Abner Marsh schlief nicht in dieser Nacht. Er verbrachte die langen Stunden der Dunkelheit in seinem Sessel auf dem Sturmdeck, die Lichter von Vicksburg im Rücken, und blickte über den Fluß. Die Nacht war kühl und still, das Wasser war wie schwarzes Glas. Ab und zu kam ein Dampfer in Sicht, eingehüllt in Flammen und Rauch und einen Funkenregen, und die Ruhe zerriß, während das Schiff vorbeirauschte. Doch dann machte es fest, oder es dampfte weiter, der Klang der Pfeife verhallte, und die Dunkelheit schloß sich wieder und umhüllte ihn wie weicher Samt. Der Mond war ein Silberdollar, der auf dem Wasser trieb, und Marsh hörte knarrende nasse Geräusche von der müden Eli Reynolds und gelegentlich Schritte oder auch den Fetzen eines Liedes aus Vicksburg, und stets wie ein Teppich unter allem den Atem des Flusses, das Rauschen seiner unerschöpflichen Fluten, die vorbeiströmten, die an seinem Schiff zerrten, es stießen und versuchten, es mitzunehmen, hinunter, nach Süden, dorthin wo das Nachtvolk und die Fiebertraum warteten.
Marsh fühlte sich seltsam berührt von der Schönheit der Nacht mit ihrer düsteren Lieblichkeit, die Joshuas schneidigen Engländer so tief bewegt hatte. Er kippte den Sessel nach hinten gegen die Glocke des alten Dampfers und ließ den Blick hinausschweifen zum Mond und den Sternen und über den Fluß und dachte, daß dies vielleicht der letzte friedliche Moment war, den er je erleben würde. Denn morgen — oder ganz gewiß am Tag danach — würden sie die Fiebertraum finden, und dann würde der Alptraum des Sommers aufs neue beginnen.
Sein Kopf war voller Vorahnungen, voller Erinnerungen und Visionen. Er sah immer wieder Jonathon Jeffers mit seinem Stockdegen, so verdammt kühn und selbstsicher und so verdammt hilflos, als Julian sich mit der Klinge im Leib auf ihn stürzte. Er hörte das Geräusch, als Julian das Genick des Zahlmeisters brach, und erinnerte sich daran, wie Jeffers Brille heruntergefallen war, das goldene Blinken, als sie über das Deck rutschte, an das leise Klirren, als sie aufprallte. Marshs große Hände verkrampften sich um den Griff des Spazierstocks. Vor dem dunklen Fluß sah er auch noch andere Dinge. Die winzige Hand, festgenagelt von einem Messer und heftig blutend. Julian, wie er Joshuas dunkles Elixier trank. Die naß glänzenden Schmierspuren an Hairy Mikes Eisenknüppel, als er sein furchtbares Werk in der Kapitänskabine verrichtet hatte. Abner Marsh hatte Angst, Angst wie noch nie in seinem Leben. Um die Ungeheuer zu bannen, die durch die Nacht trieben, rief er sich seinen eigenen Traum ins Bewußtsein, seine Vision von sich selbst, wie er mit der Büffelflinte in der Faust vor der Tür der Kapitänskabine stand. Er hörte das Brüllen des Gewehrs und spürte den wuchtigen Rückschlag und sah Damon Julians bleiches Lächeln und die dunklen Locken zerplatzen wie eine Melone, die aus großer Höhe herabfiel, eine Melone, die mit Blut gefüllt war.
Aber irgendwie, selbst als das Gesicht verschwunden war und der Rauch des Gewehrschusses sich verzogen hatte, waren die Augen noch da, starrend, lockend, Dinge in ihm weckend, Wut und Haß und düstere, verborgene Gefühle. Die Augen waren so schwarz wie die Hölle selbst und erfüllt mit roten Schächten, so endlos und ewig wie sein Fluß, die ihn anschauten, seine eigenen Gelüste weckten, seinen eigenen roten Durst. Sie schwebten vor ihm, und Abner Marsh schaute in sie hinein, in die warme Schwärze, und er sah dort seine Antworten, sah den Weg, wie sie zu besiegen waren, besser und sicherer als mit Degenklingen oder Holzpflöcken oder Büffelflinten.
Feuer. Draußen auf dem Fluß brannte die Fiebertraum. Abner Marsh spürte es genau. Das schreckliche unvermittelte Aufheulen, das ihm in die Ohren schnitt, schlimmer als jeder Donner. Die Wolken von Flammen und Qualm, die brennenden Holzscheite und die glühenden Kohlen, die weit verstreut wurden, den kochendheißen Dampf, der aufwallte, die Wolken des weißen Todes, die das Schiff einhüllten, die Wände, die sich nach außen wölbten, rissen und in Flammen aufgingen, die Körper, die durch die Luft segelten, brennend oder halbgar gesotten, die aufreißenden Schornsteine, die dann umkippten, die Schreie, den Dampfer, der sich auf die Seite legte und im Fluß versank; zischend und knisternd und summend, die verkohlten Leichen, die auf dem Bauch inmitten des ganzen Abfalls und der Trümmer abtrieben, den großen Seitenraddampfer, der auseinanderbrach und nichts zurückließ als verkohltes Holz und einen Schornstein, der schief aus dem Wasser ragte. In dem Traum, in dem die Kessel explodierten, lautete der aufgemalte Name immer noch Fiebertraum.
Es wäre einfach, wußte Abner Marsh sicher. Eine Frachtsendung nach New Orleans; sie würden keinen Verdacht schöpfen. Fässer voller Sprengstoff, achtlos in nächster Nähe der rotglühenden Öfen und gefährlichen Hochdruckkessel aufgestapelt. Er könnte es irgendwie bewerkstelligen, und das wäre dann das Ende von Julian und seinen Gefährten der Nacht. Eine Zündkapsel, eine Zeitschaltuhr, es wäre möglich.
Abner Marsh schloß die Augen. Als er sie wieder aufschlug, war der brennende Dampfer verschwunden, war der Lärm der Schreie und der explodierenden Kessel verstummt, und die Nacht war wieder still. »Das ist nicht möglich«, sagte er laut zu sich selbst, »Joshua ist noch an Bord. Joshua.« Und auch noch andere, hoffte er: Whitey Blake, Karl Framm, Hairy Mike Dunne und seine Schauerleute. Und da war seine Lady selbst, an die er denken mußte, seine Fiebertraum. Marsh hatte eine Vision von einer ruhigen Flußbiegung an einem Abend wie diesem und von zwei großen Dampfern, die nebeneinander herstampften, die Qualmwolken hinter ihnen langgezogen und abgeflacht von ihrer Geschwindigkeit, mit Flammen, die aus den Schornsteinen schlugen, und Rädern, die sich wie wahnsinnig drehten. Während sie näher und näher kamen, schob ein Schiff sich etwas weiter vor, ein wenig nur, dann mehr und mehr, bis das Boot eine ganze Länge Vorsprung hatte. Das Schiff baute seinen Vorsprung ständig aus, als sie außer Sicht gerieten, und Marsh sah die Namen, die auf den Radkästen standen, und der führende Dampfer war die Fiebertraum, deren Flaggen und Wimpel fröhlich flatterten, während sie zügig und ruhig flußaufwärts zog, und hinter ihr kam die Eclipse, die sogar in der Niederlage strahlenden Glanz verbreitete. Ich werde es schaffen, schwor Abner Marsh sich.
Die Mannschaft der Eli Reynolds war um Mitternacht fast vollständig wieder aufs Schiff zurückgekehrt. Marsh verfolgte, wie sie nach und nach von Vicksburg herunterkamen, und hörte, wie Cat Grove das Holzfassen im Mondschein mit einer Reihe kurzer, knapper Befehle leitete. Stunden später kräuselten sich die ersten Qualmwolken aus den Schornsteinen des Dampfers himmelwärts, als der Maschinist die Öfen anheizte. Bis zur Morgendämmerung war noch eine Stunde Zeit. Dann erschienen auch Yoerger und Grove auf dem Sturmdeck mit eigenen Sesseln und einer Kanne Kaffee. Sie ließen sich schweigend neben Marsh nieder und schenkten ihm ebenfalls eine Tasse ein. Der Kaffee war heiß und schwarz. Er trank ihn dankbar.
»Wissen Sie, Cap’n Marsh«, begann Yoerger nach einiger Zeit. Sein längliches Gesicht war grau vor Müdigkeit. »Meinen Sie nicht, es wäre an der Zeit, daß Sie uns endlich reinen Wein einschenken, was eigentlich los ist?«
»Seit wir nach St. Louis zurückgekommen sind«, fügte Cat Grove hinzu, »reden Sie von nichts anderem als davon, Ihr Schiff zurückzubekommen. Morgen finden Sie es vielleicht. Was dann? Viel haben Sie uns nicht erzählt, Cap’n, außer daß Sie nicht die Absicht haben, die Polizei hinzuziehen. Warum nicht, wenn Ihr Schiff doch gestohlen wurde?«
»Aus dem gleichen Grund, warum ich es Ihnen nicht erzählt habe, Mister Grove. Sie würden meine Geschichte nicht mal eine Minute lang glauben.«
»Die Mannschaft ist neugierig«, sagte Grove. »Ich bin es auch.«
»Das alles geht Sie überhaupt nichts an«, sagte Marsh. »Mir gehört dieser Dampfer, oder nicht? Sie arbeiten für mich und die anderen ebenfalls. Befolgen Sie nur meine Befehle.«
»Cap’n Marsh«, sagte Yoerger, »dieses alte Mädchen und ich sind nun schon seit einigen Jahren auf dem Fluß unterwegs. Sie gaben Sie mir, als Sie Ihren zweiten Dampfer kauften, ich glaube, es war die alte Nick Perrot, damals im Jahr ’52. Seitdem kümmere ich mich um die Lady, und Sie haben mich nicht entlassen, haben Sie nicht. Wenn ich gefeuert bin, schön, dann sagen Sie es mir. Wenn ich immer noch Ihr Kapitän bin, dann informieren Sie mich, wofür Sie meinen Dampfer brauchen. Wenigsten soviel habe ich wohl verdient.«
»Ich habe es Jonathon Jeffers erzählt«, sagte Marsh und sah vor seinem geistigen Auge wieder den goldenen Glanz der Brille, »und er ist deswegen gestorben. Vielleicht sogar auch Hairy Mike, nur das weiß ich nicht.«
Cat Grove lehnte sich vor und füllte Marshs Tasse mit lauwarmem Kaffee aus der Kanne auf. »Cap’n«, sagte er, »aus dem wenigen, was Sie uns erzählt haben, können Sie nicht sicher sein, ob Mike noch am Leben ist oder nicht, aber das ist nicht der Punkt. Sie sind sich auch bei einigen anderen nicht sicher. Bei Whitey Blake, zum Beispiel, dann bei Ihrem Lotsen, eben bei allen, die auf der Fiebertraum geblieben sind. Haben Sie es denen auch erzählt?«
»Nein«, gab Marsh zu.
»Dann dürfte es auch nichts ausmachen«, sagte Grove.
»Wenn flußabwärts irgendeine Gefahr lauert, dann haben wir ein Recht, es zu erfahren«, sagte Yoerger.
Abner Marsh ließ sich das durch den Kopf gehen und mußte zugeben, daß die Forderung durchaus berechtigt war. »Sie haben recht«, sagte er, »aber Sie werden es bestimmt nicht glauben. Und ich kann es nicht darauf ankommen lassen, daß Sie ebenfalls vom Schiff gehen. Ich brauche diesen Dampfer.«
»Wir gehen nicht«, sagte Grove. »Erzählen Sie uns schon die Geschichte.«
Also seufzte Abner Marsh und erzählte die Geschichte ein zweitesmal. Als er geendet hatte, blickte er seinen Zuhörern gespannt in die Gesichter. Beide zeigten keinerlei Reaktion, erschienen abwartend und skeptisch.
»Das ist kaum zu fassen«, stellte Yoerger fest.
»Ich glaube es«, sagte Grove. »Es ist nicht schwerer zu glauben als an Gespenster. Ich selbst sehe sie ja oft genug.«
»Cap’n Marsh«, sagte Yoerger, »Sie haben oft davon gesprochen, die Fiebertraum zu suchen, und selten über Ihre Absichten, wenn Sie sie gefunden haben. Haben Sie irgendeinen Plan?«
Marsh dachte an das Feuer, an die brüllenden und explodierenden Kessel, an die Schreie seiner Feinde. Er verdrängte den Gedanken. »Ich hole mir mein Schiff zurück«, sagte er. »Mein Gewehr haben Sie ja gesehen. Wenn ich erst einmal Julian den Kopf weggeblasen habe, dann, so denke ich, wird Joshua sich um den Rest kümmern.«
»Sie sagen, das hätten Sie schon versucht, mit Jeffers und Dunne, als Sie noch den Dampfer und die Mannschaft leiteten. Wenn Ihre Detektive sich nicht geirrt haben, dann ist Ihr Schiff jetzt voller Sklaven und Halsabschneider. Sie kommen gar nicht an Bord, ohne sofort erkannt zu werden. Wie wollen Sie da an Julian herankommen?«
Abner Marsh hatte über diesen Teil seines Plans noch nicht allzu eingehend nachgedacht. Doch nun, da Yoerger diesen Punkt angesprochen hatte, war deutlich zu erkennen, daß er nicht einfach mit der Büffelflinte in der Hand auftauchen konnte, allein sogar, wie er es eigentlich mehr oder weniger beabsichtigt hatte. Er dachte für einen Moment darüber nach. Er konnte als Passagier an Bord gelangen … Aber Yoerger hatte recht, das war unmöglich. Selbst wenn er sich rasierte, gab es niemanden auf dem ganzen Fluß, der auch nur entfernt so aussah wie Abner Marsh. »Wir werden als Truppe angreifen«, sagte Marsh nach kurzer Überlegung. »Ich werde die ganze Mannschaft der Eli Reynolds mitnehmen. Julian und Sour Billy halten mich wahrscheinlich für tot; wir werden sie überraschen. Bei Tag natürlich. Ich werde, was das Licht betrifft, kein Risiko mehr eingehen. Keiner von den Nachtleuten hat die Eli Reynolds je gesehen, und ich vermute, daß nur Joshua jemals ihren Namen gehört hat. Wir dampfen direkt auf sie zu, wo immer wir sie vor Anker finden, und warten auf einen schönen sonnigen Morgen, und dann werden ich und alle umsteigen, die mich begleiten. Abschaum ist nun mal Abschaum, und welches Gesindel Sour Billy in Natchez auch gefunden haben mag, sie werden ganz gewiß ihr Leben nicht im Kampf gegen Pistolen und Messer riskieren. Vielleicht müssen wir uns Billy selbst auch vornehmen, aber dann ist die Bahn frei. Diesmal überzeuge ich mich genau davon, daß mir Julian gegenübersteht, ehe ich ihm den Kopf wegpuste.« Er spreizte die Hände in einer fragenden Geste. »Reicht das?«
»Klingt gut«, sagte Grove. Yoerger zeigte ein eher skeptisches Gesicht. Aber keiner von ihnen hatte bessere Vorschläge zu machen, daher stimmten sie nach kurzer Diskussion diesem Plan zu. Mittlerweile kroch die Dämmerung über die Hügel und Felsen von Vicksburg, und die Eli Reynolds stand unter Dampf. Abner Marsh erhob sich, streckte sich und fühlte sich erstaunlich stark und ausgeruht für jemanden, der die ganze Nacht kein Auge zugetan hatte. »Legen Sie ab!« befahl er laut dem Lotsen, der auf seinem Weg zu dem schlichten kleinen Ruderhaus an ihnen vorbeikam. »Und dann nach Natchez!«
Deckshelfer lösten die Seile, die sie mit der Anlegestelle verbanden, und der Heckraddampfer schob sich rückwärts vom Liegeplatz weg, änderte die Laufrichtung des Schaufelrades und tastete sich vor in den Kanal, während rote und graue Schatten sich gegenseitig über das östliche Ufer jagten und die Wolken im Westen sich rosa färbten.
Während der ersten beiden Stunden kamen sie gut vorwärts, vorbei an Warrenton und Hard Times und Grand Gulf. Drei oder vier größere Dampfer überholten sie, aber das war zu erwarten gewesen; die Eli Reynolds war nicht für Wettfahrten gebaut. Abner Marsh war mit ihrer Fahrt immerhin zufrieden genug, um sich für eine halbe Stunde nach unten zu begeben, sein Gewehr zu säubern und zu laden und ein schnelles Frühstück aus Blaubeerpfannkuchen und Rühreiern einzunehmen. Zwischen St. Joseph und Rodney bezog sich der Himmel, was Marsh kein bißchen gefiel. Kurze Zeit später entlud sich ein kleines Gewitter über dem Fluß mit so wenig Donner und Blitz und Regen, daß keine Fliege erschrak, doch der Lotse hatte genügend Respekt davor, um für eine Stunde an einem Holzplatz anzulegen, während Marsh ruhelos das Schiff durchstreifte. Framm und Albright wären bei dem Wetter weitergefahren, aber man konnte nicht erwarten, auf einem solchen Schiff einen Spitzenlotsen anzutreffen. Der Regen war kalt und grau. Als er schließlich aufhörte, spannte sich ein hübscher Regenbogen am Himmel, der Marsh gut gefiel, und es blieb ihnen mehr als genug Zeit, um Natchez noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen.
Fünfzehn Minuten, nachdem sie abgelegt hatten, lief die Eli Reynolds auf eine Sandbank auf.
Es war ein dummer, ärgerlicher Fehler. Der junge Lotse, fast noch ein halbwüchsiger Bengel, hatte versucht, etwas Zeit aufzuholen, indem er eine unsichere Abkürzung genommen hatte, anstatt im Hauptfahrwasser zu bleiben, das einen weiten Bogen nach Osten beschrieb. Vor einem oder zwei Monaten wäre dies ein Beispiel für gute Lotsenarbeit gewesen, doch nun war der Wasserstand des Flusses einfach zu niedrig, selbst für einen Dampfer mit so wenig Tiefgang wie die Eli Reynolds.
Abner Marsh fluchte und schäumte und stampfte wütend umher, vor allem als sich herausstellte, daß das Schiff aus eigener Kraft nicht von der Sandbank freikam. Cat Grove und seine Männer machten die Winschen und die Hebebalken klar und gingen an die Arbeit. Zweimal regnete es noch, um die Situation noch etwas unangenehmer zu machen, doch viereinhalb nasse anstrengende Stunden später startete der Lotse erneut das Heckrad, und die Eli Reynolds schob sich mit einem Ruck vorwärts, löste einen Schauer aus Schlamm und Sand aus und schüttelte sich dann, als wolle sie endgültig in Stücke zerfallen. Und dann schwamm sie wieder. Ihre Pfeife ertönte mit einem Triumphgeheul.
Sie krochen für eine weitere halbe Stunde vorsichtig durch die Abkürzung, aber sobald sie wieder im Fluß waren, nahm die Strömung sie mit, und die Eli Reynolds nahm Geschwindigkeit auf. Qualmend und ratternd schoß sie flußabwärts wie der leibhaftige Teufel, aber es bestand keine Möglichkeit, die verlorene Zeit aufzuholen.
Abner Marsh saß auf dem verblichenen gelben Sofa im Ruderhaus, als sie vor sich zum erstenmal die Stadt auf den Felsen sahen. Er stellte seine Kaffeetasse auf die Platte des großen bauchigen Ofens und trat hinter den Lotsen, der gerade damit beschäftigt war, den Fluß zu überqueren. Marsh achtete nicht auf ihn; sein Blick ruhte auf der fernen Anlegestelle, wo zwanzig oder mehr Dampfer an Natchez‐under‐the‐Hill hingen.
Sie lag da, wie er es die ganze Zeit gewußt hatte.
Marsh erkannte sie sofort. Sie war das größte Schiff am Pier und überragte den nächstgrößeren Dampfer um knapp zwanzig Meter, und auch ihre Schornsteine waren die höchsten. Während die Eli Reynolds näher glitt, sah Marsh, daß man sie nicht besonders gründlich verändert hatte. Sie war immer noch vorwiegend in Blau und Weiß und Silber gehalten, obgleich man die Radkästen in einem aufdringlichen grellen Rot gestrichen hatte wie die Lippen einer Hure in Natchez. Der Name war in gelben Lettern aufgeschrieben worden, die sich schief und unordentlich um die Kante des Radkastens herum erstreckten; OZYMANDIAS lautete das Wort. Marsh verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse. »Sehen Sie das große Schiff da drüben?« fragte er den Lotsen und zeigte mit dem Finger in die Richtung. »Gehen Sie so dicht heran, wie Sie es gerade schaffen, verstanden?«
»Yessuh, Cap’n.«
Marsh betrachtete die Stadt mit Abscheu. Die Schatten in den Straßen wurden bereits länger und tiefer, und auf dem Fluß lag der scharlachrote und goldene Hauch des Sonnenuntergangs. Außerdem war es bewölkt, verdammt noch mal viel zu bewölkt. Sie hatten viel Zeit am Holzplatz und auf der Abkürzung verloren, und der Sonnenuntergang im Oktober setzte viel früher ein als im Sommer.
Kapitän Yoerger hatte das Ruderhaus betreten und begab sich an seine Seite und sprach aus, was Marsh dachte. »Heute abend können Sie nichts unternehmen, Cap’n Marsh. Es ist schon zu spät. In weniger als einer Stunde ist es völlig dunkel. Warten Sie lieber bis morgen.«
»Für wie dumm halten Sie mich eigentlich?« schnappte Marsh. »Natürlich warte ich. Diesen Fehler habe ich einmal begangen, ein zweitesmal mache ich ihn nicht mehr.« Er stieß wütend seinen Spazierstock auf das Deck. Yoerger wollte etwas sagen, aber Marsh hörte nicht zu. Er betrachtete noch immer den großen Seitenraddampfer am Pier. »Verdammt!« stieß er plötzlich hervor.
»Was ist los?«
Marsh streckte seinen Hickorystock aus. »Qualm«, sagte er. »Verfluchte Bande, sie heizen ein. Offenbar wollen sie ablegen.«
»Überstürzen Sie nichts« warnte Yoerger. »Wenn sie ablegt, dann legt sie ab, aber wir werden sie irgendwo flußabwärts schon wieder einholen.«
»Sie fahren offenbar nur nachts«, sagte Marsh, »und machen tagsüber irgendwo fest. Das hätte ich mir eigentlich denken können.« Er wandte sich an den Lotsen. »Mister Norman«, sagte er, »legen Sie nicht an. Dampfen Sie weiter flußabwärts und machen Sie am nächstmöglichen Holzplatz halt, und dann warten Sie dort, bis das andere Schiff vorbeikommt. Anschließend folgen Sie ihr, so gut Sie können. Sie ist verdammt viel schneller als die Eli Reynolds, deshalb machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sie verlieren, halten Sie nur ihren Kurs flußabwärts und blieben Sie so dicht an ihr dran wie möglich.«
»Wie Sie meinen, Cap’n«, entgegnete der Lotse. Er drehte das abgewetzte Ruder Hand über Hand herum, und die Eli Reynolds schwang mit dem Bug jäh herum und glitt zurück in die Mitte der Fahrrinne.
Sie hatten neunzig Minuten am Holzplatz gelegen, und es war seit etwa zwanzig Minuten Nacht, als die Fiebertraum vorüberdampfte. Marsh erschauerte, als er sie herankommen sah. Der riesige Seitenraddampfer zog mit geschmeidiger Eleganz flußabwärts, mit einer gekonnten Lässigkeit, die ihn irgendwie an Damon Julian und seine Bewegungen erinnerte. Sie war zur Hälfte dunkel. Das Hauptdeck wurde vom rötlichen Schein aus den Feuerstellen erhellt, doch nur wenige Kabinenfenster auf dem Kesseldeck waren erleuchtet, und das Texasdeck und auch das Ruderhaus waren völlig dunkel. Marsh glaubte die einsame Gestalt dort oben sehen zu können, wie sie am Ruder stand, aber es war zu weit weg, als daß er sich dessen völlig sicher hätte sein können. Der Mond und die Sterne schienen bleich auf die weiße Farbe und die Silberbeschläge, und die roten Radkästen wirkten im Kontrast dazu geradezu obszön. Als sie vorüberdampfte, tauchten ein Stück weiter flußabwärts die Lichter eines anderen Dampfers auf und kamen auf sie zu, und sie riefen sich in der Nacht gegenseitig Grüße zu. Marsh hätte ihre Pfeife sofort und überall erkannt, aber nun erschien es ihm, daß sie einen kalten und traurigen Klang hatte, den er noch nie zuvor gehört hatte, ein melancholisches Klagen, das von Leid und Verzweiflung kündete.
»Halten Sie Abstand, aber folgen Sie ihr«, wies er seinen Lotsen an. Ein Deckshelfer löste die Leine, die sie am Haltepfosten des Holzplatzes fixiert hatte, und die Eli Reynolds schluckte eine Menge Teer und Tannenkloben und suchte schnaubend die Fahrtrinne und folgte ihrer größeren, weit vor ihr laufenden Kusine. Ein oder zwei Minuten später passierte ein fremder Dampfer, der nach Natchez unterwegs war, die Fiebertraum und steuerte auf sie zu und gab einen tiefen Dreiklang‐Pfiff aus seiner Pfeife ab. Die Eli Reynolds antwortete, doch ihr Ruf klang so dünn und schwach, verglichen mit dem wilden Schrei der Fiebertraum, daß es Marsh mit tiefem Unbehagen erfüllte.
Er hatte erwartet, daß die Fiebertraum sie weit hinter sich lassen würde, aber so war es nicht. Die Eli Reynolds dampfte zwei Stunden lang in ihrem Kielwasser stromabwärts. Sie verloren das größere Schiff ein halbes Dutzend Male an Flußbiegungen aus den Augen, holten jedoch stets nach wenigen Minuten wieder auf, so daß der Blickkontakt wiederhergestellt wurde. Der Abstand zwischen den beiden Raddampfern vergrößerte sich, jedoch nur so unwesentlich, daß es sich kaum lohnte, es zu erwähnen. »Wir laufen mit voller Kraft und beinahe höchster Geschwindigkeit«, sagte Marsh zu Kapitän Yoerger, »aber die, sie schleichen nur. Wenn die nicht in den Red River abbiegen, machen sie vermutlich im Bayou Sara halt. Dort holen wir sie ein.« Er lächelte. »Günstig, nicht wahr?«
Mit ihren achtzehn Kesseln, die es zu heizen galt, und einer ganzen Menge an Schiffsmasse, die bewegt werden mußte, verbrauchte die Fiebertraum enorm viel mehr Holz als ihr kleiner Schatten. Sie machte mehrmals halt, um Holz zu laden, und jedesmal kam die Eli Reynolds etwas näher, obgleich Marsh sorgfältig darauf achtete, daß sein Lotse mit Viertelkraft weiterlief, um den Seitenraddampfer nicht einzuholen, während er Holz aufnahm. Die Eli Reynolds selbst stoppte ein einzigesmal, um ihr fast leeres Hauptdeck wieder mit zwanzig Klaftern frisch gefällter Buche aufzufüllen, und als sie wieder in den Strom manövrierte, waren die Lichter der Fiebertraum nur noch als undeutlicher rötlicher Schimmer auf den schwarzen Fluten weit vor ihnen auszumachen. Doch Marsh ließ ein ganzes Faß Talg in die Feuerung schütten, und der plötzliche Hitze‐ und Dampfschwall ließ sie einen großen Teil des verlorenen Abstands schnell wieder aufholen.
Unweit der Mündungszone, wo der Red River sich in den breiteren Mississippi ergoß, trennte die beiden Dampfer eine beruhigende Meile Abstand voneinander. Marsh hatte soeben eine frische Kanne Kaffee ins Ruderhaus gebracht und half dem Lotsen, sie zu leeren, als der Mann über das große Rad des Ruders hinwegblinzelte und meinte: »Sehen Sie sich das mal an, Cap’n, scheint so, als drückte die Strömung sie seitwärts weg. Denn an dieser Stelle wird der Fluß normalerweise nicht gequert.«
Marsh setzte seine Tasse ab und beobachtete das Geschehen. Plötzlich schien die Fiebertraum schlagartig viel näher gerückt zu sein, und der Lotse hatte recht; er konnte einen Teil ihrer Backbordseite sehen. Wenn sie den Fluß tatsächlich nicht querte, dann waren wahrscheinlich die sich aus dem Nebenfluß ergießenden Fluten für diese Scherbewegung verantwortlich, aber er begriff nicht, wie ein halbwegs fähiger Lotse so etwas zulassen konnte. »Sie weicht vielleicht nur einem Hindernis oder einer Sandbank aus«, mutmaßte Marsh, aber seine Stimme klang nicht überzeugt. Während er hinübersah, drehte der Seitenraddampfer sich sogar noch weiter, so daß er praktisch quer zu ihnen lag. Er konnte die Lettern im Mondschein auf dem Radkasten lesen. Fast machte sie den Eindruck, als triebe sie steuerlos dahin, aber der Qualm und die Funken stoben noch immer aus den Schornsteinen, und nun kam sogar ihr Bug in Sicht.
»Verdammt!« rief Marsh. Er fror plötzlich am ganzen Leib, als wäre er schon wieder in den Fluß gefallen. »Sie wendet. Verdammte Hölle! Sie wendet!«
»Was soll ich tun, Cap’n?« fragte der Lotse.
Abner Marsh gab keine Antwort. Er beobachtete die Fiebertraum, und sein Herz war von Angst erfüllt. Ein Heckraddampfer wie die Eli Reynolds hatte zwei Möglichkeiten, die Fahrtrichtung zu ändern, und beide waren ziemlich schwerfällig. Wenn die Fahrtrinne breit genug war, dann konnte sie ein weites U fahren, aber dazu waren viel Platz und sehr viel Schub nötig. Die andere Möglichkeit sah so aus, daß sie stoppte und ihr Schaufelrad andersherum laufen ließ, also rückwärts, um zu wenden, dann wieder vorwärts, um die Wende zu vollenden. Beide Manöver dauerten ziemlich lange, und Marsh wußte nicht einmal, ob sie an dieser Stelle wenden konnten. Ein Seitenraddampfer war da weitaus manövrierfähiger. Ein Seitenraddampfer konnte ein Rad rückwärts und das andere vorwärts laufen lassen, so daß er sich auf der Stelle so geschickt drehte wie eine Tänzerin bei einer Pirouette. Nun konnte Abner Marsh auch das Vorderdeck der Fiebertraum sehen. Ihre Stege, hochgezogen, sahen im Mondlicht aus wie zwei lange weiße Zähne, und bleichgesichtige Gestalten in dunklen Kleidern drängten sich auf dem vorderen Teil des Haupt‐ und des Kesseldecks. Die Fiebertraum ragte größer und prächtiger vor ihnen auf als je zuvor. Sie hatte ihre Wende nun fast ganz abgeschlossen, und die Eli Reynolds lief noch immer auf sie zu, Whapwhapwhap schlugen die Paddel des Rades ins Wasser und trugen sie auf jene bleichen Madengesichter und die Düsternis und die glühenden roten Augen zu.
»Verdammter Narr!« brüllte Marsh. »Anhalten! Zurück, verdammt noch mal, wendet! Habt ihr keine Augen? Sie haben es auf uns abgesehen!«
Der Lotse schickte ihm einen unsicheren Blick und machte Anstalten, das Schaufelrad anzuhalten und eine Wende, einzuleiten, doch noch während er das tat, erkannte Abner Marsh, daß es zu spät war. Sie würden die Wende niemals rechtzeitig schaffen, und selbst wenn es ihnen gelänge, dann wäre die Fiebertraum sowieso innerhalb von Minuten bei ihnen. Ihre enorme Kraft würde sich noch mehr bemerkbar machen, wenn beide Schiffe gegen die Strömung ankämpften. Marsh umfaßte den Arm des Lotsen. »Nein!« befahl er. »Kurs halten! Schneller! Steuern Sie einen weiten Bogen um sie herum. Lassen Sie noch mehr Talg in die Feuerung schütten, schnell, verdammt noch mal, wir müssen dran vorbeihuschen, ehe sie uns erreicht hat, haben Sie verstanden?«
Die Fiebertraum kroch jetzt auf sie zu, auf ihren Decks wimmelte es von Angehörigen des Nachtvolkes. Qualm wälzte sich aus den Schornsteinen, und Marsh konnte beinahe die Gestalten auf den Decks zählen. Der Lotse griff nach der Leine der Dampfpfeife, aber Marsh hielt ihn auf und befahl: »Nein!«
»Wir kollidieren!« sagte der Lotse. »Cap’n, wir müssen ihnen mitteilen, an welcher Seite wir sie passieren.«
»Sollen sie es doch erraten«, sagte Marsh. »Verdammt noch mal, das ist unsere einzige Chance! Und verfeuern Sie noch mehr Talg!«
Über die vom Mond beschienenen Fluten hinweg kreischte die Fiebertraum ihren Triumph hinaus. Es klang wie das Geheul eines dämonischen Wolfs, der gierig hinter seiner Beute herjagte.