Joshua trug zum Dinner seinen weißen Anzug, und Toby übertraf sich selbst. Die Neuigkeit hatte sich natürlich herumgesprochen, und praktisch die gesamte Besatzung der Fiebertraum war zugegen. Die Kellner, blitzsauber in ihren adretten weißen Jacken, huschten hin und her und schleppten Tobys Festmahl auf großen dampfenden Platten und in erlesenen Porzellanschüsseln aus der Küche. Es gab Schildkrötensuppe und Hummersalat, gefüllte Krabben und in Schweineschmalz gebackene Kalbsbrieschen, Austernpastete und Hammelkoteletts, Dosenschildkröte, pfannengebratenes Huhn, weiße Rüben und gefüllte Pfefferschoten, Roastbeef und panierte Kalbsschnitzel, irische Kartoffeln und grünen Mais und Karotten und Artischocken und Bohnen, ein reichhaltiges Sortiment an Brot, Wein und Spirituosen von der Bar und frische Milch aus der Stadt, Schalen mit frisch gerührter Butter und als Dessert Plumpudding und Zitronenkuchen und ›Schwimmende Inseln‹ und Biskuitkuchen mit Schokoladensauce.
Abner Marsh hatte noch nie in seinem Leben eine bessere Mahlzeit eingenommen. »Verdammt«, sagte er zu York, »ich wünschte, Sie kämen häufiger zu Mittag heraus, damit wir so wie jetzt fast jeden Tag speisen können.«
Joshua rührte sein Essen jedoch kaum an. Im hellen Licht des Tages schien er ein ganz anderer Mensch zu sein; irgendwie zusammengeschrumpft, weniger imponierend. Unter den Oberlichtern hatte seine helle Haut eine ungesunde Bleiche, und Marsh glaubte, einen kreidig grauen Schimmer wahrnehmen zu können. Yorks Bewegungen erschienen träger und gelegentlich abgehackt, ohne die Geschmeidigkeit und verhaltene Kraft, die er normalerweise zeigte.
Aber die deutlichste Veränderung war an seinen Augen zu beobachten. Im Schatten des breitkrempigen weißen Hutes, den er trug, erschienen seine Augen müde, unendlich müde. Die Pupillen waren zu winzigen stecknadelkopfgroßen Punkten verkleinert, und das Grau drumherum war blaß und matt, völlig ohne die Intensität, die Marsh so oft hatte beobachten können.
Aber er war da, und das schien das wichtigste überhaupt zu sein. Er war am hellichten Tag aus seiner Kabine herausgekommen, war über die freien Decks und die Treppen hinuntergegangen und hatte sich vor Gott, der Mannschaft und allen anderen zu Tisch gesetzt, um zu Mittag zu essen. Was für Geschichten und Ängste seine nächtlichen Aktivitäten auch heraufbeschworen haben mochten, sie erschienen nun verdammt närrisch, wo das Licht des Tages auf Joshua York und seinen eleganten weißen Anzug fiel.
York schwieg fast während der ganzen Mahlzeit, doch er gab ab und zu fast schüchterne Antworten von sich, wenn jemand ihm eine Frage stellte, und gelegentlich beteiligte er sich auch durch kurze Kommentare am allgemeinen Tischgespräch. Als das Dessert serviert war, schob er den Teller beiseite und legte müde das Messer hin. »Rufen Sie Toby einmal her«, sagte er.
Der Koch tauchte aus der Küche auf, mit Mehl bestäubt und voller Ölspritzer. »Hat Ihnen das Essen nicht geschmeckt, Cap’n York?« fragte er. »Sie haben ja kaum etwas gegessen.«
»Es war vorzüglich, Toby. Ich fürchte, um diese Tageszeit habe ich nie besonders viel Appetit. Aber ich bin hier, und ich denke, ich habe damit etwas bewiesen.«
»Ja, Sir«, sagte Toby. »Es wird wohl keine Schwierigkeiten mehr geben.«
»Hervorragend«, sagte York. Als Toby in seine Küche zurückgekehrt war, wandte York sich an Marsh. »Ich habe beschlossen, noch einen Tag hierzubleiben«, sagte er. »Wir dampfen erst morgen abend los, und nicht schon heute.«
»Klar, sicher, Joshua«, beeilte Marsh sich zu erwidern. »Würden Sie mir bitte noch ein Stück von dem Kuchen reichen?« York lächelte und tat ihm den Gefallen.
»Cap’n, heute abend wäre es aber günstiger als morgen«, meinte Dan Albright, der sich mit einem Fischbeinstäbchen die Zähne säuberte. »Ich habe es in der Nase, daß ein Sturm im Anmarsch ist.«
»Morgen«, beharrte York.
Albright zuckte die Achseln.
»Toby und Jeb können hierbleiben. Und«, fuhr York fort, »ich möchte nur die nötigste Mannschaft mitnehmen, die gebraucht wird, um das Boot in Fahrt zu halten. Alle Passagiere, die schon frühzeitig an Bord gekommen sind, sollen für ein paar Tage an Land untergebracht werden, bis wir wieder zurück sind. Wir werden keine Fracht aufnehmen, deshalb können die Schauerleute auch ein paar freie Tage bekommen. Wir nehmen nur eine Wache mit. Ist das möglich?«
»Ich denke schon«, sagte Marsh. Er blickte die lange Tafel hinunter. Die Offiziere blickten Joshua allesamt neugierig an.
»Also dann, morgen abend bei Einbruch der Dunkelheit«, sagte York: »Entschuldigen Sie mich. Ich muß mich ausruhen.« Er erhob sich und schien für einen kurzen Moment unsicher auf den Füßen zu stehen. Marsh sprang schnell von seinem Platz auf, aber York winkte ab. »Es ist alles in Ordnung«, sagte er. »Ich ziehe mich jetzt in meine Kabine zurück. Sorgen Sie dafür, daß ich nicht gestört werde, bis wir soweit sind, daß wir New Orleans verlassen können.«
»Kommen Sie heute nicht zum Abendessen herunter?« erkundigte Marsh sich.
»Nein«, sagte York. Seine Blicke wanderten durch den Salon. »Ich denke, die Nacht ist mir in jeder Hinsicht lieber«, stellte er fest. »Lord Byron hatte recht. Der Tag ist viel zu grell.«
»Äh?« fragte Marsh.
»Erinnern Sie sich nicht mehr?« sagte York. »Das Gedicht, das ich in der Bootswerft in New Albany rezitierte. Es paßt genau auf die Fiebertraum. In ihrer Schönheit wandelt sie …«
»… wie wolkenlose Sternennacht«, fuhr Jeffers fort und rückte seine Brille zurecht. Abner Marsh starrte ihn verblüfft an. Jeffers war ein Teufelskerl beim Schachspiel und im Umgang mit Zahlen. Und er ging sogar ins Theater, aber Marsh hatte ihn noch nie Dichtung rezitieren gehört.
»Sie kennen Byron?« rief Joshua hocherfreut aus. Für einen kurzen Augenblick sah er fast wieder so aus wie sonst immer. »Tue ich«, gab Jeffers zu. Eine Augenbraue hatte er hochgezogen, als er York ansah. »Cap’n, wollen Sie damit behaupten, daß unsere Tage auf der Fiebertraum voller Frömmigkeit sein werden?« Er lächelte. »Nun, das wird für Hairy Mike und Mister Framm eine überraschende Neuigkeit sein.«
Hairy Mike lachte schallend, während Framm protestierte. »He, Moment mal, drei Ehefrauen heißen doch nicht, daß ich nicht gut bin. Schließlich würde fast jede für mich die Hand ins Feuer legen.«
»Über was, zum Teufel, wird hier geredet?« meldete Abner Marsh sich zu Wort. Die meisten Offiziere und Mannschaftsangehörigen schienen genauso verwirrt zu sein wie er.
Joshua reagierte mit einem flüchtigen Lächeln. »Mister Jeffers erinnert mich nur an die letzte Strophe des Gedichtes von Byron«, sagte er. Er deklamierte:
O diese Wang, o diese Braun,
Wie sanft, wie still, und doch beredt,
Was wir in ihrem Lächeln schaun!
Ein frommes Wirken früh und spät,
Ein Herz voll Frieden und Vertraun,
Und Lieb, unschuldig wie Gebet.
»Sind wir unschuldig, Cap’n?« fragte Jeffers.
»Niemand ist vollkommen schuldig«, erwiderte Joshua York, »aber nichtsdestoweniger spricht das Gedicht zu mir, Mister Jeffers. Die Nacht ist wunderbar, und wir können hoffen, in ihrer düsteren Pracht Frieden und Würde zu finden. Zu viele Menschen haben unbegründete Angst vor der Dunkelheit.«
»Vielleicht«, sagte Jeffers. »Manchmal sollte man sich jedoch davor fürchten.«
»Nein«, sagte Joshua York, und nach diesen Worten verließ er sie und brach das Wortgeplänkel mit Jeffers jäh ab. Sobald er sich zurückgezogen hatte, begannen auch die anderen, die Tafel zu verlassen, um sich wieder ihren Aufgaben zu widmen, nur Jonathan Jeffers blieb zurück und starrte gedankenverloren in den leeren Salon. Marsh setzte sich wieder, um seinen Kuchen aufzuessen. »Mister Jeffers«, sagte er, »ich weiß nicht, was an diesem Fluß vor sich geht. Verdammte Gedichte. Welchen Sinn hatte dieses alberne Geschwätz überhaupt? Wenn dieser Byron etwas Wichtiges zu sagen hatte, warum hat er das dann nicht geradeheraus und in einer einfachen Sprache getan? Beantworten Sie mir das.«
Jeffers schaute ihn an und blinzelte. »Entschuldigung, Cap’n«, sagte er. »Ich habe versucht, mich an etwas zu erinnern. Was haben Sie gesagt?«
Marsh schob sich eine Gabel voll Kuchen in den Mund, spülte alles mit einem kräftigen Schluck Kaffee hinunter und wiederholte dann seine Frage.
»Sehen Sie, Cap’n«, meinte Jeffers mit einem gequälten Lächeln, »das Wesentliche ist, daß Dichtung etwas Schönes ist. Es ist die Art und Weise, wie die Worte zusammenpassen, ihr Rhythmus, es sind die Bilder, die sie malen. Gedichte sind etwas Angenehmes, wenn sie laut gesprochen werden. Die Reime, die innere Musik, eben die Art, wie sie klingen.« Er nahm einen Schluck Kaffee. »Es ist schwierig zu erklären, wenn Sie es nicht in Ihrem Innern spüren. Aber man könnte vielleicht sagen, daß es damit genauso ist wie mit einem Raddampfer, Cap’n.«
»Ich hab’ noch nie ein Gedicht zu Gesicht bekommen, das so schön ist wie ein Dampfboot«, sagte Marsh schroff.
Jeffers grinste. »Cap’n, warum hat wohl die Northern Light das große Bild der Aurora auf ihrem Radkasten? Eigentlich braucht sie es doch nicht. Die Schaufeln würden auch ohne es durchs Wasser rauschen. Warum ist unser Lotsenhaus und vieles andere so reich mit Schnörkeln und Schnitzereien und Beschlägen verziert, warum ist jeder Raddampfer, der diese Bezeichnung verdient, so voll von edlem Holz und Teppichen und Ölgemälden und Modellsägearbeiten? Warum sehen unsere Schornsteine am oberen Rand aus wie aufblühende Blumen? Der Qualm würde genauso glatt herauskommen, wenn sie einfach und schlicht aussähen.«
Marsh rülpste und blickte finster.
»Man könnte Raddampfer sehr viel schmuckloser und einfacher bauen«, schloß Jeffers, »aber gerade die Art und Weise, wie sie heute aussehen, macht das Vergnügen größer, das man bei ihrem Anblick und bei einer Fahrt darauf empfindet. Genauso ist es mit der Dichtung, Cap’n. Ein Dichter könnte, was er zu sagen hat, auch einfach und klar ausdrücken, ganz bestimmt sogar, aber wenn er seine Botschaft in Reime und in ein bestimmtes Versmaß packt, dann klingt alles etwas großartiger.«
»Na ja, kann sein«, meinte Marsh zweifelnd.
»Ich wette, daß ich ein Gedicht finden könnte, das auch Ihnen gefällt«, sagte Jeffers. »Byron hat so eins nämlich geschrieben. ›Senheribs Untergang‹ lautet sein Titel.«
»Und wo ist das?«
»Es muß heißen: wer, nicht wo«, verbesserte Jeffers ihn. »Es ist ein Gedicht über einen Krieg, Cap’n. Ein wundervoller Rhythmus liegt darin. Es trabt so lebhaft dahin wie ›Buffalo Girls‹.« Er stand auf und glättete seinen Rock. »Kommen Sie mit, ich zeige es Ihnen.«
Marsh leerte seine Kaffeetasse, stand auf und folgte Jonathan Jeffers nach achtern in die Bibliothek der Fiebertraum. Er ließ sich erleichtert in einen großen Polstersessel fallen, während der Zahlmeister die Regale absuchte, die den Raum füllten und bis zur Decke reichten. »Da ist es ja«, sagte Jeffers schließlich und zog einen mittelgroßen Band heraus. »Ich wußte doch, daß wir irgendwo ein Buch mit den Gedichten Byrons haben mußten.« Er ging die Seiten durch — einige waren noch nicht aufgeschnitten worden, und er trennte sie mit einem Fingernagel —, bis er fand, wonach er suchte. Dann warf er sich in die Brust und las ›Senheribs Untergang‹.
Das Gedicht hatte wirklich einen ganz eigentümlichen Rhythmus, das mußte Marsh zugeben, vor allem wurde er durch Jeffers’ Vortrag deutlich. Aber es erinnerte nicht an ›Buffalo Girls‹. Trotzdem gefiel es ihm irgendwie. »Nicht schlecht«, lobte er ehrlich, als Jeffers seine Lesung beendet hatte. »Das Ende hätte er sich schenken können. Diese verdammten Bibelschwinger müssen am Ende fast immer mit dem lieben Gott kommen.«
Jeffers lachte. »Lord Byron war kein Bibelfreund, das kann ich Ihnen versichern«, sagte er. »Er war sogar sehr unmoralisch. Jedenfalls wird es so berichtet.« Er bekam wieder einen nachdenklichen Blick und begann erneut zu blättern.
»Was suchen Sie jetzt?«
»Das Gedicht, an das ich mich bei Tisch zu erinnern versucht habe«, antwortete Jeffers. »Byron hat auch ein Gedicht über die Nacht geschrieben. Es widerspricht eigentlich — ah, da ist es ja.« Er ließ den Blick über die Buchseite gleiten und nickte. »Hören Sie sich das einmal an, Cap’n. Der Titel lautet ›Finsternis‹.« Er begann vorzulesen.
Ich hatte einen Traum, der nicht ganz Traum:
Das Licht der Sonne war verlöscht, die Sterne
Im Dunkel durch die ew’gen Räume zogen,
Strahllos und pfadlos, und die kalte Erde
Hing schwarz und blind im mondlos trüben Äther.
Der Morgen kam und ging und kam und brachte
Doch keinen Tag, und in dem öden Graus
Vergaßen ihre Leidenschaft die Menschen,
Und aller Herzen flehten bang um Licht …
Die Stimme des Zahlmeisters hatte einen hohlen, unheimlichen Klang angenommen, während er las; das Gedicht dauerte und dauerte, länger als jedes andere. Marsh konnte schon bald die Worte nicht mehr richtig verfolgen, aber sie berührten ihn gleichwohl und füllten den Raum mit einem furchterregenden kalten Hauch. Phrasen und Fetzen von Textzeilen geisterten durch sein Gemüt; das Gedicht war voll von düsteren, vergeblichen Gebeten, von Verzweiflung, Wahnsinn und mächtigen Begräbnisfeuern, von Krieg und Hunger und Menschen, die sich benahmen wie Bestien.
… mit Blut erkauft
Ward jedes Mahl, das jeder einsam mürrisch
Verschlang; nur ein Gedanke war die Erde,
Und dieser: Tod — ruhmlos und allzu nah.
Des Hungers Wut zerfraß die Eingeweide,
Und unbegraben blieb der Sterbenden
Gebein und Fleisch; der Magere verschlang
Den Magren, Hunde fielen ihre Herrn
und Jeffers las weiter, Zeile um Zeile, bis er zum Ende kam:
Sie schliefen überm strudellosen Abgrund.
Die Wogen tot — die Fluten in dem Grab —
Der Mond, ihr Herrscher, vorher schon gestorben;
Die Winde moderten in stiller Luft,
Die Wolken kamen um, die Finsternis
Bedurfte ihrer nicht — sie war die Welt.
Er klappte das Buch zu.
»Delirien«, sagte Marsh. »Das klingt nach einem Mann, der sich im Fieberwahn befindet.«
Jonathon Jeffers lächelte matt. »Es gab noch nicht einmal eine göttliche Erscheinung.« Er seufzte. »Ich glaube, Byron hatte zur Finsternis ein gespaltenes Verhältnis. In diesem Gedicht jedenfalls ist von Unschuld nicht viel zu finden. Ich frage mich, ob Cap’n York sich da auskennt.«
»Natürlich tut er das«, sagte Marsh und stemmte sich aus dem Sessel hoch. »Geben Sie das mal her.« Er streckte eine Hand aus. Jeffers reichte ihm das Buch. »Fangen Sie jetzt an, sich für Dichtung zu interessieren, Cap’n?«
»Das geht Sie doch wohl nichts an«, entgegnete Marsh und ließ das Buch in seine Tasche gleiten. »Haben Sie eigentlich nichts in Ihrem Büro zu tun?«
»Gewiß doch«, sagte Jeffers. Er empfahl sich.
Drei oder vier Minuten lang stand Abner Marsh in der Bibliothek und kam sich ziemlich seltsam vor; das Gedicht hatte eine erschütternde Wirkung auf ihn gehabt. Vielleicht steckte am Ende sogar etwas hinter dieser Dichterei, dachte er. Er beschloß, zu seiner Zerstreuung das Buch zu lesen und zu versuchen, selbst eine Erklärung zu finden.
Marsh hatte jedoch noch einige eigene Angelegenheiten zu regeln, und die hielten ihn den größten Teil des Nachmittags bis in den frühen Abend beschäftigt. Anschließend vergaß er das Buch in seiner Tasche. Karl Framm wollte nach New Orleans und mit Charles einen trinken gehen, und Marsh beschloß, sich ihm anzuschließen. Es war schon fast Mitternacht, als sie auf die Fiebertraum zurückkehrten. Während er sich in seiner Kabine auszog, fiel Marsh das Buch wieder in die Hände. Er legte es behutsam auf seinen Nachttisch, streifte sich das Nachthemd über und machte es sich bequem, um beim Kerzenschein noch etwas zu lesen.
›Finsternis‹ erschien bei Nacht und in der dämmerigen Abgeschiedenheit seiner kleinen Schiffskabine noch unheimlicher, obgleich in den gedruckten Worten auf dem Papier nicht die eisige Bedrohung mitschwang, die Jeffers ihnen mit seinem Vortrag verliehen hatte. Trotzdem beunruhigten sie ihn. Er blätterte weiter und las ›Senheribs Untergang‹ und ›In ihrer Schönheit wandelt sie‹ und noch einige andere Gedichte, aber seine Gedanken kehrten immer wieder zu ›Finsternis‹ zurück. Trotz der Hitze der Nacht kroch Abner Marsh eine Gänsehaut über die Arme.
Im vorderen Teil des Buches befand sich ein Bild von Lord Byron. Marsh betrachtete es lange. Er sah hübsch aus, dunkel und sinnlich wie ein Kreole; es war leicht zu erkennen, warum die Frauen seine Gunst suchten, auch wenn er angeblich ein Krüppel gewesen sein sollte. Natürlich war er zugleich Adliger. So stand es unter seinem Bild:
Abner Marsh betrachtete Byrons Gesicht eine Zeitlang eingehend und ertappte sich dabei, wie er den Dichter um sein gutes Aussehen beneidete. Schönheit war noch nie etwas gewesen, das er am eigenen Leibe erlebt hatte; wenn er von großartigen, prachtvollen Raddampfern träumte, dann lag es wahrscheinlich daran, daß es ihm selbst so sehr an Schönheit mangelte. Mit seinem Wanst, seinen Warzen und seiner plattgeschlagenen Nase hatte Marsh sich nie den Kopf über Frauen zerbrechen müssen. Als er noch jünger war und mit Flößen oder Flachbooten auf dem Fluß unterwegs war, und auch nachdem er einige Zeit auf den Dampfern gearbeitet hatte, hatte Marsh Orte in Natchez‐under‐the‐Hill und in New Orleans aufgesucht, wo ein Flußmann eine ganze Nacht lang zu einem anständigen Preis seinen Spaß haben konnte. Und später, als die Fevre River Packets aufzublühen begann, waren da ein paar Frauen in Galena und Dubuque und St. Paul gewesen, die ihn geheiratet hätten, wären sie nur darum gebeten worden; gute, standhafte, strenggesichtige Witwen, die den Wert eines gesunden starken Mannes, wie er einer war, mit all seinen Dampfbooten, zu schätzen wußten. Aber sie hatten nach seinem Unglück sehr schnell das Interesse verloren, und außerdem waren sie niemals das gewesen, was er sich gewünscht hatte. Als Abner Marsh sich gestattete, über diese Dinge nachzudenken, was nicht allzu häufig geschah, träumte er von Frauen wie den dunkeläugigen Kreolinnen und den hellbraunen freien Terzeroninnen von New Orleans, schlank und graziös und stolz wie seine Dampfboote.
Marsh schnaubte und blies seine Kerze aus. Er versuchte zu schlafen. Aber seine Träume waren wirr und unheimlich; Worte hallten schwach und angsteinflößend in den düsteren Windungen seines Geistes wider.
… der Morgen kam und ging und kam und brachte doch keinen Tag …
… mit Blut erkauft war jedes Mahl, das jeder einsam mürrisch verschlang.
… und in dem öden Graus Vergaßen ihre Leidenschaft die Menschen.
… mit Blut erkauft ward jedes Mahl … ein erstaunlicher Mann.
Abner Marsh saß kerzengerade im Bett, hellwach, und lauschte dem Schlag seines Herzens. »Verdammt«, murmelte er. Er fand ein Streichholz, zündete seine Nachttischkerze an und öffnete den Gedichtband auf der Seite mit dem Bild Byrons. »Verdammt«, stieß er noch einmal hervor.
Marsh kleidete sich hastig an. Er sehnte sich nach etwas Wildem als Gesellschaft, nach Hairy Mikes Muskeln und schwarzem Eisenknüppel oder nach Jonathon Jeffers und seinem Stockdegen. Aber das war eine Sache zwischen ihm und Joshua allein und er hatte ihm sein Wort gegeben, mit niemandem darüber zu reden.
Er spritzte sich Wasser ins Gesicht, griff nach seinem Hickorystock und ging hinaus aufs Deck und wünschte sich dabei, er hätte einen Prediger an Bord oder gar ein Kreuz. Der Gedichtband befand sich in seiner Tasche. Ein gutes Stück weiter unten am Landungskai war ein anderer Dampfer dabei, Dampf zu machen und zu laden; Marsh konnte hören, wie die Schauerleute einen langsamen, melancholischen Gesang anstimmten, als sie die Fracht über die Planken an Bord schleppten.
Vor der Tür zu Joshuas Kabine hob Abner Marsh seinen Stock, um anzuklopfen, dann zögerte er, da ihm plötzlich Zweifel kamen. Joshua hatte allgemeinen Befehl gegeben, ihn nicht zu stören. Joshua würde sich gehörig über das ärgern, was Marsh ihm zu sagen hatte. Das Ganze war reiner Unsinn, das Gedicht hatte ihm nur ein paar unangenehme Träume beschert, vielleicht hatte er auch etwas gegessen, was ihm nicht bekommen war. Dennoch, dennoch …
Er stand noch immer da, mit gerunzelter Stirn und in Gedanken versunken, den Stock erhoben, als die Kabinentür lautlos aufschwang.
Dahinter war es so dunkel wie im Bauch einer Kuh. Mond und Sterne warfen einen winzigen Lichtschimmer durch den Türrahmen, doch dahinter gähnte eine samtige Schwärze. Ein paar Schritte von der Tür entfernt stand eine schattenhafte Gestalt. Das Mondlicht berührte nackte Füße, und man konnte die undeutlichen Umrisse eines Mannes schwach erahnen. »Kommen Sie herein, Abner«, drang die Stimme aus der Dunkelheit. Joshuas Stimme war ein krächzendes Flüstern.
Abner Marsh setzte sich in Bewegung und trat über die Schwelle.
Der Schatten rührte sich, und plötzlich war die Tür geschlossen. Marsh hörte, wie sie verriegelt wurde. Es war vollkommen dunkel. Er konnte nicht das geringste erkennen. Eine kraftvolle Hand erfaßte seinen Arm und zog ihn mit sich. Dann wurde er nach hinten gestoßen, und er empfand während eines kurzen Augenblicks Angst, bis er unter sich einen Sessel spürte.
Das Rascheln einer Bewegung in der Dunkelheit. Marsh schaute um sich, blind, bemüht, in der Schwärze etwas zu erkennen. »Ich habe nicht geklopft«, hörte er sich sagen.
»Nein«, lautete Joshuas Erwiderung. »Ich habe Sie kommen hören. Und ich habe Sie erwartet, Abner.«
»Er sagte, Sie würden kommen«, erklang eine andere Stimme aus einer anderen Richtung in der Finsternis. Die Stimme einer Frau, weich, bitter. Valerie.
»Sie!« stieß Marsh verblüfft hervor. Das hatte er nicht erwartet. Er war verwirrt, verärgert, unsicher, und Valeries Anwesenheit machte es ihm noch schwieriger. »Was tun Sie denn hier?« wollte Marsh wissen.
»Das gleiche könnte ich Sie fragen«, antwortete ihre weiche Stimme. »Ich bin hier, weil Joshua mich braucht, Captain Marsh. Um ihm zu helfen. Und das ist mehr, als Sie getan haben, trotz all Ihrer Worte. Sie und Ihre Leute, mit all dem Mißtrauen, all diesen frommen …«
»Genug, Valerie«, schnitt Joshua ihr das Wort ab. »Abner, ich weiß nicht, warum Sie heute nacht hergekommen sind, aber ich war sicher, daß Sie früher oder später auftauchen würden. Ich hätte wahrscheinlich besser daran getan, einen Dummkopf zum Partner zu nehmen, einen Mann, der widerspruchslos Befehle ausführt. Sie sind zu Ihrem eigenen Schaden wahrscheinlich zu schlau, und auch zu meinem Schaden. Ich wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, bis Sie das Garn entwirrten, das ich für Sie in Natchez gesponnen habe. Ich habe wohl mitbekommen, wie Sie uns beobachtet haben. Ich weiß auch über Ihre kleinen Prüfungen Bescheid.« Er stieß ein rauhes, gequältes Kichern aus. »Weihwasser, ausgerechnet!«
»Wie … Sie wußten alles?« fragte Marsh.
»Ja.«
»Dieser verfluchte Junge.«
»Seien Sie ihm nicht böse. Er hatte wenig damit zu tun, Abner, obwohl ich bemerkt habe, wie er mich die ganze Zeit während des Essens anstarrte.« Joshuas Lachen klang unecht, furchtbar verkrampft. »Nein, es war das Wasser selbst, das mir den Hinweis gab. Ein paar Tage nach unserem Gespräch taucht plötzlich vor mir auf dem Tisch ein Glas frisches Wasser auf, was hätte ich davon halten sollen? Die ganze Zeit auf dem Fluß bekommen wir Wasser voller Schlamm und Schwebeteilchen. Ich hätte mit dem Dreck, den ich immer auf dem Boden meines Glases zurückgelassen habe, einen Garten anlegen können.« Er gab ein trockenes, höhnisches Schnalzgeräusch von sich. »Oder ich hätte damit meinen Sarg füllen können.«
Auf die letzte Bemerkung ging Abner Marsh nicht ein. »Umrühren und mit dem Wasser runterspülen«, sagte er. »Das macht Sie zu einem Flußmann.« Er hielt inne. »Vielleicht auch nur zu einem richtigen Mann«, fügte er hinzu.
»Aha«, sagte Joshua, »demnach kommen wir allmählich zum Thema.« Er sagte lange Zeit nichts mehr, und die Atmosphäre in der Kabine wurde erstickend, überladen mit Finsternis und Stille. Als Joshua wieder zu reden begann, klang er kalt und ernst. »Haben Sie ein Kreuz mitgebracht, Abner? Oder einen Holzpflock?«
»Ich habe dies dabei«, sagte Marsh. Er holte den Gedichtband hervor und schleuderte ihn durch die Luft zu der Stelle, wo er Joshua vermutete.
Er hörte eine Bewegung, ein scharfes Klatschen, als das wirbelnde Buch aus der Luft gefangen wurde. Seiten raschelten. »Byron«, stellte Joshua verwirrt fest.
Abner Marsh hätte seine Finger nicht sehen können, wenn er damit nur wenige Zoll vor seinem Gesicht herumgespielt hätte, so gründlich war die Kabine verrammelt und abgedunkelt. Aber Joshua konnte nicht nur ausreichend sehen, um das Buch aufzufangen, sondern auch, um darin zu lesen. Marsh spürte, wie trotz der Hitze eine Gänsehaut an ihm hochkroch.
»Warum Byron?« fragte Joshua. »Sie geben mir Rätsel auf. Eine weitere Prüfung, ein Kreuz, Fragen, mit so etwas hätte ich gerechnet. Nicht mit Byron.«
»Joshua«, sagte Marsh, »wie alt sind Sie?«
Stille.
»Ich kann sehr gut schätzen, wie alt jemand ist«, sagte Marsh. »Bei Ihnen ist es schwierig, mit Ihrem weißen Haar und allem. Trotzdem, Ihrem Aussehen — Ihrem Gesicht, Ihren Händen — nach zu urteilen würde ich sagen, dreißig, höchstens fünfunddreißig. In diesem Buch dort steht, daß er vor dreiunddreißig Jahren starb. Und Sie sagen, Sie kannten ihn.«
Joshua seufzte. »Ja.« Er klang wehmütig. »Ein dummer Fehler. Ich war von dem Anblick des Raddampfers so überwältigt, daß ich mich vergaß. Nachher dachte ich, daß es nicht wichtig gewesen war. Sie hatten keine Ahnung von Byron. Ich war überzeugt, Sie würden es vergessen.«
»Ich bin zwar nicht immer der Schnellste. Aber ich vergesse nichts.« Marsh umklammerte seinen Stock, als verleihe ihm das Gefühl des soliden Holzes neue Sicherheit, und beugte sich vor.
»Joshua, ich möchte, daß wir einmal ernsthaft miteinander reden. Schicken Sie die Frau weg.«
Valerie lachte eisig in der Dunkelheit. Sie schien näher gekommen zu sein, obgleich Marsh nicht wahrgenommen hatte, wie sie sich bewegt hatte. »Er ist ein unverschämter Narr«, sagte sie.
»Valerie wird bleiben, Abner«, sagte Joshua barsch. »Sie genießt mein Vertrauen und kann alles mit anhören, was Sie mir zu sagen haben. Sie ist das gleiche wie ich.«
Marsh fühlte sich auf einmal kalt und sehr einsam. »Das gleiche wie Sie«, wiederholte er schleppend. »Na schön. Was sind Sie?«
»Urteilen Sie selbst«, erwiderte Joshua. Ein Streichholz flackerte plötzlich in der schwarzen Kabine auf.
»O mein Gott«, krächzte Marsh.
Die kurze kleine Flamme warf ein grelles Licht auf Joshuas Züge. Seine Lippen waren geschwollen und rissig. Verbrannte, geschwärzte Haut spannte sich straff über Stirn und Wangen. Blasen, prall mit Wasser und Eiter, wölbten sich unter seinem Kinn und auf der Hand, die das Streichholz umhüllte. Seine grauen Augen starrten weißlich und triefend aus tiefen Höhlen. Joshua York lächelte grimmig, und Marsh hörte, wie das versengte Fleisch knisterte und riß. Eine fahlweiße Flüssigkeit sickerte an einer Wange aus einem frisch entstandenen Riß. Ein Stück Haut löste sich, und zurück blieb rosiges rohes Fleisch.
Dann erlosch das Streichholz, und die Dunkelheit war ein Segen.
»Sie bezeichneten sich als sein Partner«, sagte Valerie anklagend. »Sie würden ihm helfen, sagten Sie. Dies ist also die Hilfe, die Sie ihm zuteil werden ließen, Sie und Ihre Mannschaft mit ihrem Mißtrauen und ihren Drohungen. Ihretwegen hätte er sterben können. Er ist der fahle König, und Sie sind nichts, aber er tat sich dies selbst an, um Ihrer aller wertlose Loyalität zu erringen. Sind Sie jetzt zufrieden, Captain Marsh? Es scheint nicht so, da Sie hier sind.«
»Was, zur Hölle, ist mit Ihnen passiert?« fragte Marsh und ignorierte Valerie.
»Ich hielt mich im Licht Ihres grellen Tages weniger als zwei Stunden lang auf«, entgegnete Joshua, und nun verstand Marsh sein gequältes Flüstern. »Ich war mir des Risikos bewußt. Ich habe so etwas schon früher gemacht, wenn es sich als notwendig erwies. Vier Stunden hätten mich wahrscheinlich umgebracht. Sechs Stunden ganz bestimmt. Aber zwei Stunden oder weniger, das meiste davon im direkten Sonnenlicht verbracht — nun, ich kannte meine Grenzen. Die Verbrennungen sehen schlimmer aus, als sie es in Wirklichkeit sind. Die Schmerzen sind erträglich. Und das alles wird schnell vorübergehen. Morgen um diese Zeit wird niemand einen Hinweis finden, daß mir so etwas zugestoßen ist. Mein Fleisch beginnt bereits zu heilen. Die Blasen platzen auf, die tote Haut löst sich ab. Sie haben es selbst gesehen.«
Abner Marsh schloß die Augen, riß sie wieder auf. Es machte keinen Unterschied. Die Dunkelheit war vollkommen, so oder so, und er konnte immer noch das blaßblaue Nachbild von dem Streichholz vor seinen Augen wahrnehmen und die furchtbare Erscheinung von Joshuas geschändetem Gesicht. »Dann ist das also mit dem Weihwasser und den Spiegeln wirkungslos«, sagte er. »Es hat keine Bedeutung. Sie können nicht bei Tag herauskommen, jedenfalls nicht richtig. Was Sie erzählt haben — von Ihren gottverdammten Vampiren. Sie sind echt. Aber Sie haben mich angelogen. Sie haben gelogen, Joshua! Sie sind kein Vampirjäger, Sie sind selbst einer von ihnen. Sie und Ihre Freundin und alle anderen. Sie alle sind selbst gottverdammte Vampire!« Marsh hielt seinen Spazierstock vor sich, ein nutzloses Hickoryschwert, um Dinge abzuwehren, die er nicht sehen konnte. Seine Kehle war wund und trocken. Er hörte Valerie hell lachen und näher kommen.
»Reden Sie leise, Abner«, sagte Joshua ruhig, »und verschonen Sie mich mit Ihrer Entrüstung. Ja, ich habe Sie angelogen. Bei unserer ersten Zusammenkunft habe ich Sie gewarnt, daß Sie nur Lügen zu hören bekämen, wenn Sie mich ausfragten. Sie haben mich zu den Lügen gezwungen. Ich bedaure nur, daß es keine besseren Lügen waren.«
»Mein Partner«, sagte Abner Marsh wütend. »Zur Hölle, ich kann es noch immer nicht glauben. Ein Mörder, schlimmer noch als ein Mörder. Was haben Sie in all den Nächten getrieben? Haben Sie sich auf einsame Leute gestürzt, ihr Blut getrunken, ihnen die Kehle aufgerissen? Und dann sind Sie weitergezogen, yessir, jetzt begreife ich alles. Jede Nacht eine andere Stadt, auf diese Weise kann Ihnen nichts passieren, wenn die Leute an Land herausfinden, was Sie getan haben, sind Sie längst woanders. Und nicht einfach zu Fuß, nein, in einem prachtvollen Raddampfer, im großen Stil, mit eigener Kabine und allem, was dazu gehört. Kein Wunder, daß Sie sich so sehr ein Dampfschiff gewünscht haben, Mister Cap’n York. Gott sollte Sie in die Hölle werfen.«
»Seien Sie still«, schnappte York mit solchem Nachdruck in der Stimme, daß Marsh jäh den Mund zuklappte. »Senken Sie Ihren Stock, ehe Sie damit noch etwas beschädigen. Runter damit, sage ich.« Marsh ließ den Spazierstock auf den Teppich fallen. »Gut«, lobte Joshua.
»Er ist genauso wie alle anderen, Joshua«, sagte Valerie. »Er versteht nicht. Er empfindet für dich nichts als Furcht und Haß. Wir dürfen ihn nicht laufen lassen.«
»Schon möglich«, sagte Joshua widerstrebend. »Ich glaube, in ihm steckt etwas Besonderes, aber wahrscheinlich irre ich mich. Was ist nun, Abner? Seien Sie vorsichtig, was Sie sagen. Reden Sie, als hinge von jedem Ihrer Worte Ihr Leben ab.«
Aber Abner Marsh war viel zu aufgebracht, um einen klaren Gedanken zu fassen. Die Angst, die ihn erfüllt hatte, hatte dem Fieber rasender Wut Platz gemacht; er war angelogen worden, war zu einem Teil dieses Spiels gemacht worden, hatte den großen häßlichen Narren spielen dürfen. Niemand behandelte Abner Marsh so, niemand, egal ob es ein Mensch war oder nicht. York hatte seine Fiebertraum, seine Lady, in eine Art schwimmenden Alptraum verwandelt. »Ich fahre schon lange auf diesem Fluß«, sagte Marsh. »Versuchen Sie also nicht, mir Angst zu machen. Als ich auf meinem ersten Dampfer arbeitete, habe ich mitangesehen, wie einem Freund von mir in einem Saloon in St. Joe die Eingeweide aus dem Balg geschnitten wurden. Ich hab’ mir den Übeltäter, der das getan hat, geschnappt, hab’ ihm das Messer abgenommen und ihm das Genick gebrochen. Ich war auch in Bad Axe und unten im verfluchten Kansas, deshalb wird kein gottverfluchter Blutsauger mich bluffen. Wenn Sie mir ans Leder wollen, dann kommen Sie sofort. Ich bin zweimal so schwer wie Sie, und Sie sind noch völlig verbrannt. Ich reiße Ihnen den gottverdammten Schädel von den Schultern. Wahrscheinlich sollte ich das wegen der Dinge, die Sie getan haben, sowieso tun.«
Stille. Dann — eine verblüffende Reaktion — lachte Joshua York lange und laut. »O Abner«, sagte er, als er sich wieder beruhigt hatte, »Sie sind wirklich ein Dampfschiffer. Zur Hälfte Träumer, zur anderen Hälfte ein Prahlhans und alles in allem ein Narr. Sie sitzen da, sind total blind und wissen dabei, daß ich im Licht, das durch die Fensterläden und Vorhänge und unter der Tür hindurch hereindringt, perfekt alles sehen kann. Sie sitzen da, fett und träge, und kennen meine Kraft, meine Schnelligkeit. Eigentlich müßten Sie wissen, wie leise ich mich bewegen kann.« Eine Pause trat ein, ein Knarren, und plötzlich erklang Yorks Stimme am anderen Ende der Kabine. »Zum Beispiel so.« Wieder Stille. »Und so.« Hinter ihm. »Und so.« Er war wieder dort, wo er mit seiner Darbietung begonnen hatte; Marsh, der den Kopf gedreht hatte, um der Stimme zu folgen, fühlte sich etwas benommen. »Ich könnte Sie mit hundert sanften Berührungen, die Sie kaum spüren, verbluten lassen. Ich könnte mich an Sie anschleichen und Ihnen die Kehle aufreißen, ehe Sie überhaupt merken, daß ich aufgehört habe zu reden. Und trotzdem, trotz all dieser Dinge, hocken Sie da, starren in die falsche Richtung, recken Ihren Bart vor und prahlen und drohen mir.« Joshua seufzte. »Sie haben Mut, Abner Marsh. Ein schlechtes Urteilsvermögen, aber eine Menge Mut.«
»Wenn Sie vorhaben, mich zu töten, dann kommen Sie schon, und bringen Sie es hinter sich«, sagte Marsh. »Ich bin bereit. Vielleicht werde ich niemals die Eclipse schlagen, aber ich habe das meiste von dem getan, was ich mir vorgenommen habe. Lieber vermodere ich in einem dieser eleganten Grabmäler in New Orleans, als für eine Bande von Vampiren einen Raddampfer zu führen.«
»Ich habe Sie einmal gefragt, ob Sie ein abergläubischer Mensch sind oder ein religiöser«, sagte Joshua. »Sie haben es verneint. Und jetzt höre ich Sie über Vampire reden wie irgendein dummer, ahnungsloser Ignorant.«
»Was reden Sie da? Sie haben mir doch erzählt …«
»Ja, ja. Särge voller Erde, seelenlose Kreaturen, die sich nicht in Spiegeln zeigen, Dinge, die nicht über fließendes Wasser hinwegschreiten können, Kreaturen, die sich in Wölfe und Fledermäuse und Nebelschwaden verwandeln können, dabei aber vor einer Knoblauchzwiebel zurückweichen. Sie sind ein zu intelligenter Mann, Abner, um solchen Unsinn zu glauben. Legen Sie für einen kurzen Moment Ihre Wut und Ihre Ängste ab, und denken Sie nach!«
Das ließ Abner Marsh aufmerken. Der spöttische Ton in Joshuas Stimme ließ alles ziemlich lächerlich erscheinen. Vielleicht hatte York sich bei dem bißchen Tageslicht die Haut verbrannt, aber das änderte nichts an der Tatsache, daß er Weihwasser trank, Silberschmuck trug und sich in Spiegeln zeigte. »Wollen Sie mir etwa jetzt weismachen, daß Sie gar keine Vampire sind, oder was?« sagte Marsh etwas ratlos.
»Es gibt so etwas wie Vampire überhaupt nicht«, fuhr Joshua geduldig fort. »Sie sind genauso wie diese Flußgeschichten, die Karl Framm so hübsch erzählt. Der Schatz der Drennan Whyte. Der Phantomdampfer von Raccourci. Der Lotse, der so pflichteifrig war, daß er sogar zu seiner Ruderwache erschien, nachdem er gestorben war. Geschichten, Abner. Lockere Unterhaltung, von einem erwachsenen Mann auf keinen Fall ernstzunehmen.«
»Einige dieser Geschichten entsprechen zum Teil der Wahrheit«, protestierte Marsh schwach. »Ich meine, ich kenne viele Lotsen, die schwören, die Lichter des Phantoms gesehen zu haben, wenn sie die Raccourci‐Abkürzung benutzten, und sie haben sogar gehört, wie ihre Führer und Lenker geschimpft und geflucht haben. Und die Drennan Whyte, schön, ich glaube nicht an Flüche, aber sie soff genauso ab, wie Mister Framm es geschildert hat, und die Boote, die sich einfanden, um sie zu heben, versanken auch. Und was den toten Lotsen betrifft, denn kannte ich persönlich. Er war Schlafwandler, so war es, und er lenkte den Raddampfer, als er tief im Schlaf war. Die Geschichte wurde auf ihrem Weg flußab, flußauf nur etwas ausgeschmückt.«
»Damit haben Sie einen Punkt für sich gemacht, Abner. Wenn Sie auf dem Wort bestehen, dann ja, Vampire sind etwas Reales. Aber die Geschichten über uns wurden auch erheblich ausgeschmückt. Ihr Schlafwandler wurde im Laufe der Jahre und nach dem x-ten Erzählen der Geschichte zu einer Leiche. Versuchen Sie sich vorzustellen, was er in einem Jahrhundert sein wird.«
»Was sind Sie denn dann, wenn kein Vampir?«
»Ich kenne kein simples Wort für das, was ich bin«, sagte Joshua. »Auf englisch können Sie mich vielleicht einen Vampir, Hexer, Zauberer, Werwolf, Magier, Dämon, Ghoul nennen. Andere Sprachen haben andere Namen: Nosferatu, Odoroten, Upir, Loup Garou. Alles Namen, die Ihre Leute so armseligen Wesen verliehen haben, wie ich eines bin. Ich mag diese Namen nicht. Keiner davon trifft auf mich zu. Dennoch kann ich nichts anderes statt dessen anbieten. Wir haben für uns selbst keine Bezeichnung.«
»Und Ihre eigene Sprache …«, sagte Marsh.
»Wir haben keine Sprache. Wir benutzen die menschliche Sprache, menschliche Bezeichnungen. So haben wir es schon immer gemacht. Wir sind keine Menschen, wir sind auch keine Vampire. Wir sind … eine andere Rasse. Wenn wir uns selbst benennen, dann geschieht es gewöhnlich mit einem Ihrer Worte in einer Ihrer Sprachen, dem wir eine geheime Bedeutung verliehen haben. Wir sind das Volk der Nacht, das Volk des Blutes. Oder ganz einfach das Volk.«
»Und wir?« wollte Marsh wissen. »Wenn Sie das Volk sind, was sind dann wir?«
Joshua York zögerte kurz, und Valerie ergriff das Wort. »Das Volk des Tages«, sagte sie schnell.
»Nein«, sagte Joshua. »Das ist mein Ausdruck. Er wird von meinem Volk im allgemeinen nicht benutzt. Valerie, die Zeit für Lügen ist vorbei. Erzähl Abner die Wahrheit.«
»Sie wird ihm nicht gefallen«, warnte sie. »Joshua, das Risiko …«
»Und wenn schon«, unterbrach Joshua sie. »Valerie, erzähl’s ihm.«
Für einen Moment herrschte bleierne Stille. Dann sagte Valerie leise: »Das Vieh. So nennen wir Sie, Captain. Das Vieh.«
Abner Marsh blickte finster und ballte die Faust.
»Abner«, sagte Joshua, »Sie wollten die Wahrheit hören. Ich habe in der letzten Zeit viel über Sie nachgedacht. Nach Natchez befürchtete ich, ich müßte für Sie einen Unfall arrangieren. Wir dürfen nicht das Risiko der Entlarvung eingehen, und Sie sind für uns eine Bedrohung. Simon und Katherine haben mich bestürmt, Sie umzubringen. Diejenigen meiner neueren Gefährten, die ich ins Vertrauen gezogen habe, wie Valerie und Jean Ardant, waren ebenfalls dafür. Und doch, obgleich meine Leute und ich entschieden sicherer wären, wenn Sie tot wären, tat ich es nicht. Ich bin den Tod leid, die Angst, das endlose Leid des Mißtrauens zwischen unseren Rassen. Ich fragte mich statt dessen, ob wir nicht versuchen könnten zusammenzuarbeiten, aber ich war mir nie ganz sicher, ob Ihnen zu trauen ist. Bis zu dieser Nacht in Donaldsonville, ich meine die Nacht, in der Valerie versucht hatte, Sie dazu zu bewegen, mit der Fiebertraum zu wenden. Sie erwiesen sich als stärker, als ich hätte jemals erwarten können, als Sie ihr widerstanden, und Sie verhielten sich auch weitaus loyaler. Zu diesem Zeitpunkt traf ich meine Entscheidung. Sie sollten am Leben bleiben, und wenn Sie jemals wieder mit Fragen zu mir kämen, würde ich Ihnen die Wahrheit erzählen, die ganze Wahrheit, die gute wie die schlechte. Wollen Sie es sich anhören?«
»Habe ich eine andere Wahl?« fragte Marsh.
»Nein«, gab Joshua York zu.
Valerie seufzte. »Joshua, ich flehe dich an, es dir noch einmal zu überlegen. Er ist einer von denen, ganz gleich wie gern du ihn hast. Er wird nicht verstehen. Eines Tages kommen sie mit angespitzten Holzpflöcken herauf, du weißt genau, daß sie es tun.«
»Ich hoffe nicht«, sagte Joshua. Dann, an Marsh gewandt, fuhr er fort: »Sie hat Angst, Abner. Dies ist etwas ganz Neues, was ich zu zu tun im Begriff bin, und neue Schritte sind immer gefährlich. Hören Sie mich zu Ende an, und verurteilen Sie mich nicht, vielleicht kann es zwischen uns eine echte Partnerschaft geben. Ich habe noch nie zuvor jemandem von Ihrer Rasse diese Wahrheit erzählt …«
»Einem Stück Vieh also«, knurrte Marsh. »Nun, ich hab’ bisher noch nie einem Vampir zugehört, demnach sind wir quitt. Fangen Sie an. Ihr getreuer Bulle lauscht.«