Dick Francis Gegenzug

Kapitel 1

Ich folgte Derry Welfram in einem vorsichtigen Abstand von fünfzig Schritten, als er plötzlich stolperte, mit dem Gesicht auf das nasse Pflaster fiel und liegenblieb. Ich hielt an, beobachtete, wie Hände sich streckten, um ihm aufzuhelfen, und sah den Ausdruck des Zweifels, der Sorge, der Bestürzung in den sich öffnenden Mündern der Gesichter um ihn herum. Das Wort, das sich daraufhin in meinem Kopf formte, war grob, ordinär und blieb unausgesprochen.

Derry Welfram lag reglos auf seinem Gesicht, während die vierzehn Starter des 15-Uhr-30-Rennens in York dicht an ihm vorbeistaksten; die Jockeys in ihrer schon feuchten Kleidung blickten mit gedämpfter Neugier zu ihm runter und wieder hoch, konzentriert auf die bevorstehende Aufgabe, fröstelnd in der regendurchsetzten Kälte des frühen Oktober. Der Mann war betrunken. Man konnte ihre Gedanken lesen. Mitten am Nachmittag umkippende Trinker waren auf Rennbahnen nicht gerade unbekannt. Es war ein lausiger, ungemütlicher Nachmittag. Alles Gute dem Zecher.

Ich zog mich unauffällig ein paar Schritte zurück und sah weiter zu. Einige aus der Gruppe, die am dichtesten bei Welfram gewesen war, als er stürzte, rückten von ihm ab, schauten auf die entschwindenden Pferde, wollten fort, wollten das Rennen sehen. Einige traten von einem Fuß auf den anderen, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch zu gehen und ihrem Schamgefühl, und einer mit mehr sozialem Verantwortungsbewußtsein hastete davon, um Hilfe zu holen.

Ich wanderte zur offenen Tür der Bar an der Führung hinüber, von wo etliche Besucher die Szene verfolgten. Im Innern war die Bar voll von relativ trockenen Leuten, die sich die LiveBilder auf dem Monitor anschauten, das Leben aus zweiter

Hand.

Einer aus der Gruppe am Eingang sagte zu mir:»Was ist denn los mit dem?«

«Keine Ahnung. «Ich zuckte die Achseln.»Betrunken wahrscheinlich.«

Ich stand still dort, als Teil der Kulisse, drängte mich nicht in die Bar, sondern wartete vor der Tür, unter dem überhängenden Dach, und achtete darauf, daß mir die Tropfen, die vereinzelt herunterkamen, nicht in den Kragen fielen.

Der verantwortungsbewußte Mann kam im Laufschritt zurück, ihm folgte ein stämmiger Mensch in Johanniteruniform. Die Leute hatten Welfram inzwischen halb herumgedreht und seinen Schlips gelockert, schienen aber doch froh zu sein, daß amtliche Hilfe eintraf. Der Johanniter rollte Welfram ganz auf den Rücken und sprach kurz und bestimmt in ein Funkgerät. Dann bog er Welframs Kopf zurück und versuchte Mund-zu-Mund-Beatmung.

Ich konnte mir keine Situation vorstellen, die mich bewogen hätte, meinen Mund auf den von Welfram zu legen. Vielleicht war das zwischen völlig Unbekannten einfacher. Nicht mal, um ihm das Leben zu retten, dachte ich, obwohl ich ihn lieber lebend gehabt hätte.

Ein weiterer Mann kam herbeigeeilt, ein dünner Mann im Regenmantel; vom Sehen kannte ich ihn als den Rennbahnarzt. Er tippte dem Sanitäter auf die Schulter, hieß ihn aufhören und legte erst seine Finger an Welframs Hals, dann sein Stethoskop an die Brust unter dem geöffneten Hemd. Nach längerem Abhorchen, einer halben Minute vielleicht, richtete er sich auf und sagte etwas zu dem Sanitäter, während er das Stethoskop in der Tasche seines Regenmantels verstaute. Dann eilte er wieder fort, da das Rennen bevorstand und der Rennbahnarzt bei jedem Lauf an der Bahn sein mußte, um den Jockeys zu helfen.

Der Sanitäter gab noch einen Funkspruch durch, versuchte aber nicht mehr, Luft in unempfängliche Lungen zu blasen, und bald trafen Kollegen von ihm mit einer Bahre und einer Decke ein und trugen die diskret verhüllte Last davon — das Silberhaar, den prallen marineblauen Anzug und das verstummte Herz eines herzlosen Mannes.

Die Gruppe, die bei ihm gestanden hatte, löste sich erleichtert auf; zwei oder drei von ihnen strebten geradewegs zur Bar.

Der Mann, der mich vorhin angesprochen hatte, stellte den Neuankömmlingen die gleiche Frage:»Was ist denn mit dem?«

«Er ist tot«, sagte einer von ihnen knapp, obwohl das kaum noch nötig war.»Gott, ich brauche was zu trinken. «Er drängte sich in die Schankstube, und die Zuschauer vom Eingang, darunter auch ich, folgten ihm, um mehr zu hören.»Der ist einfach umgefallen und gestorben. «Er schüttelte den Kopf.»Mensch, da kommt man ins Nachdenken. «Er versuchte die Aufmerksamkeit des Barmanns auf sich zu ziehen.»Man konnte ihn röcheln hören… dann hat er aufgehört zu atmen… er war schon tot, bevor der Johanniter hinkam… Barmann, einen doppelten Gin. nein, dreistöckig.«

«War Blut zu sehen?«fragte ich.

«Blut?«Er sah halb in meine Richtung.»’türlich nicht. Bei Herzanfällen gibt’s kein Blut… Barmann, einen Gin Tonic… wenig Tonic… nun machen Sie mal, ja?«

«Und wer war das?«sagte jemand.

«Keine Ahnung. Irgendein armer Hund.«

Auf dem Bildschirm begann das Rennen, und alle, mich eingeschlossen, drehten die Köpfe, um zuzusehen, obgleich ich hinterher nicht hätte sagen können, wer gewonnen hatte. Durch Derry Welframs Tod würde meine derzeitige Aufgabe viel schwieriger, wenn nicht vorläufig ganz unlösbar sein. Von daher war das 15-Uhr-30-Rennen belanglos.

Ich verließ die Bar im allgemeinen Aufbruch nach dem

Rennen und wanderte unschlüssig ein wenig umher, hielt Ausschau nach anderen Dingen, die nicht so waren, wie sie sein sollten, und wie an vielen Tagen fiel mir nichts auf. Vor allem wollte ich sehen, ob irgendwer vielleicht Derry Welfram suchte, und lungerte zu diesem Zweck vor der Sanitäts wache herum, doch niemand erkundigte sich nach ihm. Schließlich kam ein Aufruf über die Lautsprecheranlage, der oder die Begleiter eines Mr. D. Welfram möchten sich beim Rennvereinssekretär melden, also lungerte ich auch vor dessen Büro eine Weile herum, doch niemand nahm die Einladung an.

Welfram die Leiche reiste in einem Krankenwagen von der Rennbahn zum Leichenschauhaus, und etwas später fuhr ich in meinem unscheinbaren Audi von York ab und rief um Punkt fünf, wie gewünscht, per Autotelefon meinen unmittelbaren Vorgesetzten John Millington an.

«Was heißt, er ist tot?«wollte er wissen.»Das kann doch nicht sein.«

«Sein Herz ist stehengeblieben«, sagte ich.

«Hat ihn jemand umgebracht?«

Keiner von uns wäre darüber erstaunt gewesen, doch ich sagte:

«Nein, darauf deutet nichts hm. Ich bin ihm eine Ewigkeit gefolgt. Ich habe nicht gesehen, daß ihn jemand angerempelt hätte oder etwas dergleichen. Und es gab offenbar kein Blut. Nichts Verdächtiges. Er ist einfach gestorben.«

«Mist. «Sein ärgerlicher Tonfall klang, als sei es meine Schuld. John Millington, Polizeibeamter i. R. (Chefinspektor), gegenwärtig stellvertretender Leiter des Jockey-ClubSicherheitsdienstes, hatte sich mit meiner heimlichen und formlosen Aufnahme in seine Abteilung anscheinend nie abfinden können, obwohl wir in den drei Jahren, seit ich für ihn tätig war, schon einige Halunken von der Rennbahn vertrieben hatten.

«Der Junge ist doch ein reiner Amateur«, hatte er eingewandt, als ich ihm als vollendete Tatsache, nicht als Vorschlag präsentiert wurde.»Das Ganze ist lächerlich.«

Inzwischen sagte er zwar nicht mehr, es sei lächerlich, aber wir waren keine engen Freunde geworden.

«Hat irgend jemand Wind gemacht? Nach ihm gefragt?«

«Nein.«

«Sind Sie sicher?«Wie immer zog er meine Fähigkeiten in Zweifel.

«Ganz sicher. «Ich erzählte ihm von meiner Wache vor den einzelnen Türen.

«Mit wem hat er sich denn getroffen? Ehe er abgekratzt ist?«

«Ich glaube nicht, daß er jemand getroffen hat, es sei denn ganz früh am Tag, bevor ich ihn entdeckt habe. Jedenfalls hat er niemand gesucht. Er hat ein paarmal am Totalisator gespielt, ein paar Biere getrunken, sich die Pferde angesehen und den Rennen zugeschaut. Er war nicht sehr beschäftigt heute.«

Millington stieß das grobe, ordinäre Wort aus, das ich zurückgehalten hatte.»Und wir sind wieder da, wo wir angefangen haben«, sagte er wütend.

«M-hm«, stimmte ich zu.

«Rufen Sie mich Montag morgen an«, sagte Millington, und ich sagte:»Gut«, und hängte ein. Heute war Samstag. Sonntags hatte ich üblicherweise frei und montags auch, außer in Notfällen. Ich sah meinen Montag rasch entschwinden.

Millington litt wie der ganze Sicherheitsdienst und die Stewards des Jockey Club noch immer darunter, daß die große Gelegenheit, den vielleicht übelsten Gesellen, der im Schatten des Rennsports sein Unwesen trieb, hinter Gitter zu bringen, vor Gericht geplatzt war. Julius Apollo Filmer war angeklagt worden, den Mord an einem Stallburschen angestiftet zu haben, der unvorsichtigerweise in einer Kneipe in Newmarket laut und betrunken verkündet hatte, er wisse Sachen über den dreckigen, verfluchten Mr. Filmer, da würde man besagtes Arschloch schneller aus dem Rennsport entfernen, als Shergar das Derby gewonnen habe.

Der bedauernswerte Stallbursche tauchte zwei Tage später mit gebrochenem Genick in einem Straßengraben auf, und die Polizei trug (unterstützt von Millington) scheinbar unanfechtbare Beweise für ein Mordkomplott zusammen, um Julius Apollo Filmer als den Planer und Initiator dieses Verbrechens belangen zu können. Am Tag seines Prozesses passierten dann seltsame Dinge mit den vier Zeugen der Anklage. Eine Zeugin brach zusammen, bekam einen hysterischen Anfall und wurde in eine Nervenklinik eingewiesen, ein Zeuge verschwand völlig und wurde später in Spanien gesehen, und zwei äußerten sich merkwürdig unklar über Sachverhalte, an die sie sich vorher messerscharf hatten erinnern können. Die Verteidigung rief einen netten jungen Mann in den Zeugenstand, der unter Eid aussagte, Mr. Filmer sei überhaupt nicht in dem Hotel in Newmarket gewesen, in dem die Tat angeblich verabredet worden war, sondern habe den ganzen Abend in einem dreihundert Meilen entfernten Motel (Rechnung lag vor) mit ihm geschäftliche Angelegenheiten besprochen. Den Geschworenen wurde dabei vorenthalten, daß der wohlerzogene, gutgekleidete Jüngling mit den gefönten Haaren und der leisen Stimme bereits wegen Betrugs einsaß und in einer grünen Minna eingetroffen war.

Fast jeder andere im Gerichtssaal — Anwälte, Polizei, der Richter selbst — wußte, daß der nette junge Mann in der fraglichen Nacht gegen Kaution auf freiem Fuß gewesen war und daß Filmer, auch wenn der eigentliche Täter noch unbekannt war, ohne Zweifel die Ermordung des Stallburschen veranlaßt hatte.

Julius Apollo Filmer lächelte süffisant-zufrieden über das» Nicht schuldig«-Urteil und schloß seinen Anwalt heftig in die Arme. Die Gerechtigkeit war verhöhnt worden. Die Eltern des

Stallburschen weinten bitterlich an seinem Grab, und der Jockey Club knirschte einhellig mit den Zähnen. Millington schwor, er werde Filmer auf jeden Fall noch irgendwie beim Wickel kriegen, und machte einen persönlichen Rachefeldzug daraus: Die Verfolgung dieses einen Schurken ließ ihn an fast nichts anderes mehr denken. Mit großem Zeitaufwand hatte er in den Kneipen von Newmarket noch einmal alles überprüft, was der regulären Polizei an Erkenntnissen vorlag, und herauszufinden versucht, was Paul Shacklebury, der tote Stallbursche, Nachteiliges über Filmer gewußt haben konnte. Niemand ahnte es — jedenfalls wollte es niemand zugeben. Und wem konnte man schon verübeln, daß er nicht riskieren wollte, in einem Straßengraben zu enden.

Mehr Glück hatte Millington bei der hysterischen Zeugin gehabt, die jetzt wieder daheim war, aber noch immer unter Angstzuständen litt. Sie, die Zeugin, war Zimmermädchen in dem Hotel, in dem Filmer das Komplott besiegelt hatte. Sie hatte gehört — und war ursprünglich auch bereit gewesen, dies zu beschwören —, wie Filmer zu einem nicht identifizierten Mann sagte:»Wenn er tot ist, gibt’s fünf Riesen für Sie und fünf für den Vollstrecker, also leiten Sie das in die Wege.«

Sie hatte gerade frische Handtücher ins Badezimmer gehängt, als die beiden Männer, die sich da unterhielten, aus dem Flur hereinkamen. Filmer war schroff geworden und hatte sie rausgeschmissen, und den anderen Mann hatte sie sich nicht angeschaut. Sie hatte die Worte genau behalten, ihre Bedeutung aber freilich erst später erkannt. Gerade wegen des Wortes» Vollstrecker «konnte sie sich so genau erinnern.

Einen Monat nach dem Prozeß gab sie Millington gegenüber halbwegs zu, daß sie bedroht worden war, damit sie nicht als Zeugin aussagte. Wer hatte sie bedroht? Ein Mann, den sie nicht kannte. Aber sie werde es leugnen. Sie werde alles abstreiten, werde noch einmal zusammenbrechen. Der Mann hatte gedroht, ihrer sechzehnjährigen Tochter etwas anzutun. Etwas anzutun… er hatte das ganze schauerliche Programm im einzelnen dargelegt.

Millington, der Süßholz raspeln konnte, wenn ihm danach war, hatte sie mit so manchem schönen Versprechen (das er nicht unbedingt halten würde) überredet, mehrere Tage lang zu den Rennen zu kommen und dort, im Schutz verschiedener strategisch plazierter Sicherheitsbüros, aus dem Fenster zu sehen. Sie könne bequem im Verborgenen sitzen, unsichtbar, und er werde ihr ein paar Leute zeigen. Sie war nervös und erschien mit Perücke und dunkler Brille. Millington bewog sie, die Brille abzunehmen. Sie saß in einem geraden Lehnstuhl und drehte den Kopf, um über ihre Schulter auf mich zu blicken, denn ich stand schweigend hinter ihr.

«Stören Sie sich nicht an ihm«, sagte Millington.»Er gehört zur Firma.«

An Renntagen kam alle Welt an diesen Fenstern vorbei, und eben deshalb befanden sie sich dort. In drei langen Sitzungen während einer einzigen Woche auf drei verschiedenen Rennbahnen zeigte Millington ihr nahezu jeden bekannten Freund und Weggefährten Filmers, doch sie schüttelte bei allen den Kopf. Beim vierten Anlauf in der folgenden Woche schlenderte Filmer selbst vorbei, und ich dachte schon, wir würden einen neuerlichen hysterischen Anfall erleben. Nichts da; unser Zimmermädchen weinte zwar, schlotterte und wollte wiederholt versichert sein, er werde nie erfahren, daß sie ihn gesehen hatte, blieb aber auf dem Posten. Und kurz darauf erstaunte sie uns, indem sie auf eine Gruppe von Vorübergehenden wies, die wir noch nie mit Filmer in Verbindung gebracht hatten.

«Das ist er«, sagte sie keuchend.»O mein Gott… das ist er… den würde ich überall rauskennen.«

«Welchen?«sagte Millington eindringlich.

«Den in Blau… mit den gräulichen Haaren. O mein Gott…

daß er bloß nichts erfährt…«Ihre Stimme hob sich vor Panik.

Ich hörte noch, wie Millington wieder anfing, sie zu beruhigen, als ich schnell aus dem Büro ins Freie rannte und mich dort augenblicklich dem viel langsameren Tempo der Leute anpaßte, die für das nächste Rennen vom Führring zur Tribüne strebten. Der blaue Anzug mit dem silbernen Haarschopf darüber hatte es nicht eilig, er ließ sich vom Strom der Menge tragen. Ich folgte ihm heimlich für den Rest des Nachmittags, und nur einmal nahm er mit Filmer Kontakt auf, scheinbar ganz zufällig, wie unter Fremden.

Die Begegnung sah aus, als frage der blaue Anzug Filmer, wie spät es sei. Filmer blickte auf seine Armbanduhr und sagte etwas. Blauer Anzug nickte und ging weiter. Blauer Anzug war zwar Filmers Mann, sollte aber in der Öffentlichkeit nicht als solcher zu erkennen sein: das gleiche wie bei mir und Millington.

Ich folgte dem marineblauen Anzug von der Rennbahn in den Heimreiseverkehr und rief vom Auto aus Millington an.

«Er fährt einen Jaguar«, sagte ich,»Kennzeichen A 576 FDD. Er hat mit Filmer gesprochen. Es ist unser Mann.«

«Gut.«

«Wie geht’s der Dame?«fragte ich.

«Wem? Ach so. Der mußte ich Harrison bis nach Newmarket mitgeben. Sie war wieder halb ausgerastet. Haben Sie Ihren Mann noch im Visier?«

«Ja.«

«Ich rufe Sie zurück.«

Harrison war einer von Millingtons regulärer Truppe, ein Expolizist, dick, onkelhaft, kurz vor der Rente. Ich hatte noch nie mit ihm gesprochen, kannte ihn vom Sehen aber gut, wie alle anderen auch. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis ich mich daran gewöhnt hatte, zu einer Mannschaft zu gehören, die nicht wußte, daß ich da war; fast so, als wäre ich ein Geist.

Ich fiel nie auf. Ich war neunundzwanzig, einsdreiundachtzig groß, hatte braune Haare, braune Augen, war 76 Kilo schwer und, wie man sagt, ohne besondere Kennzeichen. Stets ging ich in der Menge der Rennbahnbesucher auf, schaute in mein Programm, wanderte umher, sah mir Pferde an, schaute den Rennen zu, schloß die eine oder andere Wette ab. Es war einfach, weil es immer von Leuten wimmelte, die genau das gleiche machten. Ich war ein Schaf, das mit der Herde zog. Ich änderte meine Kleidung und mein Erscheinungsbild von Tag zu Tag, schloß keine Bekanntschaften, und solch ein Leben war oft einsam, aber auch faszinierend.

Ich kannte sämtliche Jockeys und Trainer vom Sehen und sehr viele Besitzer, denn dazu brauchte man nur Augen und die Rennprogramme, aber ich wußte auch aus der Erinnerung viel über sie, da ich meine Kinder- und Jugendjahre weitgehend auf Rennplätzen zugebracht hatte, im Schlepptau einer rennbegeisterten älteren Tante, bei der ich aufgewachsen war. Durch ihre Kenntnisse und ihre Erzähllust war ich zu einer echten wandelnden Datenbank geworden; und mit achtzehn, nach ihrem Tod, war ich dann für sieben Jahre durch die Welt gereist. Als ich zurückkam, sah ich dem unreifen Jugendlichen, der ich gewesen war, nicht mehr ähnlich, und die Augen der Leute, die mich als Kind flüchtig gekannt hatten, glitten ahnungslos über mich hinweg.

Ich kehrte schließlich nach England zurück, weil ich mit fünfundzwanzig das Verfügungsrecht über die Erbschaft meiner Tante wie auch meines Vaters erhielt und meine Treuhänder Anweisungen haben wollten. Ich hatte mich hin und wieder bei ihnen gemeldet, und sie hatten des öfteren Geld an weitentfernte Stützpunkte geschickt, doch als ich das stille, von Büchern gesäumte Anwaltsbüro des Seniorchefs von Cornborough, Cross & George betrat, empfing der alte Clement Cornborough mich mit einem Stirnrunzeln und blieb hinter seinem Schreibtisch sitzen.

«Sie sind doch nicht… ehm…?«Suchend blickte er mir über die Schulter, ob der von ihm Erwartete noch kam.

«Doch… ich bin’s. Tor Kelsey.«

«Guter Gott. «Er erhob sich langsam, beugte sich vor und streckte die Hand aus.»Sie haben sich aber verändert. Sie… ehm.«

«Größer, schwerer und älter«, sagte ich nickend. Auch sonnengebräunt damals, von einem Aufenthalt in Mexiko.

«Ich hatte… ehm… ein Mittagessen vorgesehen«, meinte er unsicher.

«Das wär ausgezeichnet«, sagte ich.

Er ging mit mir in ein stilles Restaurant, voll von anderen Rechtsanwälten, die ihm ernst zunickten. Beim Rinderbraten teilte er mir mit, ich würde niemals für meinen Lebensunterhalt arbeiten müssen (das wußte ich schon) und erkundigte sich im gleichen Atemzug, was ich mit meinem Leben anfangen wolle, eine Frage, die ich nicht beantworten konnte. Daß ich sieben Jahre hindurch leben gelernt hatte, war etwas anderes, aber ich besaß keinerlei formale Ausbildung. In Büros bekam ich Platzangst, und studiert hatte ich auch nicht. Ich kannte mich mit Maschinen aus und war flink mit den Händen. Ich hatte keinen überwältigenden Ehrgeiz. Ich war kein Unternehmer wie mein Vater, würde aber auch das Vermögen, das er mir hinterlassen hatte, nicht durchbringen.

«Was haben Sie denn so gemacht?«sagte der alte Cornborough, tapfer plaudernd.»Sie haben bestimmt ein paar interessante Gegenden gesehen, was?«

Reiseerzählungen waren ziemlich langweilig, fand ich. Das Erlebnis selbst war in jedem Fall besser.»Meistens habe ich mit Pferden gearbeitet«, sagte ich höflich.»Australien, Südamerika, in den Staaten, überall. Rennpferde, Poloponys, ziemlich viel in

Rodeos. Einmal in einem Zirkus.«

«Gütiger Himmel.«

«Es ist aber nicht mehr so einfach heute, seine Überfahrt abzuarbeiten, und es wird immer schwieriger. Zu viele Länder verbieten es. Ich werde es auch nicht mehr machen. War lange genug. Ich bin da rausgewachsen.«

«Und was jetzt?«

«Weiß nicht. «Ich zuckte die Achseln.»Mich umsehen. Ich werde mich nicht bei der Familie meiner Mutter melden, sagen Sie ihnen also nicht, daß ich hier bin.«

«Wie Sie wünschen.«

Meine Mutter stammte aus einer verarmten Jagdreiterfamilie, die schockiert war, als sie mit zwanzig einen sechsundfünfzig Jahre alten Hünen aus Yorkshire heiratete, der über ein Gebrauchtwagenimperium gebot und mit niemandem aus dem Adelskalender verwandt war. Sie hatten behauptet, es sei nur dazu gekommen, weil er ihr dauernd Pferde schenkte, doch für mich klang es immer, als habe sie sich wirklich zu ihm hingezogen gefühlt. Er jedenfalls war in sie vernarrt, wie seine Schwester, meine Tante, mir oft sagte, und hatte im Leben keinen Sinn mehr gesehen, nachdem sie, als ich zwei war, bei einem Jagdunfall den Tod gefunden hatte. Er lebte noch drei Jahre und starb an Krebs, und da die Familie meiner Mutter mich nicht haben wollte, hatte meine Tante Viv Kelsey mich unter ihre Fittiche genommen und mir mein junges Leben versüßt.

Für die unverheiratete Tante Viv war ich das langersehnte Kind, das sie nicht hatte bekommen können. Sie mußte sechzig gewesen sein, als sie mich aufnahm, doch war sie mir nie alt vorgekommen. Im Innern war sie immer jung, und ich vermißte sie entsetzlich, als sie starb.

Millingtons Stimme sagte:»Der Wagen, den Sie verfolgen… folgen Sie ihm noch?«

«In Sichtweite.«

«Er ist auf einen Derry Welfram registriert. Schon mal gehört von ihm?«

«Nein.«

Millington hatte noch Verbindungen zur Polizei und schien mühelos an nützliche Informationen aus ihrem Computer heranzukommen.

«Sein angegebener Wohnsitz ist Parkway Mansions, Maida Vale, London«, sagte er.»Falls Sie ihn verlieren, schauen Sie dort nach.«

«Gut.«

Derry Welfram fuhr entgegenkommenderweise direkt nach Parkway Mansions, und andere Spürnasen von Millington identifizierten ihn später einwandfrei. Millington legte den beiden Zeugen mit dem unzuverlässigen Gedächtnis Welframs Foto vor und schilderte mir hinterher das Resultat:»Die haben sich beide vor Angst in die Hosen gemacht und gestammelt, sie hätten den Mann noch nie gesehen, nie-niemals. «Aber sie waren alle beide so wirkungsvoll eingeschüchtert worden, daß Millington überhaupt nichts aus ihnen herausbrachte.

Millington trug mir auf, Derry Welfram zu folgen, wenn ich ihn wieder bei den Rennen sah, um festzustellen, mit wem er sonst noch sprach, und an dem Tag, als der marineblaue Anzug auf seine Knöpfe fiel, hatte ich das gerade etwa einen Monat lang getan. Welfram hatte bis dahin mit etwa zehn Leuten eindringlich geredet und sich dabei als Unglücksbote erwiesen, der überall, wo er seine schlechten Neuigkeiten anbrachte, rief er Schrecken, Zittern, leere Blicke hervor. Und da ich eine raffinierte, in ein Fernglas eingebaute Kamera besaß (neben einer, die wie ein Feuerzeug aussah), hatten wir brauchbare Porträts von den meisten der erschütterten Kontaktpersonen Welframs, wenn auch bis jetzt erst die Hälfte davon identifiziert war. Millingtons Leute arbeiteten daran.

Millington war zu dem Schluß gekommen, daß Welfram ein Angstmacher war, der Schulden eintrieb: ein Knochenbrecher zum Mieten, nicht allein Filmers Mann. Ich hatte ihn nach dem ersten Mal nur einmal noch mit Filmer sprechen sehen, was nicht hieß, daß er es nicht öfter getan hatte. Gewöhnlich fanden jeden Tag auf mindestens drei verschiedenen Bahnen in England Rennveranstaltungen statt, und manchmal war es völlig offen, wohin unser Wild gehen würde. Außerdem besuchte Filmer die Rennen seltener als Welfram, höchstens zwei-, dreimal die Woche. Filmer besaß Anteile an zahlreichen Pferden und ging für gewöhnlich dorthin, wo sie starteten; und ich schaute jeden Morgen in der Rennpresse nach ihrem Bestimmungsort.

Das Problem bei Filmer war nicht, was er machte, sondern ihn dabei zu erwischen. Auf den ersten, zweiten, dritten Blick tat er nichts Unrechtes. Er kaufte Rennpferde, ließ sie trainieren, sah sich ihre Rennen an, genoß all die Freuden eines Besitzers. Erst nach und nach in den zehn Jahren, seit Filmer auf der Bildfläche erschienen war, hatte es hochgezogene Brauen gegeben, ungläubiges Stirnrunzeln, verwundert geschürzte Lippen.

Filmer kaufte hin und wieder Pferde auf Auktionen, über einen Agenten oder Trainer, erstand sie meistens aber aus privater Hand, ein völlig korrektes Verfahren. Jeder Besitzer hatte jederzeit die Möglichkeit, seine Pferde an jemand anders zu verkaufen. Das Erstaunliche an einigen Erwerbungen Filmers war, daß niemand erwartet hätte, der frühere Besitzer würde das Pferd überhaupt verkaufen.

Millington hatte mich während meiner ersten Woche beim Sicherheitsdienst schon über ihn informiert, jedoch nur als jemand, auf den man allgemein achten sollte, nicht als vordringlichen Fall.

«Er setzt Leute unter Druck«, sagte Millington.»Da sind wir uns sicher, aber wir wissen nicht wie. Er ist viel zu gerissen, um was vor unserer Nase zu machen. Glauben Sie nur nicht, daß Sie ihn erwischen, wie er bündelweise Geld für Informationen verteilt oder irgend so etwas Plumpes. Halten Sie nach Leuten Ausschau, die nervös sind, wenn er in der Nähe ist, okay?«

«In Ordnung.«

Von denen hatte ich einige ausgemacht. Die beiden Trainer, die seine Pferde betreuten, nahmen sich vor ihm in acht, und die meisten Jockeys, die sie ritten, gaben ihm die Hand nur mit den Fingerspitzen. Die Presse, die wußte, daß er keine Fragen beantwortete, nahm sich kaum die Mühe, ihm welche zu stellen. Eine ehrerbietige, dekorative Freundin tanzte nach seiner Pfeife, und der männliche Begleiter, der häufig mit dabei war, parierte ebenfalls. Dennoch war an seinem allgemeinen Verhalten bei den Rennen nichts Rüdes. Er lächelte zur gegebenen Zeit, gratulierte anderen Besitzern nickend auf dem Absattelplatz für den Sieger und tätschelte seine Pferde, wenn sie ihn zufriedenstellten.

Er war achtundvierzig, massig, knapp ein Meter achtzig groß. Millington sagte, die Masse bestehe vorwiegend aus Muskeln, da Filmer dreimal die Woche in ein Fitneßcenter rackern gehe. Über den Muskeln befand sich ein wohlgeformter Kopf mit großen anliegenden Ohren und vollem schwarzem, graumeliertem Haar. Ich war nicht nah genug an ihn herangekommen, um die Farbe seiner Augen zu sehen, doch laut Millington waren sie grünlichbraun.

Es ärgerte Millington ziemlich, daß ich mich weigerte, Filmer groß zu beschatten. Zum einen aber hätte der mich irgendwann sicher bemerkt, und zum anderen erübrigte es sich. Filmer war ein Gewohnheitstier, sein Weg führte in vorhersehbaren Abständen vom Auto zum Lunch, zum Buchmacher, zur Tribüne, zu den Pferden. Auf jeder Bahn hatte er einen Lieblingsplatz, von wo er den Rennen zuschaute, einen Lieblingsaussichtspunkt mit Blick auf den Führring und eine Lieblingsbar, wo er meistens Lager trank und der Freundin Wodka aufdrängte. Er hatte auf zwei Rennbahnen eine Loge gemietet und stand auf mehreren anderen auf der Warteliste, wobei es ihm eher um Ungestörtheit zu gehen schien als um die großzügige Bewirtung von Freunden.

Geboren war er auf der Insel Man, dieser felsigen, den Blicken Englands entzogenen Steueroase in der stürmischen Irischen See, und aufgewachsen in einem Hort von Millionären, die hier Zuflucht vor den schwindelerregend hohen Steuern des Festlands suchten. Sein Vater war als schlauer Fuchs bewundert worden, der es verstand, den Geflohenen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der junge Julius Apollo Filmer (sein richtiger Name) hatte gut gelernt und den Vater mit seinen Fischzügen noch übertroffen, bis er zu ferneren Ufern aufgebrochen war; und an dem Punkt hatten sie, wie Millington düster sagte, seine Spur verloren. Etwa sechzehn Jahre später tauchte Filmer dann auf Rennbahnen auf, gab als Beruf» Direktor «an und schwieg sich über die Herkunft seines stattlichen Einkommens aus.

Im Vorfeld des Komplottprozesses hatte die Polizei sich nach Kräften bemüht, Näheres über seine Verhältnisse ans Licht zu fördern, doch Julius Apollo wußte, wozu Firmen mit Auslandssitz gut waren, und hatte sie im Nebel stehenlassen. Offiziell lebte er noch immer auf der Insel Man, obgleich er nie lange dort war. Während der Flachsaison teilte er seine Zeit zwischen Hotels in Newmarket und Paris auf, und im Winter verschwand er, soweit es den Sicherheitsdienst betraf, ganz aus dem Blickfeld. Hindernisrennen, der Wintersport, lockten ihn nicht.

Während meines ersten Sommers beim Sicherheitsdienst hatte er zu jedermanns Überraschung einen der vielversprechendsten Zweijährigen im Land gekauft. Überraschung deshalb, weil der vorherige Besitzer, Ezra Gideon, einer der geborenen Aristokraten des Rennsports war, ein hochgeachteter und ungemein reicher älterer Mann, der für seine Pferde lebte und sich an ihren Erfolgen freute. Niemand hatte ihn dazu bewegen können zu sagen, weshalb er sich von seinem besten Tier getrennt hatte oder zu welchem Preis: Er ertrug den Höhenflug des Pferdes im darauffolgenden Herbst, seine glänzende Dreijährigen-Saison und schließlich seine Multi-Millionen-Pfund-Syndikatisierung für die Zucht mit gleichbleibend steinerner Miene.

Nach Filmers Freispruch hatte Ezra Gideon ihm erneut einen sehr aussichtsreichen Zweijährigen verkauft. Die hohen Herren des Jockey Club flehten Gideon praktisch auf Knien an, ihnen den Grund zu nennen. Er sagte lediglich, es sei eine private Vereinbarung — und seitdem hatte man ihn auf keiner Rennbahn mehr gesehen.

An dem Tag, als Derry Welfram starb, fuhr ich heim nach London und fragte mich einmal mehr und wie so viele Leute schon so oft, welches Druckmittel Filmer gegen Gideon eingesetzt haben mochte. Erpresser waren weitgehend arbeitslos geworden, seit Ehebruch und Homosexualität durch alle Medien geisterten, und man konnte sich den altmodischen, aufrechten Ezra Gideon nicht als Missetäter einer neu in Mode gekommenen Spielart, etwa als Insider-Händler oder Kinderschänder vorstellen. Und doch hätte er Filmer ohne überaus zwingenden Grund niemals zwei solche Pferde verkauft und sich um das größte Vergnügen seines Lebens gebracht.

Armer alter Mann, dachte ich. Derry Welfram oder jemand ähnliches hatte ihm zugesetzt, so wie den Zeugen, wie dem toten Paul Shacklebury in seinem Graben. Armer alter Mann — zu viel Angst vor den Folgen, um sich helfen zu lassen.

Bevor ich zu Hause ankam, summte noch einmal das Telefon in meinem Wagen, und ich ergriff den Hörer und hörte Millingtons Stimme.

«Der Chef möchte Sie sehen«, sagte er.»Heute abend um acht, an gewohnter Stelle. Irgendwelche Einwände?«

«Nein«, sagte ich.»Ich werde dort sein. Wissen Sie… ehm… warum?«

«Ich nehme an«, sagte Millington,»weil Ezra Gideon sich erschossen hat.«

Загрузка...