, als hätte sie plötzlich Angst.

»Ich hätte nicht übel Lust, es ihm so oder so zu erzählen«, meinte Marsh. »Er sollte eigentlich wissen, was Sie planen, sobald er Ihnen den Rücken zudreht.«

Valerie streckte eine Hand aus und ergriff seinen Arm. »Bitte, nein«, flehte sie. Ihr Griff war kräftig. »Sehen Sie mich an, Captain Marsh.«

Abner Marsh war schon im Begriff gewesen davonzustürmen, doch etwas in ihrer Stimme drängte ihn, das zu tun, worum sie ihn gebeten hatte. Er schaute in diese violetten Augen und schaute und schaute.

»Es ist doch gar nicht so schwer, mich anzuschauen«, sagte sie lächelnd. »Ich habe Sie schon seit längerem beobachtet, Captain. Sie können die Augen gar nicht von mir lassen, nicht wahr?«

Marshs Kehle war plötzlich völlig trocken. »Ich …«

Valerie schleuderte ihre Haare wieder mit einer wilden, herrischen Gebärde zurück. »Dampfschiffe sind sicherlich nicht das einzige, wovon Sie träumen, Captain Marsh. Dieses Boot ist eine kalte Lady, eine armselige Geliebte. Warmes Fleisch ist besser als Holz und Eisen.« Marsh hatte noch nie zuvor eine Frau so reden hören. Er stand da wie vom Donner gerührt. »Kommen Sie näher«, sagte Valerie, und sie zog ihn zu sich heran, bis er nur noch wenige Zoll von ihrer hochgewandten Gestalt entfernt war. »Schauen Sie mich an«, sagte sie. Er konnte ihre vibrierende Wärme in seiner Reichweite spüren, und ihre Augen waren unendlich tiefe violette Seen, kühl und weich wie Seide und verlockend. »Sie begehren mich, Captain«, flüsterte sie.

»Nein«, sagte Marsh.

»Oh, Sie begehren mich. Ich erkenne die Sehnsucht in Ihren Augen.«

»Nein«, protestierte Marsh. »Sie … Joshua …«

Valerie lachte; leicht, ein luftiges Lachen, sinnlich, musikalisch. »Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über Joshua. Nehmen Sie sich, was Sie wollen. Sie haben Angst, deshalb wehren Sie sich dagegen. Sie brauchen aber keine Angst zu haben.«

Abner Marsh bebte heftig, und er erkannte entsetzt, daß er vor Lust zitterte. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Frau so heftig begehrt. Doch irgendwie widerstand er auch diesem Drang, wehrte er sich dagegen, obgleich Valeries Augen ihn immer dichter heranzogen und die ganze Welt von ihrem Duft erfüllt zu sein schien.

»Nehmen Sie mich mit in Ihre Kabine«, flüsterte sie. »Heute nacht gehöre ich Ihnen.«

»Wirklich?« fragte Marsh matt. Der Schweiß rann ihm aus den Augenbrauen und ließ ihn alles nur noch verschwommen erkennen. »Nein«, murmelte er. »Nein, das ist nicht …«

»Doch, es wird geschehen«, drängte sie. »Sie brauchen es nur zu versprechen.«

»Versprechen?« fragte Marsh heiser.

Ihre violetten Augen lockten, funkelten. »Bringen Sie uns weg, weg von New Orleans. Versprechen Sie mir das, und Sie dürfen mich besitzen. Sie wollen es doch so sehr. Ich kann es spüren.«

Abner Marsh hob die Hände, umfaßte ihre Schultern. Er erbebte. Seine Lippen waren trocken. Er wollte sie in einer bärenhaften Umarmung an sich drücken, sie fast zerquetschen, mit ihr in sein Bett fallen. Doch statt dessen raffte er all seine Kraft, seine Energie zusammen und stieß sie grob von sich. Sie schrie auf, stolperte und fiel auf ein Knie. Und Marsh, der von diesen Augen erlöst war, brüllte los. »Verschwinden Sie von hier!« brüllte er. »Hauen Sie verdammt noch mal vom Texasdeck ab, was für eine Frau sind Sie eigentlich, verschwinden Sie, Sie sind nichts anderes als … hauen Sie ab!«

Valeries Gesicht wandte sich ihm wieder zu, und ihre Lippen waren zurückgezogen. »Ich kann Sie zu …«, setzte sie wütend an.

»Nein«, sagte Joshua York ruhig, als er hinter ihr auftauchte.

Joshua war so plötzlich aus den Schatten aufgetaucht, als hätte die Dunkelheit selbst menschliche Gestalt angenommen. Valerie starrte ihn an, stieß einen kehligen Laut aus und rannte die Treppe hinunter.

Marsh fühlte sich so ausgepumpt, daß er kaum aufstehen konnte. »Gottverdammt«, murmelte er. Er zog sein Taschentuch hervor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Als er das getan hatte, sah Joshua ihn geduldig an. »Ich weiß nicht, was Sie gesehen haben, Joshua, aber es war nicht so, wie Sie vielleicht annehmen.«

»Ich weiß genau, was es war, Abner«, entgegnete Joshua. Er klang nicht ausgesprochen böse. »Ich war fast die ganze Zeit hier. Als ich bemerkte, daß Valerie den Salon verlassen hatte, machte ich mich auf die Suche nach ihr, und dann vernahm ich Ihre beiden Stimmen, während ich die Treppe hinaufstieg.«

»Ich habe Sie nicht gehört«, sagte Marsh.

Joshua lächelte. »Ich kann sehr leise sein, wenn es meinen Absichten entgegenkommt, Abner.«

»Diese Frau«, sagte Marsh. »Sie … hat angeboten … sich selbst … Hölle noch mal, sie ist eine gottverdammte …« Die Worte wollten nicht über seine Lippen. »Sie ist keine Dame«, endete er schwach. »Schicken Sie sie weg, Joshua, sie und diesen Ortega, alle beide.«

»Nein.«

»Warum nicht, zum Teufel?« brüllte Abner Marsh. »Sie haben sie gehört?«

»Das macht keinen Unterschied«, meinte Joshua ruhig. »Wenn es überhaupt etwas bewirkt, dann steigert es höchstens noch meine Wertschätzung für Sie. Sie tat es für mich, Abner. Sie sorgt sich mehr um mich, als ich gehofft, als ich zu erwarten gewagt habe.«

Abner Marsh stieß einen wütenden Fluch aus. »Was Sie reden, ergibt für mich überhaupt keinen Sinn!«

Joshua lächelte sanft. »Wahrscheinlich nicht. Sie haben mit all dem auch nichts zu tun, Abner. Überlassen Sie Valerie mir. Sie wird keine Schwierigkeiten mehr machen. Sie hatte nur Angst.«

»Angst vor New Orleans«, sagte Marsh. »Vor Vampiren. Sie weiß Bescheid.«

»Ja.«

»Sind Sie sicher, daß Sie allein mit allem fertig werden, was Sie vorhaben?« fragte Marsh. »Wenn Sie New Orleans lieber meiden wollen, dann sagen Sie es, verdammt noch mal! Valerie meint …«

»Was meinen Sie denn, Abner?« fragte York.

Marsh schaute ihn sehr lange an. Dann meinte er: »Ich denke, wir legen in New Orleans an«, und die beiden Männer lachten.

Und so kam es, daß die Fiebertraum am nächsten Morgen in New Orleans eintraf, mit dem eleganten Dan Albright am Ruderrad und Abner Marsh auf der Brücke, wo er sich in seiner neuen Kapitänsjacke und seiner neuen Mütze aufgebaut hatte. Die Sonne brannte heiß an einem tiefblauen Himmel, und jedes winzige Hindernis und jede kleine Unebenheit im Flußbett machte durch goldene Schaumkrönchen im Wasser auf sich aufmerksam, so daß das Lenken des Schiffs eine einfache Angelegenheit war und der Dampfer ein zügiges Tempo schaffte. Der Uferdeich in New Orleans war dicht belegt mit Raddampfern und allen möglichen Segelschifftypen; das bunte Leben auf dem Fluß wurde durch die Musik ihrer Pfeifen und Glocken untermalt. Marsh stützte sich auf seinen Spazierstock und betrachtete die vor ihm liegende Stadt. Dabei lauschte er der Fiebertraum, wie sie mit ihrer Dampfpfeife und der Landungsglocke die anderen Boote grüßte. Er war während seiner Jahre auf dem Fluß schon des öfteren in New Orleans gewesen, aber er war noch nie auf diese Art und Weise dort eingelaufen, auf der Brücke seines eigenen Raddampfers stehend, des größten und prächtigsten und schnellsten Schiffes im Hafen. Er kam sich vor wie der Herr der Schöpfung.

Sobald sie jedoch am Kai festgemacht hatten, gab es eine Menge Arbeit; Fracht mußte gelöscht werden, die Suche nach Aufträgen für die Rückfahrt nach St. Louis begann, Anzeigenaufträge für die lokalen Zeitungen mußten erteilt werden. Marsh beschloß, daß die Gesellschaft dort ein festes Büro eröffnen müßte, daher war er damit beschäftigt, entsprechende Räumlichkeiten zu besichtigen und ein Bankkonto zu eröffnen und einen Agenten einzustellen. An diesem Abend speiste er zusammen mit Jonathon Jeffers und Karl Framm im St. Charles Hotel, aber seine Gedanken wanderten von den Speisen zu den Gefahren, vor denen Valerie soviel Angst gehabt hatte, und er fragte sich, welche Absichten Joshua York haben mochte. Als Marsh auf den Dampfer zurückkehrte, unterhielt Joshua sich mit seinen Gefährten im Texassalon, und nichts schien anders zu sein als sonst, obgleich Valerie — die wieder an seiner Seite saß — irgendwie niedergeschlagen und gedemütigt wirkte. Marsh legte sich schlafen und verdrängte die ganze Angelegenheit aus seinem Bewußtsein, und in den nächsten Tagen dachte er kaum noch daran. Die Fiebertraum hielt ihn tagsüber zu sehr in Atem, und abends und bei Nacht dinierte er vorzüglich in der Stadt, prahlte bei seinen Drinks in den Kneipen am Hafen mit seinem Boot, spazierte durch das Vieux Carré und bewunderte dabei die bildhübschen Kreolinnen und die Innenhöfe der Häuser mit ihren Brunnen und schmiedeeisernen Gittern und Balkonen. New Orleans war genauso schön und gepflegt, wie er es in Erinnerung hatte, dachte Marsh anfangs.

Aber dann erfüllte ihn nach und nach eine ungewisse Unruhe, eine Art Mißtrauen und Unsicherheit, die ihn vertraute Dinge mit ganz anderen Augen betrachten ließ. Das Wetter war kaum erträglich; tagsüber war die Hitze drückend, die Luft schwül und feucht, sobald man die Kühle der Flußwinde verließ. Tag und Nacht stiegen stinkende Dämpfe aus der offenen Kanalisation auf, schwere faulige Düfte, die auf dem stehenden Wasser lagen wie der Hauch eines abstoßenden Parfüms. Kein Wunder, daß New Orleans so oft vom Gelbfieber heimgesucht wurde, dachte Marsh. In der Stadt wimmelte es von freien Farbigen und hübschen jungen Terzeroninnen und Oktaroninnen und griffes, die sich so elegant kleideten wie weißhäutige Frauen. Aber es wimmelte auch von Sklaven. Man sah sie überall, wenn sie für ihre Herren Botengänge ausführten, niedergeschlagen in den Sklavenställen in der Moreau und der Common Street herumsaßen oder umhergingen, wenn sie zwischen den großen Warenbörsen in Ketten hin und her geführt wurden oder wenn sie die Abflußkanäle reinigten. Selbst unten an der Dampferanlegestelle konnte man den äußeren Zeichen der Sklaverei nicht entfliehen; die großen Seitenraddampfer, die ihre Geschäfte von New Orleans aus führten, transportierten ständig Farbige flußauf und flußab, und Abner Marsh sah sie ständig kommen und gehen, wenn er zur Fiebertraum hinunterging. Die Sklaven waren meistens mit Ketten gefesselt und hockten trübsinnig inmitten der Fracht, wo sie in der Hitze der Kesselfeuerungen schwitzten.

»Das gefällt mir nicht«, beklagte Marsh sich bei Jonathon Jeffers. »Es ist unsauber. Und das will ich Ihnen sagen, davon kommt mir nichts auf die Fiebertraum. Niemand wird mein Boot mit diesem Zeug verpesten, verstanden?«

Jeffers sah ihn abschätzend von der Seite an. »Also, Cap’n, wenn wir nicht ins Sklavengeschäft mit einsteigen, dann verzichten wir auf einen ganz schönen Haufen Geld. Sie reden ja fast wie ein Abolitionist.«

»Ich bin kein verfluchter Abolitionist«, widersprach Marsh hitzig, »aber es ist mir ernst mit dem, was ich gesagt habe. Wenn jemand ein oder zwei Sklaven mitnehmen will, als Diener oder so, dann ist das in Ordnung. Sie bekommen von mir eine Kabinen‐Passage oder auch nur eine an Deck, das ist mir gleich. Aber wir befördern sie nicht als Fracht, von irgendeinem gottverdammten Händler zusammengekettet.«

Am siebten Abend in New Orleans war Abner Marsh die Stadt seltsam leid, und er wartete ungeduldig darauf, daß sie ablegen konnten. An diesem Abend kam Joshua York mit einigen Flußkarten zum Abendessen. Seit ihrer Ankunft hatte Marsh seinen Partner nur selten zu Gesicht bekommen. »Wie gefällt Ihnen New Orleans?« fragte Marsh, während York Platz nahm.

»Die Stadt ist wunderschön«, antwortete York mit einer merkwürdig bedrückten Stimme, so daß Marsh von dem Brötchen aufblickte, das er gerade mit Butter bestrich. »Ich empfinde nichts als Bewunderung für das Vieux Carré. Es ist so völlig anders als andere Flußstädte, die wir gesehen haben, fast europäisch, und einige Häuser im amerikanischen Teil sind ähnlich prachtvoll. Nichtsdestoweniger gefällt es mir hier nicht.«

Marsh runzelte die Stirn. »Warum das?«

»Ich habe ein unangenehmes Gefühl, Abner. Die Stadt — die Hitze, die hellen Farben, die Gerüche, die Sklaven — es ist alles so lebendig, dieses New Orleans, aber im Kern, so glaube ich, ist es krank und verfault. Alles ist so vielfältig und schön hier, die Küche, die Sitten, die Architektur, aber dahinter ist dies …« Er schüttelte den Kopf. »Man sieht all diese bezaubernden Hausgärten, jeder mit einem kunstvollen Brunnen in der Mitte. Und dann beobachtet man fliegende Händler, die Flußwasser aus Fässern verkaufen, und man muß begreifen, daß das Brunnenwasser nicht trinkbar ist. Man genießt die wohlschmeckenden Saucen und das Aroma der Speisen, und dann erfährt man, daß die Gewürze hinzugefügt werden, um zu verbergen, daß das Fleisch bereits schlecht geworden ist. Man wandert durch die St.‐Louis‐Börse und erfreut sich an all dem Marmor und an der wundervollen Kuppel, durch die das Licht in den Rundbau fällt, und dann wird man darauf aufmerksam gemacht, daß man sich in einem berühmten Sklavenmarkt aufhält, in dem Menschen wie Vieh versteigert werden. Sogar die Friedhöfe hier sind von besonderer Schönheit. Keine einfachen Grabsteine oder Holzkreuze, sondern große Marmormausoleen, eines prächtiger als das andere, mit einer Statue darauf und feingeistigen, poetischen Inschriften. Doch in jedem liegt ein verfaulender Kadaver, voll von Maden und Würmern. Sie müssen in Steinbauwerken aufbewahrt werden, weil der Untergrund noch nicht einmal zum Bestatten der Toten taugt und weil die Gräber sich mit Wasser füllen. Und die Pestilenz hängt wie ein drohender Schatten über der Stadt.

Nein, Abner«, sagte Joshua mit einem merkwürdig fernen Blick in den grauen Augen, »ich liebe die Schönheit, aber manchmal enthält das Schöne in seinem Kern etwas Widerwärtiges und Böses. Je eher wir diese Stadt verlassen, desto lieber ist es mir.«

»Teufel auch«, sagte Abner Marsh. »Ich will verdammt sein, wenn ich wüßte warum, aber ich empfinde genauso. Keine Sorge, wir können schon bald wieder ablegen.«

Joshua York verzog das Gesicht. »Gut«, sagte er. »Aber vorher ist noch ein Letztes zu erledigen.« Er schob seinen Teller beiseite und faltete die Karte auseinander, die er mitgebracht hatte. »Morgen, kurz vor Einbruch der Dunkelheit, möchte ich mit der Fiebertraum flußabwärts fahren.«

»Flußabwärts?« fragte Marsh verblüfft. »Zum Teufel, den Fluß hinunter gibt es nichts für uns. Ein paar Plantagen, viele Cajuns, Sümpfe und Bayous und dann der Golf.«

»Sehen Sie«, sagte York. Sein Finger fuhr am Mississippi entlang. »Wir folgen dem Fluß bis etwa hier unten, dann fahren wir in dieses Bayou und dringen etwa ein halbes Dutzend Meilen darauf vor bis dort. Wir werden nicht lange dafür brauchen, und wir können am nächsten Abend schon zurück sein und unsere Passagiere für St. Louis aufnehmen. Ich möchte nämlich an dieser Stelle kurz anlegen.« Er klopfte mit dem Finger auf den Punkt.

Abner Marshs Hammelkotelett wurde serviert, aber er beachtete es nicht, sondern beugte sich vor, um erkennen zu können, auf welche Stelle Joshuas Finger zeigte.

»Cypress Landing«, las er von der Karte ab. »Nun, ich weiß nicht.« Er schaute sich in der Hauptkabine um, die ohne Passagiere an Bord nun zu drei Vierteln unbesetzt war. Karl Framm, Whitey Blake und Jack Ely nahmen am anderen Ende des Tisches ihre Mahlzeit ein. »Mister Framm«, rief Marsh, »kommen Sie doch mal kurz her.« Als Framm bei ihnen erschien, erklärte Marsh die Route, die York ihm gezeigt hatte. »Können Sie uns flußabwärts in dieses Bayou bringen? Oder liegen wir zu tief?«

Framm hob die Schultern. »Einige Bayous sind ziemlich breit und tief, andere kann man nicht einmal mit einer Jolle befahren, geschweige mit einem Dampfschiff. Aber wahrscheinlich schaffe ich es. Dort unten gibt es Anlegestellen und Plantagen, und andere Raddampfer verkehren dort. Allerdings sind die meisten nicht so groß wie unsere Lady. Es wird eine langsame Fahrt, das ist klar. Wir müssen den ganzen Weg loten und uns vor Sandbänken und Untiefen in acht nehmen, und wahrscheinlich müssen wir auch einige Baumäste absägen, wenn wir nicht wollen, daß sie unsere Schornsteine abrasieren.« Er beugte sich vor, um einen Blick auf die Karte zu werfen. »Wohin soll’s denn gehen? Ich war ein‐ oder zweimal da unten.«

»Die Stelle heißt Cypress Landing«, meinte Marsh.

Framm schürzte nachdenklich die Lippen. »Das dürfte nicht zu schwierig sein. Das ist die alte Garoux‐Plantage. Früher haben die Dampfboote dort regelmäßig angelegt und Süßkartoffeln und Zuckerrohr für New Orleans geladen. Dann ist Garoux gestorben, er und seine ganze Familie, und Cypress Landing wurde praktisch vergessen. Allerdings, wenn ich es recht bedenke, erzählt man sich über diese Gegend einige seltsame Geschichten. Warum wollen wir dorthin?«

»Eine persönliche Angelegenheit«, sagte Joshua York. »Sorgen Sie nur dafür, daß wir wirklich dorthin kommen, Mister Framm. Wir legen morgen am frühen Abend ab.«

»Sie sind der Cap’n«, sagte Framm. Er ging wieder zu seinem Platz und setzte seine Mahlzeit fort.

»Wo, zum Teufel, ist meine Milch?« beschwerte Abner Marsh sich. Er schaute sich um. Der Kellner, ein schlanker junger Neger, drückte sich an der Küchentür herum. »Bring endlich mein Abendessen«, brüllte Marsh ihn an, und der Junge schrak sichtlich zusammen. Marsh wandte sich wieder York zu. »Dieser Abstecher«, sagte er. »Hat der — mit dem zu tun, wovon Sie mir erzählt haben?«

»Ja«, antwortete York knapp.

»Gefährlich?« fragte Marsh.

Joshua York zuckte die Achseln.

»Mir gefällt das nicht«, sagte Marsh, »diese Sache mit den Vampiren.« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern, als er Vampire aussprach.

»Es wird bald vorüber sein, Abner. Ich werde dieser Plantage einen Besuch abstatten, dort etwas erledigen, ein paar Freunde mitbringen, und das dürfte dann das Ende sein.«

»Dann lassen Sie mich mitgehen«, sagte Marsh. »Zu der Erledigung dieser Angelegenheit. Ich will nicht soweit gehen und sagen, daß ich Ihnen nicht glaube, aber es fiele mir leichter, Ihre ganze Geschichte zu glauben, wenn ich einen von ihnen — Sie wissen wen — mit eigenen Augen sehen könnte.«

Joshua schaute ihn an. Marsh blickte ihm kurz in die Augen, und irgend etwas war in ihnen, das nach ihm zu greifen, ihn zu packen schien, und plötzlich, ohne es bewußt zu wollen, mußte er wegschauen. Joshua faltete die Flußkarte zusammen. »Ich glaube nicht, daß das klug wäre«, sagte er, »aber ich werde darüber nachdenken. Entschuldigen Sie mich. Ich habe noch zu tun.« Er erhob sich und verließ den Tisch.

Marsh schaute ihm nach und fragte sich, was zwischen ihnen beiden soeben stattgefunden hatte. »Verdammter Kerl«, murmelte er schließlich und wandte seine Aufmerksamkeit dem Hammelkotelett auf seinem Teller zu.

Stunden später bekam Abner Marsh Besuch.

Er lag in seiner Kabine und versuchte zu schlafen. Das leise Klopfen an der Tür weckte ihn, als wäre es ein Donnerschlag gewesen, und Marsh spürte, wie sein Herz raste. Aus irgendeinem Grund hatte er plötzlich Angst. In der Kabine war es stockfinster. »Wer ist da?« rief er. »Verdammt noch mal!«

»Nur Toby, Cap’n« kam die leise geflüsterte Antwort.

Marshs Angst verflüchtigte sich plötzlich und erschien ihm lächerlich. Toby Lanyard war der sanfteste alte Kerl, der je den Fuß auf ein Dampfboot gesetzt hatte, und einer der unterwürfigsten dazu. Marsh rief: »Ich komme«, und zündete eine Lampe neben seinem Bett an, eher er aufstand, um die Tür zu öffnen.

Zwei Männer standen draußen. Toby war etwa sechzig, kahl bis auf einen Kranz eisengrauer Haare um seinen schwarzen Schädel, sein Gesicht verwittert und faltig und schwarz wie ein Paar alter, bequemer Stiefel. In seiner Begleitung befand sich ein junger Neger, ein kleiner, untersetzter braunhäutiger Mann in einem teuren Anzug. Im spärlichen Licht dauerte es einige Augenblicke, bis Marsh ihn als Jebediah Freeman erkannte, den Friseur, den er in Louisville angeheuert hatte. »Cap’n«, sagte Toby, »wir möchten mit Ihnen reden, privat, wenn es geht.«

Marsh winkte sie herein. »Was soll das, Toby?« fragte er, während er die Tür schloß.

»Wir sind sozusagen als Sprecher losgeschickt worden«, erklärte der Koch. »Sie kennen mich ja schon lange, Cap’n, und Sie wissen, daß ich Sie niemals anlügen würde.«

»Natürlich weiß ich das«, entgegnete Marsh.

»Ich würde auch niemals weglaufen. Sie haben mir die Freiheit und alles geschenkt, nur weil ich für Sie gekocht habe. Aber ein paar von den anderen Niggern, die Heizer und Handlanger, die wollen nicht auf Jeb und mich hören, wenn wir erzählen, was für ein feiner Mann Sie sind. Die haben Angst, und die wollen weglaufen. Der Junge beim Abendessen heute, er hat gehört, wie Sie und Cap’n York darüber gesprochen haben, nach Cypress Landing zu fahren, und jetzt reden die Nigger über nichts anderes.«

»Wie bitte?« fragte Marsh. »Ihr wart doch noch nie dort unten, keiner von euch. Was bedeutet Cypress Landing für euch?«

»Überhaupt nichts«, ergriff Jeb das Wort. »Aber ein paar von den anderen Niggern haben davon gehört. Es gibt Geschichten über diesen Ort, Cap’n. Schlimme Geschichten. Alle Nigger sind von dort weggelaufen, wegen der Dinge, die passierten. Schreckliche Dinge, Cap’n, einfach schrecklich.«

»Wir sind gekommen, um Sie zu bitten, nicht dorthin zu fahren, Cap’n«, sagte Toby. »Sie wissen selbst, daß ich Sie noch nie um etwas gebeten habe.«

»Kein Koch und kein Friseur werden mir vorschreiben, wohin ich mit meinem Dampfschiff fahren soll«, erklärte Abner Marsh ernst. Aber dann sah er in Tobys Gesicht, und seine Stimme bekam einen versöhnlichen Klang. »Es wird nichts geschehen«, versprach er, »aber wenn ihr beide hier in New Orleans warten wollt, dann tut das ruhig. Auf einer so kurzen Fahrt brauchen wir keinen Koch und keinen Friseur.«

Toby strahlte ihn dankbar an, sagte aber dann: »Die Heizer allerdings …«

»Die brauche ich.«

»Sie wollen nicht auf dem Schiff bleiben, Cap’n, glauben Sie mir.«

»Ich schätze, Hairy Mike wird dazu auch noch ein paar Worte zu sagen haben.«

Jeb schüttelte den Kopf. »Die Nigger haben vor Hairy Mike sicher viel Angst, aber noch mehr Angst haben sie vor dem Ort, zu dem Sie hinfahren wollen. Sie werden von Bord verschwinden, das ist gewiß.«

Marsh fluchte. »Verdammte Narren«, sagte er. »Nun, ohne Heizer bekommen wir nicht genug Dampf. Aber es war Joshua, der den Abstecher machen wollte, nicht ich. Gebt mir ein paar Minuten, um mich anzuziehen, Jungs, und wir gehen zu Cap’n York und sprechen mit ihm darüber.«

Die beiden Schwarzen wechselten vielsagende Blicke, schwiegen jedoch.

Joshua York war nicht allein. Als Marsh sich der Kabinentür des Kapitäns näherte, hörte er von drinnen die Stimme seines Partners, laut und rhythmisch. Marsh zögerte, dann stöhnte er auf, als er begriff, daß Joshua ein Gedicht vorlas. Laut, ruhig. Er hämmerte mit seinem Stock gegen die Tür, und York unterbrach seine Lesung und forderte sie auf einzutreten.

Joshua saß entspannt da, ein Buch auf dem Schoß, ein langer blasser Finger auf der Stelle, an der er unterbrochen worden war, ein Glas Wein auf dem Tisch neben sich. Valerie saß im anderen Sessel. Sie blickte zu Marsh hoch und wandte sich dann schnell ab; sie war ihm seit jener Nacht auf dem Texasdeck aus dem Weg gegangen, und Marsh fiel es leicht, sie zu ignorieren. »Heraus damit, Toby«, sagte er.

Toby schien größere Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden, als vorher bei Marsh, aber am Ende brachte er alles heraus. Danach stand er mit niedergeschlagenen Augen da und knetete mit den Händen seinen alten zerknitterten Hut.

Joshua Yorks Augen funkelten verärgert. »Wovor haben die Männer Angst?« fragte er in höflichem, kaltem Ton.

»Daß ihnen etwas zustößt, Sir.«

»Bestell ihnen, daß ich sie beschützen werde.«

Toby schüttelte den Kopf. »Cap’n York, ich will nicht unhöflich sein, aber die Nigger haben auch vor Ihnen Angst, vor allem jetzt, da Sie wollen, daß wir dorthin fahren.«

»Sie glauben, Sie seien einer von denen«, warf Jeb ein. »Daß Sie und Ihre Freunde uns dorthin und zu den anderen locken wollen. In den Geschichten heißt es, daß die Leute dort unten bei Tag nicht herauskommen, und man sagt, daß es bei Ihnen genauso sei, Cap’n, genau wie bei denen. Natürlich wissen ich und Toby, daß es nicht so ist, aber die anderen glauben es.«

»Dann bestellt ihnen, daß ich für die Zeit, die wir im Bayou sind, ihren Lohn verdoppele«, sagte Marsh.

Toby blickte nicht auf, aber er schüttelte den Kopf. »Um Geld geht es ihnen nicht. Sie wollen weglaufen.«

Abner Marsh fluchte. »Joshua, wenn weder Geld noch Hairy Mike sie umstimmen können, dann rühren sie keinen Finger. Wir müssen sie alle entlassen und neue Heizer und Handlanger und Schauerleute anheuern, aber das dauert seine Zeit.«

Valerie beugte sich vor und legte eine Hand auf Joshua Yorks Arm. »Bitte, Joshua«, sagte sie leise. »Hör auf sie. Das ist ein Zeichen. Wir sollen diese Fahrt nicht machen. Bring uns zurück nach St. Louis. Du hast versprochen, mir St. Louis zu zeigen.«

»Das werde ich auch«, erwiderte Joshua, »aber nicht bevor ich meine Aufgabe erledigt habe.« Er sah Toby und Jeb stirnrunzelnd an. »Ich könnte auch auf dem Landweg sehr leicht nach Cypress Landing gelangen«, sagte er. »Sicherlich wäre das der schnellste und einfachste Weg, um mein Ziel zu erreichen. Aber das würde mir nicht passen, meine Herren. Entweder komme ich mit meinem Dampfer dorthin, oder nicht. Entweder bin ich hier der Kapitän, oder ich bin es nicht. Ich dulde es nicht, daß meine Mannschaft mir mißtraut. Und ich will nicht, daß meine Männer sich vor mir fürchten.« Er ließ den Gedichtband vernehmlich auf den Tisch plumpsen und machte keinen Hehl aus seiner Verärgerung. »Habe ich je irgend etwas getan, das euch geschadet hat, Toby?« wollte Joshua wissen. »Habe ich einen von euch schlecht behandelt? Habe ich irgend etwas getan, daß ihr Grund habt, mir zu mißtrauen?«

»Nein, Sir«, antwortete Toby leise.

»Nein, sagst du. Und trotzdem wollen sie mich im Stich lassen?«

»Ja, Sir. Ich fürchte, so ist es«, sagte Toby.

Joshua Yorks Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an. »Was wäre denn, wenn ich euch bewiese, daß ich nicht das bin, was ich nach eurer Meinung sein soll?« Seine Blicke wanderten von Toby zu Jeb und wieder zurück. »Wenn sie mich bei Tageslicht sehen könnten, würden sie mir dann vertrauen?«

»Nein«, stieß Valerie hervor. Sie war entsetzt. »Joshua, du kannst nicht …«

»Ich kann«, sagte er, »und ich will. In Ordnung, Toby?«

Der Koch hob den Kopf, blickte York in die Augen und nickte langsam. »Nun, vielleicht … wenn sie sehen, daß Sie nicht …«

Joshua musterte die beiden Farbigen lange. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Ich werde morgen zusammen mit euch zu Mittag speisen. Laßt für mich einen Platz am Tisch decken.«

»Ich glaube, ich werd’ verrückt«, sagte Abner Marsh.

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