KAPITEL DREI

New Albany, Indiana, Juni 1857

Dichte Nebelschwaden lagen über dem Fluß, und die Luft war feucht und kalt. Es war kurz nach Mitternacht, als Joshua York, nachdem er endlich aus St. Louis eingetroffen war, Abner Marsh in den verlassenen Docks von New Albany traf. Marsh wartete schon fast eine halbe Stunde, als York endlich auftauchte und wie eine gespenstische Erscheinung aus dem Nebel heraustrat. Hinter ihm, als stumme Schatten zu erkennen, kamen vier andere Personen.

Marsh grinste breit. »Joshua«, sagte er. Er nickte den anderen kurz zu. Er hatte sie im April in St. Louis kurz kennengelernt, ehe er mit einem Flußdampfer nach New Albany aufgebrochen war, um den Bau seines Traums zu beaufsichtigen. Sie waren Yorks Freunde und Reisebegleiter, aber eine seltsamere Gruppe hatte Marsh nie zuvor getroffen. Zwei waren Männer unbestimmbaren Alters mit fremd klingenden Namen, an die er sich weder erinnern, noch die er aussprechen konnte; er taufte sie insgeheim Smith und Brown, was York amüsierte. Sie plapperten dauernd in einem ausländischen Kauderwelsch miteinander. Der dritte, ein hohlwangiger Mann aus dem Osten, war gekleidet wie ein Totengräber, trug den Namen Simon und redete überhaupt nicht. Die Frau, Katherine, war angeblich eine Britin. Sie war groß und ging irgendwie vornübergebeugt und bot einen kranken, siechen Anblick. Sie erinnerte Marsh an einen riesigen weißen Geier. Aber sie war mit York befreundet, sie alle waren es, und York hatte ihn schon vorher gewarnt, daß er einige sonderbare Freunde habe, daher verkniff Abner Marsh sich jede Bemerkung.

»Guten Abend, Abner«, begrüßte York seinen Partner. Er blieb stehen und schaute sich in den Docks um, wo die zur Hälfte fertiggestellten Dampfboote im wallenden grauen Nebel wie eine Ansammlung von Skeletten erschienen. »Eine kalte Nacht, nicht wahr? Für Juni jedenfalls.«

»Das stimmt wohl. Hatten Sie einen weiten Weg?«

»Ich habe im Galt House drüben in Louisville eine Suite gemietet. Dann nahmen wir uns ein Boot, das uns über den Fluß brachte.« Seine kühlen grauen Augen studierten interessiert das Dampfboot in ihrer nächsten Nähe. »Ist das unseres?«

Marsh schnaubte. »Das kleine Ding? Zum Teufel, nein, das ist nur ein mickriger billiger Heckraddampfer, der für den Dienst in Cincinnati gebaut wird. Sie haben doch wohl nicht angenommen, daß ich bei unserem Boot ein verdammtes Heckrad einbauen lasse, oder?«

York lächelte. »Verzeihen Sie meine Unkenntnis. Wo ist denn nun unser Boot?«

»Kommen Sie hier entlang«, antwortete Marsh und deutete mit seinem Spazierstock. Er führte sie zwischen den Docks hindurch. »Dort«, meinte er dann und zeigte in die entsprechende Richtung.

Die Nebelschwaden gaben ihnen die Sicht frei, und da stand es, hoch und stolz, und überragte alle anderen Boote. Die Kabinen und Geländer erstrahlten von frischer Farbe so weiß wie Schnee, die sogar unter dem grauen Nebelmantel hell leuchtete. Hoch oben auf dem Texasdach, auf halbem Weg zu den Sternen, schien das Ruderhaus zu funkeln; ein gläserner Tempel, dessen Zierkuppel rundum mit hübschen Schnitzereien geschmückt war, so fein und filigranhaft wie irische Spitze. Die Schornsteine, Zwillingssäulen, die vorne auf dem Texasdeck standen, ragten hundert Fuß in die Höhe, schwarz und kerzengerade und hochmütig: Ihre befiederten Spitzen schienen wie dunkle Blumen aus Stahl aufzublühen. Der Rumpf war schlank und schien kein Ende zu haben, denn das Heck war vom Nebel verhüllt. Wie alle erstklassigen Boote war es ein Seitenraddampfer. Mittschiffs liegend, bildeten die Radkästen gigantische Gehäuse, die einen Eindruck von der enormen Kraft der Schaufelräder vermittelten, die sich darin drehen sollten. Sie schienen auch deshalb viel größer zu sein, um den Namen zu tragen, der in Kürze auf sie aufgemalt werden sollte.

In der Nacht und vom Nebel umwallt und inmitten all jener kleineren, schlichteren Boote liegend, erschien der Dampfer wie eine Vision, ein weißes Phantom aus dem Traum eines Flußmannes. Das Schiff raubte einem schier den Atem, dachte Marsh, als sie dastanden und es betrachteten.

Smith plapperte etwas, und Brown antwortete im gleichen schnellen Plapperton, aber Joshua York konnte nur schweigend schauen. Lange stand er so da, dann nickte er. »Wir haben etwas Wunderschönes geschaffen, Abner«, stellte er fest.

Marsh lächelte.

»Ich hatte nicht damit gerechnet, daß der Bau schon soweit fortgeschritten und nahezu beendet ist«, sagte York.

»Wir sind hier in New Albany«, erinnerte Marsh ihn. »Deshalb bin ich hierher gegangen anstatt in eine der Werften in St. Louis. Hier werden Dampfboote gebaut, seit ich ein Kind war, im vergangenen Jahr waren es alleine zweiundzwanzig Schiffe, dieses Jahr werden es bestimmt genauso viele. Ich wußte, daß man hier unseren Auftrag ausführen könnte: Sie hätten dabei sein sollen. Ich tauchte mit einer der kleinen Kisten Gold auf, und ich kippte den Inhalt dem Direktor auf den Tisch, und dann sagte ich zu ihm: ›Ich will, daß ein Dampfer gebaut wird, und er soll sofort gebaut werden, und ich will, daß dieses Boot das schnellste und schönste und tollste ist, daß Sie je gebaut haben, verstanden? Und jetzt schaffen Sie mir ein paar Ingenieure heran, Ihre besten. Es ist mir egal, ob Sie sie aus irgendeinem Hurenhaus drüben in Louisville herausholen müssen, ich will sie heute abend noch sehen, damit wir endlich anfangen können. Und dann holen Sie mir die besten verdammten Zimmerleute und Anstreicher und Kesselbauer und den ganzen verdammten Rest, denn wenn ich nicht wirklich die allerbesten bekomme, dann wird Ihnen das verdammt noch mal noch leid tun.‹« Marsh lachte. »Sie hätten ihn sehen sollen. Wußte gar nicht, was er machen sollte, mir zuhören oder das Gold auf seinem Tisch anstarren, er schien richtige Angst zu haben. Aber er hat es geschafft, hat es so gemacht, wie wir es wollten.« Er wies mit einem Kopfnicken auf das Dampfboot. »Natürlich ist das Prachtstück noch nicht fertig. Die Innenteile müssen noch gestrichen werden, vorwiegend in Blau und Silber, damit es zu all dem Silber paßt, das Sie im Salon haben wollten. Und wir warten noch immer auf die Luxusmöbel und die Wandspiegel, die Sie in Philadelphia bestellt haben, und andere Dinge. Aber im wesentlichen ist das Boot fertig, Joshua, ist der Bau beendet. Kommen Sie, ich zeigen es Ihnen.«

Arbeiter hatten eine Laterne auf einem Holzstapel unweit des Bootshecks stehengelassen. Marsh riß ein Streichholz an seiner Hose an, entzündete die Laterne und hielt sie mit auffordernder Geste Brown hin. »Da, tragen Sie das«, sagte er grob. Stampfend ging er über eine lange Bohle auf das Hauptdeck, die anderen folgten ihm. »Vorsicht, wenn Sie etwas anfassen«, warnte er. »Stellenweise ist die Farbe noch feucht.«

Das unterste, oder Haupt‐Deck war mit Maschinen und Geräten vollgestellt. Die Laterne gab ein klares, stetiges Licht, aber Brown bewegte sie hin und her, so daß die Schatten der schweren Maschinen sich zu verformen und umherzuspringen schienen, als wären es lebendige Wesen. »He, halten Sie das Licht still«, kommandierte Marsh. Er wandte sich zu York um und begann ihm Einzelheiten zu erklären, wobei er mit seinem Stock herumfuchtelte und wie mit einem langen Hickoryfinger auf die Kessel wies, mächtige Stahlzylinder, die den vorderen Teil des Decks säumten. »Achtzehn Kessel«, sagte Marsh voller Stolz, »drei mehr als die Eclipse. Durchmesser dreißig Inch, jeder achtundzwanzig Fuß lang.« Sein Spazierstock wechselte die Richtung. »Die Feuerlöcher sind mit Schamottsteinen und Eisenplatten ausgekleidet und stehen auf Stelzen über dem Deck, so daß die Brandgefahr eingeschränkt ist.« Er folgte dem Verlauf der Dampfleitungen über ihnen, die die Kessel mit den Maschinen verbanden, und sie wandten sich alle dem Heck zu. »Wir haben Sechsunddreißig‐Inch‐Zylinder, Hochdruck, mit einem Hub von elf Fuß, genauso wie die Eclipse. Dieses Boot wird den alten Fluß ganz schön aufwühlen, das kann ich Ihnen flüstern.«

Brown plapperte, Smith plapperte, und Joshua York lächelte.

»Kommen Sie mit rauf«, sagte Marsh. »Ihre Freunde scheinen sich für die Maschinen nicht sonderlich zu interessieren, aber ich denke doch, daß es ihnen oben bestens gefallen wird.«

Der Treppenaufgang war breit und reich verziert, polierte Eiche mit elegant kannelierten Geländern. Er begann oben am Bug, seine Breite verbarg die Dampfkessel und die Maschinen von den Logierpassagieren, dann teilte der Aufgang sich und schwang auf beiden Seiten in einem eleganten Bogen hinauf zum zweiten oder auch Kesseldeck. Sie wählten ihren Weg über die Steuerbordseite, wobei Marsh mit seinem Spazierstock und Brown mit der Laterne vorausgingen und die Stiefel der Besucher auf dem Hartholzboden des Promenadenganges knallten, während sie die feinen gotischen Details der Säulen und der Reling betrachteten, all das sorgfältig modellierte Holz, das mit Schnitzereien von Blumen und Girlanden und Eicheln bedeckt war. Kabinentüren und ‐fenster erstreckten sich in einer langen Reihe vom Bug bis zum Heck; die Türen bestanden aus dunklem Walnußholz, die Fenster aus farbigem Glas. »Die Kabinen sind noch nicht eingerichtet«, sagte Marsh, öffnete eine Tür und betrat einen Raum; »aber wir bekommen ausnahmslos nur das Allerbeste geliefert, Federbetten und ‐kissen, einen Spiegel und eine Öllampe für jede Kabine. Unsere Kabinen sind auch geräumiger als üblich — wir werden zwar nicht so viele Passagiere aufnehmen können wie andere Boote von dieser Größe, aber dafür haben sie bei uns mehr Platz.« Er lächelte. »Überdies können wir höhere Preise verlangen.«

Jede Kabine besaß zwei Türen; eine führte auf das Deck, die andere ins Schiffsinnere, in den großen Salon, die Hauptkabine des Raddampfers. »Die Hauptkabine ist auch nicht annähernd fertig«, erklärte Marsh, »aber Sie können sie sich trotzdem einmal anschauen.«

Sie traten ein und blieben stehen, während Brown die Laterne hochhob, um die enormen Ausmaße, ihre gesamte Länge möglichst auszuleuchten. Der große Salon erstreckte sich über die ganze Länge des Kesseldecks, offen und nicht unterteilt bis auf eine Gangway mittschiffs. »Im vorderen Teil befinden sich die Toiletten für die Herren, im hinteren Teil die Erfrischungsräume für die Damen«, erklärte Marsh. »Sehen Sie sich um. Noch ist das alles nicht fertig, aber es wird sicherlich die reinste Pracht. Die Bar aus Marmor dort drüben ist vierzig Fuß lang, und dahinter wird ein Spiegel aufgehängt, der genauso lang ist. Bestellt ist er schon. Auch an jeder Kabinentür werden Spiegel angebracht, mitsamt einem Rahmen aus Silber, und ans hintere Ende in die Damentoilette kommt ein Spiegel, der zwölf Fuß hoch ist.« Er wies mit seinem Stock nach oben. »Im Augenblick kann man es nicht sehen, weil es schon dunkel ist, aber die Oberlichter bestehen aus farbigem Glas und sind über den gesamten Raum verteilt. Dann legen wir einen dieser großen Brüsseler Teppiche aus, und auch die Kabinen bekommen ihre Teppiche. Wir haben einen silbernen Wasserkühler mit Silberbechern, der auf einem prachtvollen Holztisch aufgestellt wird, und wir verfügen auch über einen Flügel und nagelneue Samtstühle und Tischdecken aus reinem Leinen. Allerdings ist das alles noch nicht geliefert worden.«

Auch ohne Teppich, Spiegel und Möblierung vermittelte die langgestreckte Kabine einen Eindruck von Eleganz. Sie schritten sie langsam ab, schweigend, und im umhertanzenden Licht der Laterne tauchten Details ihrer gediegenen Pracht aus der Dunkelheit auf, um gleich wieder hinter ihnen zu verschwinden: die hohe gewölbte Decke mit ihren gebogenen Balken, die mit Schnitzereien versehen waren so fein wie geklöppelte Spitze. Lange Reihen schlanker Säulen flankierten die Kabinentüren und wiesen die feinste Kannelierung auf. Die Bar aus schwarzem Marmor mit seiner kräftigen farbigen Äderung. Der warme ölige Glanz des dunklen Holzes. Die Doppelreihe Kronleuchter, jeder mit vier großen Kristallkugeln ausgestattet, die von einem feinziselierten Gitterwerk aus Schmiedeeisen herabhingen. Es waren nur noch Öl und eine Flamme und all jene Spiegel nötig, um den gesamten Salon mit strahlendem, prachtvollem Licht zu erfüllen.

»Die Kabinen erschienen mir etwas klein«, meinte Katherine plötzlich, »aber dieser Raum wird grandios.«

Marsh sah sie stirnrunzelnd an. »Die Kabinen sind groß, Ma’am. Acht Fuß im Quadrat. Sechs sind üblich. Dies ist ein Raddampfer, müssen Sie wissen.« Er wandte sich von ihr ab und wies mit seinem Spazierstock durch den Saal. »Das Büro des Zahlmeisters liegt ganz vorne, die Küche und die Waschräume befinden sich bei den Radkästen. Ich weiß auch schon, welchen Koch ich hole. Er hat früher auf meiner Lady Liz gearbeitet.«

Das Dach des Kesseldecks war gleichzeitig das Sturmdeck. Sie stiegen eine enge Treppe hinauf und betraten die nächste Etage vor den mächtigen schwarzen Eisenschornsteinen, dann kam eine weitere kürzere Treppe hinauf zum Texasdeck, das von den Schornsteinen bis zu den Radkästen reichte. »Die Kabinen der Mannschaft«, erklärte Marsh, ohne seinen Rundgang auf diesen Bereich auszudehnen. Das Ruderhaus stand auf dem Texasdeck. Er führte seine Begleiter hinauf und ließ sie eintreten.

Von dort aus konnte man die gesamte Werft überschauen; all die kleineren Boote waren in Nebel gehüllt, dahinter die schwarzen Fluten des Ohio River und sogar die fernen Lichter von Louisville, die als geisterhaftes Funkeln durch den Nebel erkennbar waren. Das Innere des Lotsenhauses war großzügig und gediegen eingerichtet. Die Fenster waren aus dem besten und klarsten Glas hergestellt, mitsamt ihren Verzierungen aus farbigen Glasstreifen. Überall schimmerte dunkles Holz, und poliertes Silber erstrahlte fahl und kalt im Laternenlicht.

Und dort war das Ruderrad. Nur die obere Hälfte war zu sehen, so groß war es, und selbst die war so hoch, wie Marsh groß war, während die untere Hälfte in einem Spalt im Fußboden verschwand. Es war aus weichem schwarzem Teakholz gefertigt, kühl und glatt anzufassen, und die Speichen trugen als Verzierung schmale Silberbänder ähnlich wie die Strumpfhalterbänder eines Tanzmädchens. Das Rad schien sich nach der Hand des Steuermannes zu sehnen.

Joshua York näherte sich dem Rad und berührte es, strich mit einer blassen Hand über das schwarze Holz mit seinem Silberschmuck. Dann umfaßte er den äußeren Holzring, als wäre er selbst der Steuermann, und für einen langen Moment stand er da, die Hand am Rad und seine grauen Augen mit düsterem Blick auf die Nacht und den für diesen Juni ungewöhnlichen Nebel gerichtet. Die anderen verstummten nach und nach, und für einen kurzen Augenblick konnte Abner Marsh nahezu fühlen, wie sich das Dampfboot bewegte, wie es über einen finsteren Fluß der Einbildung, der Phantasie glitt, auf einer seltsamen und endlosen Reise.

Joshua York wandte sich um und zerriß damit die Verzauberung dieses Augenblicks. »Abner«, sagte er, »ich würde gerne lernen, dieses Boot zu steuern. Können Sie mir das beibringen?«

»Steuern, was?« meinte Marsh überrascht. Es fiel ihm nicht schwer, sich York als seinen Meister und Kapitän vorzustellen, aber das Steuern eines Schiffes war etwas ganz anderes — dennoch stimmte diese Frage allein ihn seinem Partner gewogener, erwärmte ihn für York und half ihm, ihn am Ende ein wenig zu verstehen. Abner Marsh wußte genau, was in ihm vorging, wenn er den Wunsch empfand, ein solches Schiff auch einmal selbst zu lenken. »Nun, Joshua«, sagte er, »ich habe auch schon sehr oft hinter dem Rad gestanden, und ich muß sagen, das Steuern gibt einem das tollste Gefühl der Welt. Kapitän zu sein ist nichts im Vergleich zum Lenken eines Schiffs. Aber das ist keine Tätigkeit, die man so einfach erlernen kann, die man jemand anderem abschaut, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will.«

»Mir kommt es so vor, als wäre es nicht schwer, mit dem Rad umzugehen«, sagte York.

Marsh lachte. »Zum Teufel, ja, aber es ist nicht das Rad, dessen Bedienung man lernen muß. Es ist der Fluß, York, der Fluß. Der alte Mississippi selbst. Ich war acht Jahre lang Lotse, ehe ich meine eigenen Boote hatte, und besaß die Lizenz für den oberen Mississippi und den Illinois. Niemals für den Ohio oder den Unterlauf des Mississippi, und trotz allem, was ich über Dampfboot wußte, hätte ich niemals ein Boot auf diesen Flüssen steuern können, ohne mein Leben zu riskieren — ich kannte sie nicht. Und bei denen, die ich kannte, habe ich Jahre gebraucht, um sie kennenzulernen, und ich lerne immer noch, es hat nie aufgehört. Mittlerweile habe ich so lange nicht mehr in einem Ruderhaus gestanden, daß ich jeden Fluß wieder ganz von vorne kennenlernen muß. Der Fluß verändert sich, Joshua, das tut er ständig. Er ist beim zweiten Befahren stets anders als beim ersten, und man muß sich jeden Inch davon einprägen.« Marsh ging zum Rad und streichelte es zärtlich. »Nun, ich habe vor, dieses Boot zu lenken, wenigstens einmal. Ich habe zu lange von diesem Schiff geträumt, um es nicht einmal selbst in die Hand nehmen zu wollen. Wenn wir gegen die Eclipse ein Rennen fahren, dann beabsichtige ich, ebenfalls für einen kurzen Zeitraum im Ruderhaus zu stehen, das tue ich ganz bestimmt. Aber das Schiff ist für alles andere als den Frachttransport um New Orleans einfach zu groß, und das heißt, daß der Unterlauf des Flusses unser Gebiet sein wird, deshalb muß ich wieder mit dem Lernen anfangen, jeden verdammten Fußbreit am und auf dem Fluß muß ich mir einprägen. Und das kostet Zeit und ist harte Arbeit.« Er sah York an. »Wollen Sie immer noch ans Ruderrad, jetzt, wo Sie wissen, was Sie erwartet?«

»Wir können doch gemeinsam lernen, Abner«, erwiderte York.

Yorks Begleiter wurden unruhig. Sie wanderten von Fenster zu Fenster, Brown wechselte die Laterne von einer in die andere Hand, Simon erinnerte in seiner stoischen Grimmigkeit an eine Leiche. Smith sagte in einer fremden Sprache etwas zu York. York nickte. »Wir müssen zurück«, sagte er.

Marsh schaute sich noch ein letztesmal um, hatte noch keine Lust zu gehen, und führte die Besucher dann aus dem Ruderhaus.

Als sie ein Stück über das Werftgelände zwischen den Docks gegangen waren, wandte York sich um und schaute zurück auf ihr Dampfboot, das auf seinen Stützen hockte und einen fahlen hellen Schatten vor dem Nachthimmel bildete. Die anderen blieben ebenfalls stehen und warteten schweigend.

»Kennen Sie Byron?« wollte York von Marsh wissen.

Marsh überlegte einige Zeit. »Ich kannte mal einen Burschen namens Blackjack Pete, der die Grand Turk steuerte. Ich glaube, sein Name lautete Brian.«

York lächelte. »Nicht Brian. Byron. Lord Byron, der englische Dichter.«

»Oh«, sagte Marsh. »Den meinen Sie. Ich habe für Gedichte nicht viel übrig. Ich glaube, ich habe schon mal von ihm gehört. Ein mutiger Kerl, nicht wahr? Und ein Liebling der Frauen.«

»Genau der, Abner. Ein bemerkenswerter Mann. Ich hatte das große Glück, ihn einmal persönlich kennenzulernen. Unser Dampfboot erinnert mich an ein Gedicht, das er einmal geschrieben hat.«

Er begann zu rezitieren.

In ihrer Schönheit wandelt sie

Wie wolkenlose Sternennacht;

Vermählt auf ihrem Antlitz sieh

Des Dunkels Reiz, des Lichtes Pracht:

Der Dämmrung zarte Harmonie,

Die hinstirbt, wenn der Tag erwacht.

»Byron schrieb natürlich von einer Frau, aber die Worte scheinen genausogut auf unser Boot zu passen, oder nicht? Sehen Sie sie doch nur an, Abner! Was meinen Sie?«

Abner wußte nicht so recht, was er denken sollte; der normale Dampfbootmann lief nicht herum und deklamierte Gedichte, und er hatte keine Ahnung, was er zu dem bemerken sollte, was er gerade gehört hatte. »Sehr interessant, Joshua«, war alles, was er zustandebrachte.

»Wie sollen wir das Schiff nennen?« fragte York und betrachtete noch immer das Boot, während ein leises Lächeln in seinem Gesicht spielte. »Gibt das Gedicht Ihnen irgendeine Idee?«

Marsh runzelte die Stirn. »Wir werden das Boot nicht nach irgendeinem verrückten Briten nennen, falls Sie das im Sinn haben«, erwiderte er unwirsch.

»Nein«, sagte York, »das war es nicht, was ich vorschlagen wollte. Ich hatte etwas anderes im Sinn wie zum Beispiel Dark Lady, oder …«

»Ich hab’ mir auch etwas ausgedacht«, sagte Marsh. »Unsere Firma heißt trotz allem Fevre River Packets, und dieses Boot stellt alles dar, was ich mir jemals erträumt habe.« Er hob den Hickorystock und wies auf den Radkasten. »Dort malen wir es hin, in großen blauen und silbernen Lettern, so prachtvoll wie möglich. Fiebertraum.« Er lächelte. »Die Fiebertraum gegen die Eclipse, sie werden noch von dem Rennen reden, wenn wir schon lange tot sind.«

Für einen kurzen Augenblick lag etwas Seltsames und Gespenstisches in Joshua Yorks grauen Augen. Dann war es wieder genauso schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war. »Fiebertraum«, sagte er. »Halten Sie diese Wahl nicht für ein wenig … hmmm … unheimlich? Für mich stecken in dem Namen Krankheit, Fieber und Tod und Wahnvorstellungen. Träume, die … Träume, die man nicht träumen sollte, Abner.«

Marsh blickte ihn finster an. »Ich sehe das nicht so. Mir gefällt der Name.«

»Werden die Leute ein Boot mit einem solchen Namen besteigen, sich damit befördern lassen? Es ist schon passiert, daß auf Raddampfern Typhus und Gelbfieber gewütet haben. Sollen wir die Menschen am Fluß daran erinnern?«

»Sie sind mit meiner Sweet Fevre gefahren«, sagte Marsh. »Sie fahren mit der War Eagle und der Ghost und sogar auf Booten, die nach Indianern benannt sind. Sie werden auch dieses Schiff benutzen.«

Der hagere und fahle Mann namens Simon sagte daraufhin etwas mit einer Stimme, die kratzte wie eine rostige Säge, und in einer Sprache, die Marsh fremd vorkam, obgleich es nicht die Sprache war, in der Smith und Brown sich lebhaft unterhielten. York hörte ihm zu, und sein Gesicht nahm einen nachdenklichen Ausdruck an, wobei es immer noch Besorgtheit zeigte. »Fiebertraum«, sagte er wieder. »Ich hatte auf einen — einen freundlicheren Namen gehofft, aber Simon hat mir etwas klargemacht. Machen Sie es so, wie Sie wollen, Abner. Soll das Boot ruhig Fiebertraum heißen.«

»Gut«, meinte Marsh.

York nickte geistesabwesend. »Treffen wir uns doch morgen zum Dinner im Galt House. Um acht Uhr. Dann können wir uns über unsere Fahrt nach St. Louis unterhalten und über die Mannschaft und die Vorräte beraten, die wir noch brauchen, falls es Ihnen paßt.«

Marsh gab seine knurrige Zustimmung, und York und seine Gefährten entfernten sich, um zu ihrem Boot zu gehen, und wurden vom Nebel verschluckt. Noch lange, nachdem sie gegangen waren, stand Marsh in den Docks und betrachtete den stummen, starren Raddampfer. »Fiebertraum«, sagte er laut, um den Geschmack der Worte auf seiner Zunge zu kosten. Aber seltsamerweise, zum erstenmal, klang der Name in seinen Ohren irgendwie falsch, enthielt er Gedankenverbindungen, die ihm gar nicht behagten. Er fröstelte, für einen kurzen Moment empfand er eine unerklärliche Kälte, dann schnaufte er und suchte sein Zimmer auf, um zu Bett zu gehen.

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