KAPITEL ELF

An Bord des Raddampfers Fiebertraum
Natchez, August 1857

Für Abner Marsh wollte die Nacht nicht vorübergehen. Er nahm einen kleinen Imbiß ein, um seinen Magen zu beruhigen und seine Angst zu dämpfen, und kurz darauf zog er sich in seine Kabine zurück, aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Stundenlang lag er da, starrte in die Dunkelheit, während in seinem Geist Aufruhr herrschte und seine Gedanken ein Durcheinander von Mißtrauen und Wut und Schuld waren. Unter dem dünnen gestärkten Laken schwitzte Marsh wie ein Schwein. Wenn er doch einmal einschlief, dann wälzte und warf er sich herum und erwachte häufig, gepeinigt von Träumen voller Blut und brennender Dampfboote und gelber Zähne und Joshua Anton York, der fahl und kalt unter einem scharlachroten Lichtkegel stand, Fieber und Tod in den zornblitzenden Augen.

Der nächste Tag war der längste Tag, den Abner Marsh je erlebt hatte. All seine Gedanken führten ihn unaufhörlich im Kreis herum und brachten ihn immer wieder an den gleichen Ort zurück. Gegen Mittag wußte er, was er tun mußte. Er war erwischt worden, daran ließ sich nichts ändern. Dem mußte er sich stellen und Joshua alles gestehen. Wenn dies das Ende ihrer Partnerschaft bedeutete, dann sollte es wohl so sein, wenngleich die Vorstellung, seine Fiebertraum zu verlieren, Marsh krank und trübsinnig machte, ihn in die gleiche Verzweiflung stürzte, die er an dem Tag empfunden hatte, an dem er die Holztrümmer hatte sehen müssen, zu denen das Eis seine Dampfboote zerquetscht hatte. Es wäre sein Ende, dachte Marsh, und vielleicht verdiente er es deshalb nicht anders, weil er Joshuas Vertrauen mißbraucht hatte. Aber es konnte nicht einfach so weitergehen wie bisher. Joshua mußte die ganze Geschichte auch aus seinem Munde hören, beschloß Marsh, was bedeutete, daß er ihn eher aufsuchen mußte als diese Frau, Katherine.

Er ließ die Anweisung verbreiten. »Ich will sofort Bescheid bekommen, wenn er zurückgekehrt ist«, sagte er, »ganz gleich, wann das ist oder was ich gerade tue, jemand soll mich holen. Verstanden?« Dann wartete Abner Marsh und suchte so gut wie möglich Trost in einem Mittagessen aus Schweinebraten mit grünen Erbsen und Zwiebeln und einem halben Blaubeerkuchen als Nachtisch.

Zwei Stunden vor Mitternacht kam jemand von der Mannschaft zu ihm. »Cap’n York ist zurück, Cap’n. Hat ein paar Leute mitgebracht. Mister Jeffers teilt ihnen gerade Kabinen zu.«

»Ist Joshua schon in seiner Kabine?« fragte Marsh. Der Mann nickte. Marsh schnappte sich seinen Spazierstock und ging zur Treppe.

Vor Yorks Kabine zögerte er kurz, straffte die breiten Schultern und schlug mit dem Knauf seines Stocks hart gegen die Tür. York öffnete beim dritten Klopfen. »Kommen Sie rein, Abner«, begrüßte er seinen Besucher lächelnd. Marsh trat ein, schloß die Tür hinter sich und lehnte sich dagegen, während York durch den Raum ging und mit dem fortfuhr, was er gerade getan hatte. Er holte ein Silbertablett hervor und drei Gläser. Nun griff er nach einem vierten. »Ich freue mich, daß Sie heraufgekommen sind. Ich habe ein paar Leute an Bord geholt, die ich Ihnen gerne vorstellen möchte. Sie werden auf einen Drink heraufkommen, sobald sie sich in ihren Kabinen häuslich eingerichtet haben.« York zog eine Flasche mit seinem persönlichen Spezialgetränk aus dem Weinregal, holte ein Messer hervor und entfernte mit einem Schnitt das Wachssiegel.

»Lassen Sie es damit gut sein«, sagte Marsh barsch. »Joshua, wir müssen reden.«

York stellte die Flasche auf das Tablett und wandte sich zu Marsh um. »Ach? Worüber? Sie klingen erregt, Abner.«

»Ich verfüge über Ersatzschlüssel für jedes Schloß auf diesem Boot. Mister Jeffers bewahrt sie für mich im Safe auf. Als Sie in Natchez waren, holte ich mir einen Schlüssel und durchsuchte Ihre Kabine.«

Joshua York blieb fast reglos, aber als er Marshs Worte hörte, preßten seine Lippen sich etwas fester aufeinander. Abner Marsh blickte ihm direkt in die Augen, wie ein Mann es bei einer Gelegenheit wie dieser tun sollte, und spürte dort Kälte und rasende Wut über den Verrat. Es wäre ihm schon beinahe lieber gewesen, wenn Joshua ihn angebrüllt oder sogar eine Waffe gezogen hätte, als ihn mit solchen Augen anzuschauen. »Haben Sie irgend etwas von Interesse gefunden?« fragte York schließlich mit ausdrucksloser Stimme.

Abner Marsh riß sich von Joshuas grauen Augen los und schlug mit dem Stock auf den Tisch. »Ihre Aktenordner«, sagte er. »Sie sind voll von toten Leuten.«

York sagte nichts. Er streifte den Tisch mit einem Blick, runzelte die Stirn, ließ sich dann in einen seiner Lehnstühle fallen und schenkte sich noch von seinem dickflüssigen, ekelhaften Getränk ein. Er trank davon und gab Marsh erst dann ein Zeichen. »Setzen Sie sich«, befahl er. Als Marsh schließlich ihm gegenüber Platz genommen hatte, fügte York schließlich noch ein einziges Wort hinzu: »Warum?«

»Warum?« wiederholte Marsh mit einem deutlichen Zeichen von Zorn in der Stimme. »Vielleicht weil ich es leid bin, einen Partner zu haben, der mir nichts erzählt, der mir einfach nicht traut.«

»Wir hatten eine Abmachung.«

»Ich weiß das, Joshua. Und es tut mir leid, sofern das jetzt überhaupt noch von Bedeutung ist. Es tut mir leid, daß ich es getan habe, und es tut mir verdammt noch mal mehr leid, daß ich dabei erwischt wurde.« Er grinste bedauernd. »Diese Katherine hat mich herauskommen gesehen. Sie wird Ihnen sicherlich davon erzählen. Natürlich, ich hätte direkt zu Ihnen kommen und Ihnen erzählen sollen, was mich beschäftigt. Das tue ich hiermit. Vielleicht ist es zu spät, aber jetzt bin ich hier. Joshua, ich liebe dieses Boot mehr als alles andere je in meinem Leben, und der Tag, an dem wir das Geweih von der Eclipse holen, wird der großartigste Tag meines Lebens sein. Aber ich habe nachgedacht, und ich bin zu der Erkenntnis gelangt, daß ich diesen Tag aus meinem Bewußtsein streichen muß, und auch diesen Dampfer, anstatt so weiterzumachen, wie wir es bisher getan haben. Dieser Fluß wimmelt von Ganoven und Falschspielern und Bibelschwingern und Abolitionisten und Republikanern und allen möglichen anderen seltsamen Leuten, aber ich schwöre, Sie sind der seltsamste von allen. Was in den Nachtstunden passiert, das ist mir egal, das interessiert mich nicht. Bücher voller toter Leute, das ist schon etwas anderes, aber es geht im Grunde niemanden etwas an, was ein Mann gerne liest. Nun, ich kannte einen Lotsen auf der Grand Turk, der hatte Bücher bei sich, bei denen sogar Karl Framm vor Scham rot geworden wäre. Aber diese ständigen Unterbrechungen der Reise, Ihre einsamen Ausflüge, das sind die Dinge, die ich nicht länger ertragen kann. Sie halten meinen Raddampfer auf, verdammt, Sie ruinieren unseren Namen, ehe wir ihn uns richtig gemacht haben. Und, Joshua, das ist noch nicht alles. Ich habe Sie in der Nacht gesehen, als Sie aus New Madrid zurückkamen. Sie hatten Blut an den Händen, leugnen Sie es nur, wenn Sie wollen. Beschimpfen Sie mich. Aber ich weiß es genau. Sie hatten Blut an den Händen, und ich will verdammt sein, wenn es nicht so war.«

Joshua York nahm einen tiefen Schluck und runzelte nachdenklich die Stirn, während er sein Glas wieder füllte. Als er Marsh wieder ansah, war das Eis in seinen Augen geschmolzen. Sein Gesicht war ernst. »Wollen Sie vorschlagen, daß wir unsere Partnerschaft auflösen?« fragte er.

Marsh kam sich vor, als hätte ihm ein Maultier in den Magen getreten. »Wenn Sie das wünschen, dann haben Sie das Recht dazu. Ich verfüge natürlich nicht über das Geld, um Sie auszuzahlen. Aber Sie hätten dann die Fiebertraum, und ich könnte meine Eli Reynolds behalten, vielleicht mit ihr sogar Gewinn einfahren und Ihnen immer soviel schicken, wie ich entbehren kann.«

»Wäre es Ihnen so am liebsten?«

Marsh funkelte ihn an. »Verdammter Kerl, Joshua, Sie wissen genau, daß es nicht so ist.«

»Abner«, sagte York, »ich brauche Sie. Ich kann die Fiebertraum nicht allein führen. Ich lerne gerade, ein wenig mit der Steuerung umzugehen, und ich bin mit dem Fluß und seinen Eigenarten etwas vertrauter geworden, aber wir beide wissen, daß ich kein Dampfschiffer bin. Wenn Sie gehen, wird die halbe Mannschaft mit Ihnen gehen. Mister Jeffers und Mister Blake und Hairy Mike ganz bestimmt, und zweifellos auch noch andere. Sie stehen treu zu Ihnen.«

»Ich kann Ihnen befehlen, bei Ihnen zu bleiben«, bot Marsh an.

»Lieber wäre mir, wenn Sie blieben. Wenn ich bereit wäre, über Ihr Eindringen hinwegzusehen, könnten wir dann so weitermachen wie bisher?«

Der Kloß in Abner Marshs Kehle war so dick, daß er glaubte, er würde daran ersticken. Er schluckte und gab dann die schwerste Antwort, die er in seinem Leben je gegeben hatte: »Nein.«

»Ich verstehe«, sagte Joshua.

»Ich muß meinem Partner vertrauen können«, erklärte Marsh. »Und er muß mir trauen. Reden Sie mit mir, Joshua, erzählen Sie mir, was überhaupt vorgeht, was das alles zu bedeuten hat, und Sie haben einen Partner.«

Joshua York verzog das Gesicht, nahm ein paar kleine Schlucke von seinem Drink und überlegte. »Sie werden mir nicht glauben«, meinte er schließlich. »Es ist eine noch phantastischere Geschichte als eine von denen, die Framm immer erzählt.«

»Dann schießen Sie mal los! Es tut bestimmt nicht weh.«

»Oh, das kann es doch, Abner, und wie es das kann.« Yorks Stimme klang ernst. Er stellte sein Glas ab und ging hinüber zum Bücherregal. »Als Sie hier herumgesucht haben«, sagte er, »galt Ihre Aufmerksamkeit auch meinen Büchern?«

»Ja«, gab Marsh zu.

York holte einen der unbetitelten Bände im Ledereinband heraus, ging zu seinem Sessel zurück und schlug eine Seite voller krakeliger Symbole auf. »Wenn Sie es hätten lesen können«, sagte er, »dann hätte dieses Buch und die anderen Bände Ihnen Aufschluß geben können.«

»Ich habe es mir angeschaut. Aber es ergab keinen Sinn.«

»Natürlich nicht«, sagte York. »Abner, was ich Ihnen erzählen werde, wird für Sie überaus schwierig zu verstehen sein. Ob Sie das Ganze glauben oder nicht, es darf auf keinen Fall außerhalb dieser Kabine jemals zur Sprache kommen. Haben Sie das verstanden?«

»Ja.«

Yorks Augen fixierten ihn. »Diesmal darf kein Fehler mehr gemacht werden, Abner. Ist das klar?«

»Ich sagte ja, Joshua«, knurrte Marsh beleidigt.

»Na schön«, sagte Joshua. Er legte den Finger auf die Seite. »Dieser Kode ist in einer relativ einfachen Chiffre gehalten, Abner, aber um sie zu entschlüsseln, müssen Sie sich darüber klar sein, daß es sich bei der Sprache um einen primitiven russischen Dialekt handelt, der schon seit einigen hundert Jahren nicht mehr gesprochen wird. Die ursprünglichen Schriftstücke, die in diesen Band übertragen wurden, sind sehr, sehr alt. Sie erzählten die Geschichte von einigen Leuten, die vor vielen Jahrhunderten in der Gegend nördlich des Kaspischen Meers gelebt haben und auch dort gestorben sind.« Er hielt inne. »Entschuldigen Sie. Nicht ›Leute‹. Das Russische gehört nicht zu meinen besten Sprachen, aber ich glaube, das richtige Wort lautet Odoroten

»Wie?« fragte Marsh.

»Das ist natürlich nur ein Begriff. Andere Sprachen haben andere Namen. Kruvnik, Védomec, Wieszczy. Vilkakis und Vrkolák ebenfalls, obgleich die Bedeutung dieser beiden Begriffe sich von den anderen etwas unterscheidet.«

»Sie reden Kauderwelsch«, sagte Marsh, obgleich einige der Worte, die Joshua genannt hatte, ihm durchaus vertraut vorkamen und entfernt an das Geplapper erinnerten, mit dem Smith und Brown sich den ganzen Tag verständigten.

»Ich werde Ihnen nicht die afrikanischen Bezeichnungen nennen«, sagte Joshua, »oder die asiatischen oder eine der anderen. Sagt Ihnen Nosferatu irgend etwas?«

Marsh blickte ihn verständnislos an.

Joshua York seufzte. »Wie ist es mit Vampir

Das Wort kannte Abner Marsh. »Was für eine Geschichte wollen Sie mir erzählen?« fragte er ungeduldig.

»Eine Vampirgeschichte«, erwiderte York mit einem schwachen Lächeln. »Sicherlich haben Sie davon schon mal gehört. Von den lebenden Toten, den Unsterblichen, den Geschöpfen der Nacht, Kreaturen ohne Seele, dazu verdammt, ewig umherzuwandern. Sie schlafen in Särgen, die mit ihrer Heimaterde gefüllt sind, scheuen das Tageslicht und das Zeichen des Kreuzes und erheben sich abends und trinken das Blut der Lebenden. Sie können auch ihre Gestalt verändern und als Fledermäuse oder Wölfe auftreten. Diejenigen, die sich regelmäßig der Wolfsgestalt bedienen, werden Werwölfe genannt und als eine völlig andere Gattung betrachtet, aber das ist ein Irrtum. Sie sind wie zwei Seiten einer einzigen düsteren Münze, Abner. Vampire können auch als Nebel erscheinen, und ihre Opfer werden selbst zu Vampiren. Es ist ein Wunder, daß der Vampir, betrachtet man seine Möglichkeiten zur Vermehrung, nicht schon längst den Platz der menschlichen Rasse einnimmt. Glücklicherweise haben sie bei all ihrer unermeßlichen Macht auch einige Schwächen. Obgleich ihre Stärke beängstigend ist, können sie kein Haus betreten, in das sie nicht eingeladen wurden, und zwar weder als Mensch, Tier oder Nebel. Sie erzeugen jedoch einen starken animalischen Magnetismus, nämlich die Kraft, die Mesmer beschrieben hat, und können ihre Opfer häufig entsprechend beeinflussen, daß sie sie hereinbitten. Aber das Zeichen des Kreuzes schlägt sie in die Flucht, Knoblauch kann sie auf Distanz halten, und sie können kein fließendes Wasser überqueren. Obwohl sie genauso aussehen wie Sie und ich, besitzen sie keine Seele und werden deshalb auch von keinem Spiegel reflektiert. Weihwasser verbrennt sie, Silber verabscheuen sie, das Tageslicht kann sie vernichten, wenn der Morgen sie fern ihrer Särge überrascht. Und indem man ihre Köpfe von den Körpern trennt und ihnen Holzpflöcke durchs Herz treibt, kann man die Welt für immer von ihnen befreien.« Joshua lehnte sich zurück, griff nach seinem Glas, trank, lächelte. »Diese Vampire, Abner«, sagte er. Er klopfte mit einem langen Finger auf das Buch. »Dies ist die Geschichte von einigen von ihnen. Es gibt sie wirklich. Sie sind alt, leben ewig und sind real. Ein im sechzehnten Jahrhundert lebender Odorote schrieb dieses Buch über die, die vor ihm gelebt haben. Ein Vampir.«

Abner Marsh sagte nichts.

»Sie glauben mir nicht«, stellte Joshua York fest.

»Leicht fällt es mir nicht«, gab Marsh zu. Er zupfte an den widerspenstigen Haaren seines Bartes. Er scheute sich, einige Dinge auszusprechen. Joshuas Informationen über Vampire beunruhigten ihn nicht halb soviel wie die bohrende Frage, inwieweit Joshua in dieser ganzen Angelegenheit eine Rolle spielte. »Halten wir uns nicht damit auf, ob ich Ihnen glaube oder nicht«, sagte Marsh. »Wenn ich Mister Framms Geschichten schlucke, dann sollte ich Ihnen wenigstens zuhören. Fahren Sie fort.«

Joshua lächelte. »Sie sind ein kluger Mann, Abner. Eigentlich sollten Sie sich den Rest selbst zusammenreimen können.«

»Im Augenblick fühle ich mich aber überhaupt nicht klug«, wandte Marsh ein. »Reden Sie.«

York trank einen Schluck, hob die Schultern. »Die sind meine Feinde. Sie sind real, Abner, und sie halten sich hier auf, überall entlang Ihres geliebten Flusses. Durch Bücher wie diese, durch Studium der Zeitungen, durch mühevolle Arbeit habe ich sie von den Bergen Osteuropas, den Wäldern Deutschlands und Polens, den Steppen Rußlands verfolgt. Hierher. In Ihr Mississippi‐Land, in die Neue Welt. Ich kenne sie, ich bereite ihnen und allem, was sie je dargestellt haben, ein Ende.« Er lächelte. »Verstehen Sie nun meine Bücher, Abner? Und das Blut an meinen Händen?«

Abner Marsh ließ sich das kurz durch den Kopf gehen, ehe er antwortete. Schließlich sagte er: »Ich erinnere mich, daß Sie anstelle von Ölgemälden im großen Salon ausschließlich große Spiegel haben wollten. Zum … Schutz?«

»Genau. Und Silber. Kennen Sie einen Raddampfer, der jemals soviel Silber mit sich herumgefahren hat?«

»Nein.«

»Und dann haben wir natürlich noch den Fluß. Den alten Teufel von Strom. Den Mississippi. Ein fließendes Gewässer, wie die Welt kein zweites je gesehen hat! Die Fiebertraum ist so etwas wie eine sichere Zufluchtsstätte. Ich kann sie jagen, sehen Sie, aber sie können nicht an uns heran.«

»Ich wundere mich, daß Sie Toby nicht den Auftrag gegeben haben, alles mit Knoblauch zu sichern«, sagte Marsh.

»Ich hatte es kurz erwogen«, erwiderte Joshua. »Aber ich kann Knoblauch nicht aussehen.«

Marsh dachte darüber nach. »Nehmen wir einmal an, ich glaube alles«, meinte er. »Ich sage nicht ausdrücklich, daß ich es tue, aber nur um einen Standpunkt zu beziehen, widerspreche ich nicht und lasse alles gelten. Es gibt aber immer noch ein paar Dinge, die mich stören. Warum haben Sie mir all das nicht schon früher erzählt?«

»Wenn ich Ihnen all das bereits im Planters’ House eröffnet hätte, wären Sie niemals mein Partner in diesem Geschäft geworden. Und ich muß die uneingeschränkte Möglichkeit haben, jeden Ort schnell aufsuchen zu können, wo ich gebraucht werde.«

»Und wie kommt es, daß Sie immer nur nachts losgehen?«

»Sie treiben sich nachts herum. Es ist einfacher, sie aufzustöbern, wenn sie unterwegs sind, als wenn sie sich in der Sicherheit ihrer Zufluchtsorte aufhalten und dort verstecken. Ich kenne die Gewohnheiten derer, die ich jage. Ich lebe praktisch nach ihrem Zeitplan.«

»Und Ihre Freunde? Simon und die anderen?«

»Simon ist schon seit langem mein Gefährte. Die anderen sind erst in jüngster Zeit zu mir gestoßen. Sie kennen die Wahrheit, sie helfen mir bei der Erfüllung meiner Mission. Was, wie ich hoffe, auch Sie nun tun werden.« Joshua kicherte. »Keine Sorge, Abner, jeder von uns ist genauso sterblich wie Sie.«

Marsh strich sich mit den Fingern durch den Bart. »Ich brauche etwas zu trinken«, sagte er. Als York sich vorbeugte, fügte er schnell hinzu: »Nein, nicht dieses Zeug, Joshua. Etwas anderes. Haben Sie Whiskey?«

York erhob sich und schenkte ihm ein Glas ein. Marsh leerte es in einem Zug. »Ich kann nicht behaupten, daß mir die ganze Sache gefällt. Totes Volk, Blut trinken und all das, daran habe ich nie geglaubt.«

»Abner, ich spiele da ein gefährliches Spiel. Ich hatte niemals die Absicht, Sie oder jemanden von Ihrer Mannschaft mit hineinzuziehen. Ich hätte Ihnen all das auch niemals erzählt, wenn Sie nicht darauf bestanden hätten. Wenn Sie jetzt aussteigen wollen, dann habe ich nichts dagegen. Tun Sie nur das, worum ich Sie gebeten habe, lenken Sie für mich die Fiebertraum, das ist alles, worum ich Sie bitte. Ich werde mich mit denen befassen. Oder trauen Sie mir die Fähigkeit nicht zu, das zu tun?«

Marsh hörte, mit welcher Lässigkeit Joshua darüber sprach, und er erinnerte sich an die Energie in diesen grauen Augen, an die Festigkeit des Händedrucks. »Ich weiß nicht.«

»Ich bin in vielem, was ich Ihnen gesagt habe, ehrlich gewesen«, fuhr Joshua fort. »Meine Aufgabe ist nicht meine einzige Leidenschaft. Ich liebe diesen Raddampfer genauso, wie Sie es tun, Abner, und teile viele Ihrer Träume über das Schiff. Ich möchte das Boot lenken, ich kenne den Fluß. Ich möchte an dem Tag dabei sein, wenn wir der Eclipse auf und davon fahren. Glauben Sie mir, wenn ich sage …«

Jemand klopfte an die Tür.

Marsh erschrak. Joshua lächelte und hob entschuldigend die Schultern. »Meine Freunde aus Natchez kommen auf einen Drink herauf«, erklärte er. »Einen Moment!« rief er laut. Zu Marsh meinte er mit leiser, drängender Stimme: »Denken Sie über alles nach, was ich Ihnen gesagt habe, Abner. Wenn Sie wollen, können wir uns noch einmal unterhalten. Aber enttäuschen Sie nicht mein Vertrauen, und reden Sie mit niemandem darüber. Ich möchte keine anderen in die Sache hineinziehen.«

»Sie haben mein Wort«, erwiderte Marsh. »Außerdem, wer würde mir schon Glauben schenken?«

Joshua lächelte. »Wenn Sie jetzt so freundlich wären, meine Gäste einzulassen, während ich uns einschenke«, meinte er. Marsh erhob sich und öffnete die Tür. Draußen standen ein Mann und eine Frau und flüsterten angeregt miteinander. Hinter ihnen sah Marsh den Mond wie eine Dekorationslaterne zwischen den Schornsteinen am Himmel stehen. Er hörte aus Natchez‐under‐the‐Hill die leisen Klänge eines obszönen Liedes. »Bitte, treten Sie ein«, sagte er.

Die Fremden waren ein blendend aussehendes Paar, wie Marsh sehen konnte, als sie eintraten. Der Mann war nicht alt, fast noch jungenhaft, sehr schlank und attraktiv, mit schwarzen Haaren, heller Haut und kräftigen, sinnlichen Lippen. Er hatte ein grelles, kaltes Funkeln in den schwarzen Augen, als er Marsh mit einem kurzen Blick streifte. Und die Frau … Abner Marsh schaute sie an und es fiel ihm schwer, den Blick wieder von ihr zu lösen. Sie war eine wahre Schönheit. Langes Haar, so schwarz wie die Nacht, die Haut so weich wie milchweiße Seide, hohe Wangenknochen. Ihre Taille war so schlank, daß Marsh den unwillkürlichen Wunsch verspürte, die Arme auszustrecken und zu versuchen, ob er sie mit seinen großen Händen umfassen konnte. Statt dessen schaute er ihr ins Gesicht und entdeckte, daß sie ihn ebenfalls anstarrte. Ihre Augen waren unglaublich. Marsh hatte noch nie zuvor Augen von einer solchen Farbe gesehen; es war ein tiefes, samtiges Violett, voller Verheißung. Er hatte das Gefühl, in diesen Augen versinken zu können. Sie erinnerten ihn an einen Farbton, den er ein‐ oder zweimal schon im Zwielicht auf dem Fluß gesehen hatte, eine seltsame violettfarbene Ruhe, nur kurz wahrzunehmen, ehe die Dunkelheit endgültig hereinbrach. Es kam Marsh so vor, als starrte er für eine kleine Ewigkeit hilflos in diese Augen, bis die Frau ihm endlich ein rätselhaftes Lächeln schenkte und sich schnell abwandte.

Joshua hatte vier Gläser gefüllt; für Marsh einen Becher Whiskey, für sich selbst und die anderen von seinem Spezialgetränk. »Ich freue mich, daß Sie nun hier sind«, sagte er, während er mit dem Tablett herumging. »Ich gehe davon aus, daß Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden sind?«

»Sehr«, sagte der Mann, hob sein Glas hoch und betrachtete es argwöhnisch. Als Marsh daran dachte, wie das Zeug ihm geschmeckt hatte, konnte er das durchaus verstehen.

»Sie haben ein sehr schönes Dampfschiff, Captain York«, sagte die Frau mit warmer Stimme. »Es wird mir eine große Freude sein, damit zu reisen.«

»Ich hoffe, daß wir eine geraume Zeit zusammen reisen werden«, erwiderte Joshua galant. »Was die Fiebertraum betrifft, so bin ich sehr stolz auf sie, aber Ihre Komplimente sollten Sie eher an meinen Partner weitergeben.« Er wies auf ihn. »Wenn Sie gestatten, mache ich die Herrschaften miteinander bekannt: Dieser Gentleman ist Captain Abner Marsh, mein Geschäftspartner in der Fevre River Packets und der wahre Meister der Fiebertraum, um der Wahrheit die Ehre zu geben.«

Die Frau lächelte Abner Marsh wieder an, während der Mann steif mit dem Kopf nickte. »Abner«, fuhr York fort, »darf ich Sie mit Mister Raymond Ortega aus New Orleans und seiner Verlobten Miss Valerie Mersault bekannt machen?«

»Es ist mir eine Freude, Sie auf dem Schiff zu haben«, sagte Marsh linkisch.

Joshua hob sein Glas. »Einen Toast«, sagte er. »Auf einen neuen Anfang!«

Sie wiederholten seine Worte und tranken.

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