Kapitel 11

Leslie Brown erklärte uns entschieden, daß auf keinen Fall jemand am Futter oder am Wasser herumgepfuscht haben könne.

«Wann haben die Pfleger zuletzt die Eimer gefüllt?«fragte ich.

Im Laufe des Vormittags, sagte sie. Jeder Pfleger füllte den Eimer für sein Pferd, wann er wollte. Alle waren hiergewesen und hatten ihre Schützlinge versorgt.

Der Trinkwassertank für die Pferde, sagte sie, sei während der ersten fünfundzwanzig Minuten unseres Halts in Thunder Bay per Schlauch mit Leitungswasser aufgefüllt worden, eine Prozedur, die sie selbst beaufsichtigt habe.

George nickte und sagte, der Wasservorrat des ganzen Zuges sei dort erneuert worden.

«Vor Thunder Bay«, sagte ich,»hätte da jemand was ins Wasser tun können?«

«Natürlich nicht. Ich habe Ihnen doch schon hundertmal gesagt, daß ich die ganze Zeit hier bin.«

«Und wie vertrauenswürdig schätzen Sie die einzelnen Pfleger ein?«

Sie öffnete den Mund, schloß ihn wieder und blickte mich scharf an.

«Ich bin hier, um sie zu beaufsichtigen«, sagte sie.»Bis gestern habe ich keinen von ihnen gekannt. Ich weiß nicht, ob man da einen bestechen könnte, damit er das Wasser vergiftet. Meinen Sie das?«

«Es ist realistisch«, sagte ich lächelnd.

Sie war nicht zu besänftigen, durch nichts milder zu stimmen.

«Mein Stuhl«, sagte sie gedehnt,»steht, wie Sie sehen, neben dem Wassertank. Ich sitze hier und schaue. Ich glaube nicht… um es zu wiederholen, ich glaube nicht, daß sich irgend jemand am Wasser zu schaffen gemacht hat.«

«M-hm«, sagte ich beruhigend.»Aber Sie könnten doch die Pfleger mal fragen, ob sie vielleicht etwas Verdächtiges bemerkt haben.«

Sie wollte automatisch den Kopf schütteln, hielt dann aber inne und zuckte die Achseln.»Ich frage sie, aber die haben nichts gesehen.«

«Und vorsichtshalber«, sagte ich,»für den Fall, daß es zum Schlimmsten kommt und wir erkennen müssen, daß mit den Pferden etwas gedreht worden ist, möchte ich eine Probe vom Tankinhalt entnehmen und auch von dem, was jetzt in ihren Eimern ist. Dagegen haben Sie doch nichts einzuwenden, Miss Brown, oder?«

Widerwillig sagte sie, sie habe nichts dagegen. George erbot sich, loszugehen und geeignete Gefäße zu besorgen, und kehrte bald darauf mit einer Spende des chinesischen Kochs im Aussichtswagen zurück, nämlich vier dem Mülleimer entrissenen und ausgespülten Tomatensaucenflaschen aus Plastik.

George und Leslie Brown entnahmen eine Probe aus dem Tank, die sie auf einen guten Vorschlag des Drachen hin vom unteren Hahn zapften, aus dem auch die Eimer gefüllt wurden. Ich ging zu Voting Right, Laurentide Ice und Upper Gumtree, und alle erlaubten mir großzügig, ihren Trinkvorrat anzugreifen. Mit Leslie Browns Kuli schrieben wir die Herkunft jeder Probe auf das Saucenetikett und steckten alle vier Behälter in eine Plastiktragetasche, die Leslie Brown griffbereit hatte.

Als ich die Beute in der Hand hatte, dankte ich ihr, daß sie so freundlich gewesen war, unsere Fragen zu beantworten und uns zu helfen, und George und ich zogen ab.

«Was denken Sie?«sagte er, als wir den Rückweg durch den Zug antraten.

«Ich denke, sie ist sich jetzt nicht mehr ganz so sicher.«

Er lachte leise.»Von jetzt an wird sie doppelt vorsichtig sein.«

«Wenn es bloß nicht schon zu spät ist.«

Er schaute drein, als wäre das ein toller Witz.»Wir könnten den Tank in Winnipeg leeren, ihn ausschrubben und neu füllen lassen«, sagte er.

«Zu spät. Wenn da was drin ist, war es schon vor Thunder Bay drin, und dann haben die Pferde davon getrunken. Manche Pferde trinken sehr viel Wasser… aber sie sind ein bißchen pingelig. Sie rühren es nicht an, wenn sie den Geruch nicht mögen. Wenn beispielsweise Spuren von Seife drin sind, oder von Öl. Sie würden präpariertes Wasser nur trinken, wenn ihnen der Geruch zusagt.«

«Sie kennen sich ja gut aus«, bemerkte George.

«Ich habe die meiste Zeit meines Lebens auf die eine oder andere Art in der Nähe von Pferden verbracht.«

Wir erreichten sein Büro, und er sagte, er müsse vor dem nächsten 10-Minuten-Halt in Kenora noch Papierkram erledigen. Wir würden um zwanzig nach fünf dort sein, meinte er, also schon bald. Wir lägen dreißig Minuten hinter dem Canadian. An manchen Orten brauche der Rennexpreß eigentlich nicht zu halten, er tue es nur, um den Abstand zum Canadian zu wahren. Halten müßten wir immer dort, wo die Züge mit Wasser und Kraftstoff versorgt würden und der Müll abgeführt werde.

Nirgends auf unserem Weg zum Pferdewaggon und zurück hatte ich den Mann mit dem hageren Gesicht gesehen. George hatte mich auf jemanden im Dayniter hingewiesen, doch das war nicht der Richtige: grauhaarig zwar, aber zu krank, zu alt aussehend. Der Mann, den ich suchte, war um die Fünfzig, schätzte ich, vielleicht auch jünger und noch kräftig, noch nicht so abgebaut.

Irgendwie, dachte ich, hatte er mich an Derry Welfram erinnert. Weniger massig als der tote Angstmacher und nicht so elegant, aber derselbe Menschenschlag. Die Sorte, die sich Filmer naturgemäß herauszupicken schien.

Ich setzte mich für eine Stunde in mein Abteil, blickte hinaus auf die gleichbleibende Landschaft und versuchte mir vorzustellen, was es sonst noch sein könnte, wofür Filmer bezahlt hatte. Das Ganze lief verkehrt herum, dachte ich. Es war eher üblich, das Verbrechen zu kennen und nach dem Täter zu suchen, als den Verbrecher zu kennen und nach seinem Verbrechen zu suchen.

Die Flaschen mit den vier Wasserproben standen in der Plastiktüte auf dem Boden meines Abteils. Um etwas Schädliches in diesen Tank hineinzubekommen, hätte der Hagere zweifellos einen Pfleger bestechen müssen. Er selbst gehörte nicht zu den Pferdepflegern, obwohl er irgendwann, irgendwo vielleicht einmal einer gewesen war. Die Pfleger im Zug waren durchweg jünger, dünner und, soweit ich sie in ihrer T-Shirt-Stammestracht erlebt hatte, weniger selbstbewußt. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß einer von ihnen den Nerv gehabt hätte, Filmer gegenüberzutreten und sein Geld zu fordern.

Während des Kurzaufenthalts in dem kleinen Ort Kenora lehnte ich mich aus der offenen Einstiegstür hinter Georges Abteil und sah zu, wie er auf der Bahnhofsseite des Zuges draußen ein gutes Stück auf und ab ging, um nach dem Rechten zu sehen. Der Wagen der Lorrimores war offensichtlich noch fest angekuppelt. Vorn hinter der Lokomotive verluden zwei Gepäckarbeiter einen kleinen Stapel Kisten. Ich lehnte mich eine Weile aus der Tür auf der anderen Seite des Zuges, aber dort lief überhaupt niemand herum. George stieg wieder ein und schloß die Türen, und bald darauf fuhren wir unserem letzten Halt vor

Winnipeg entgegen.

Ich wünschte mir innigst die Gabe, in Filmers Kopf zu sehen. Wie gern hätte ich durchschaut, was er plante. Ich kam mir blind vor und sehnte mich nach dem zweiten Gesicht. Da es mir jedoch an solchen übermenschlichen Fähigkeiten mangelte, blieb wie üblich nur normales Beobachten und Geduld, und beides erschien mir unzureichend und lahm.

Ich ging zum Speisewagen durch und stellte fest, daß Zak an einigen Tischen bereits Schauspieler für die doppelt lange Cocktailstundenszene postiert hatte. Er und Nell einigten sich gerade darauf, daß die Darsteller nach der Szene wieder gehen sollten (alle außer Giles-der-Mörder), auch wenn sie ungern die ganze Zeit ausgeschlossen waren und sich darüber beklagten.

Emil, der Tischdecken auflegte, sagte, nur Wein sei im Fahrpreis inbegriffen, alle anderen Cocktails müßten bezahlt werden, und ich solle vielleicht mal nur Wein servieren; er, Oliver und Cathy würden den Rest übernehmen. Einverstanden, sagte ich, während ich Aschenbecher und Solitärvasen verteilte. Ich könne auch die Weingläser bringen, sagte Emil. Ein Glas für roten, eins für weißen Wein an jeden Platz.

Die Fahrgäste drifteten von ihren Abteilen und vom Aussichtswagen herein und fanden sich zu mittlerweile vorher sagbaren Gruppierungen. Obwohl Bambi Lorrimore und Daffodil Quentin meiner Ansicht nach zusammenpaßten wie Salz und Erdbeeren, saßen die beiden Frauen sich erneut gegenüber, gebunden durch die Anziehung zwischen ihren männlichen Begleitern. Als ich die Weingläser auf ihren Tisch stellte, erörterten Mercer und Filmer gerade die internationale Pferdezucht von der Wechselkurssituation her. Daffodil erzählte Bambi, es gebe ein süßes kleines Juweliergeschäft in Winnipeg.

Xanthe klammerte sich immer noch an Mrs. Young. Mr. Young wirkte außerordentlich gelangweilt.

Sheridan hatte Bekanntschaft mit dem Mörderdarsteller Giles geschlossen, ein etwas bizarres Zusammentreffen, das noch merkwürdige Folgen haben konnte.

Die Upper-Gumtree-Unwins und das Flokati-Ehepaar schienen durch gleiche Interessen verbunden zu sein; ob die spontane Freundschaft nach ihrem gemeinsamen Rennen welkte, würde man am Mittwoch abend sehen.

Die meisten anderen Passagiere kannte ich nur vage, mehr dem Gesicht als dem Namen nach. Ihre Namen hatte ich mir lediglich gemerkt, soweit sie Pferde im Pferdewaggon stehen hatten oder mit Filmer in Kontakt getreten waren, und das galt nur für ungefähr die Hälfte. Alle waren eigentlich angenehm, auch wenn einer der Männer fast alles zum Nachwärmen in die Küche zurückgehen ließ und eine Frau das vorzügliche Essen mit schnickenden Gabelbewegungen auf ihrem Teller hin und her stieß und streng bemerkte, den Frommen sollte schlichte Kost genügen. Was sie in der Rennsportrunde zu suchen hatte, fand ich nie heraus.

Zaks lange Szene begann mit eindrucksvollen Paukenschlägen, sobald alle im Speisewagen mit einem Drink versorgt waren.

Ein hochgewachsener Mann in der traditionellen scharlachroten Uniform der Royal Canadian Mounted Police stiefelte in den Speiseraum und sagte mit Schweigen gebietender Stimme, er habe uns etwas Wichtiges mitzuteilen. Er sei in Kenora zugestiegen, sagte er, weil man die Leiche eines mit dem Zug gereisten Pflegers namens Ricky unweit Thunder Bay neben den Eisenbahnschienen gefunden habe. Er habe sein Rennexpreß-T-Shirt getragen und einen Ausweis in der Tasche gehabt.

Die Fahrgäste schauten entsetzt drein. Die imposante Erscheinung des Mounties beherrschte den ganzen Raum, und er klang durchaus authentisch. Er habe gehört, sagte er, daß der Pfleger schon in Toronto einmal angegriffen worden sei, als er die Entführung eines Pferdes vereitelte, daß er aber trotzdem auf der Mitfahrt bestanden habe, nachdem er von einer Miss Richmond verbunden worden sei. Traf das zu?

Es treffe zu, sagte Nell ernst.

Bei den Besitzern der mitfahrenden Pferde setzte der Unglauben am schnellsten ein. Mercer Lorrimore genoß den Spaß. Wenn sie ermittelten, liefen Mounties heutzutage nicht in Paradeuniform herum.

«Aber wir sind in Manitoba«, hörte man Mercer in einer Gesprächspause sagen,»da liegen sie richtig. Wir haben die Grenze von Ontario eben überschritten. Das Territorium der Mounted Police fängt genau hier an.«

«Sie scheinen da ja gut Bescheid zu wissen«, sagte unser Mountie.

«Was wissen Sie denn über diesen toten Pfleger?«

«Nichts«, sagte Mercer vergnügt.

Ich blickte kurz zu Filmer. Sein Gesicht war hart, sein Nacken steif, seine Augen verengt, und sofort dachte ich an Paul Shacklebury, den toten Burschen im Straßengraben. Stallburschen in England… Pfleger in Kanada: der gleiche Job. Was hatte Paul Shacklebury über Filmer gewußt… die gleiche alte, unbeantwortbare Frage.

«Und warum wurde er umgebracht?«fragte der Mountie.»Was hat er gewußt?«

Ich riskierte einen Blick, schaute weg, Filmers Mund war ein schmaler Strich. Die Antwort auf die Frage mußte in diesem Moment in seinem straff gehaltenen Kopf sein, und für mich war sie so unerreichbar wie Alpha Centauri.

Zak äußerte die Ansicht, daß Ricky einen der Entführer erkannt hatte. Vielleicht, sagte er, waren die Entführer im Zug mitgekommen. Vielleicht waren sie unter den Rennbahnbesuchern, harrten auf eine neue Gelegenheit, ihre

Beute abzuschleppen.

Filmers Nackenmuskulatur entspannte sich allmählich, und ich begriff, daß er einen Augenblick geargwöhnt haben mußte, die Szene sei speziell auf ihn gemünzt. Vielleicht verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, auf die harmlosesten Bemerkungen so zu reagieren.

Mavis und Walter Bricknell verlangten, der Mountie solle dafür sorgen, daß ihrem kostbaren Pferd nichts passierte.

Der Mountie ging darüber hinweg. Er übernehme jetzt die Untersuchung des Todes von Angelica Standish, sagte er. Zwei Tote in Verbindung mit demselben Zug könnten kein Zufall sein. Welche Verbindung bestand zwischen Angelica und Ricky?

Zak sagte, er leite die Ermittlungen im Fall Angelica.

Jetzt nicht mehr, gab der Mountie zurück. Wir befänden uns in der Provinz Manitoba, nicht mehr in Ontario. Dies sei ausschließlich sein Bezirk.

Zaks geplante Untersuchungsszene zum Mord an Angelica war von der Realität des Lorrimore-Wagens in den Hintergrund gedrängt worden und dann dem langen Aufenthalt in Thunder Bay zum Opfer gefallen. Durch die Weitergabe der Befragung an den Mountie wurde die Lücke elegant überbrückt, und der Mountie erklärte uns, der Grund, weshalb Steve, Angelicas Manager und Liebhaber, sich nicht auf dem Bahnhof Toronto eingefunden habe, sei der, daß Steve ebenfalls tot sei; man habe ihn in seiner Wohnung durch mehrere gegen den Kopf geführte Schläge mit einem Holzhammer niedergemacht.

Das Publikum nahm die Kunde von noch weiterem Blutvergießen mit aufgerissenen Augen auf. Offenbar, fuhr der Mountie fort, habe Steve zum Zeitpunkt seiner Ermordung schlafend im Bett gelegen, und die Polizei von Ontario wolle Angelica als Tatverdächtige befragen.

«Aber sie ist doch tot!«rief Mavis Bricknell.

Nach einer Pause sagte Donna, sie und Angelica hätten sich zwischen Toronto und Sudbury an die zwei Stunden lang unterhalten, und sie sei überzeugt, daß Angelica Steve nicht ermordet haben könne, sie sei ohne ihn verloren gewesen.

Mag sein, sagte der Mountie, aber wenn sie so durcheinander war, wieso war sie dann überhaupt in den Zug gestiegen? Wollte sie nicht am Ende vor der Erkenntnis fliehen, daß sie ihren Liebhaber getötet hatte?

Giles-der-Mörder fragte ruhig, ob nach der Tötung Angelicas eine Mordwaffe gefunden worden sei.

Und, fragte Pierre, hätte Angelicas Mörder nicht blutüberströmt sein müssen? Der ganze Toilettenraum war doch vollgespritzt.

Zak und der Mountie wechselten Blicke. Der Mountie sagte widerwillig, man habe auf dem Streckenabschnitt, in dem Angelica erschlagen worden sei, eine zusammengerollte, blutige Plastikplane auf dem Bahnkörper gefunden, die vermutlich als Regenmantel gedient habe und jetzt auf Fingerspuren und die zugehörige Blutgruppe untersucht werde.

Donna fragte, ob nicht sowohl Steve wie Angelica mit einem Holzhammer ermordet worden sein könnten. Das bewiese dann doch Angelicas Unschuld, oder? Sie könne nicht glauben, daß jemand so Nettes wie Angelica in einen Versicherungsbetrug verwickelt gewesen sei.

Bitte? Was für ein Versicherungsbetrug?

Ich blickte unwillkürlich zu Daffodil, doch wenn sie mit den Wimpern gezuckt hatte, war es mir entgangen.

Donna sagte verwirrt, sie wisse nicht, was für ein Versicherungsbetrug. Angelica habe nur davon gesprochen, daß Steve in einen Versicherungsbetrug verwickelt sei und daß sie befürchte, er habe deswegen den Zug verpaßt. Donna hatte dem nicht weiter nachgehen wollen.

Sheridan Lorrimore sagte laut, Angelica sei ein Miststück gewesen, und grapschte mit einem Satz nach der Pistole, die aus dem Hüftholster des Mountie ragte. Der Mountie spürte den Ruck, fuhr herum und packte Sheridan beim Handgelenk. Es war eine geschickte Bewegung nach der Art John Millingtons an einem guten Tag, die blitzschnelle Reaktion verriet, mehr wie ein Sportler denn wie ein Schauspieler.

«Das ist meine Waffe, Sir«, sagte er, stieß Sheridans Handgelenk fünfzehn Zentimeter zur Seite und ließ es los.»Und alle mal herhören, sie ist nicht geladen.«

Es gab einhelliges Gelächter. Sheridan, allgemein unbeliebt, hatte sich durch sein rüdes Benehmen wieder einmal zum Narren gemacht und blickte wie vorauszusehen wütend drein. Seine Mutter, fiel mir auf, hatte sich abgewandt. Mercer schüttelte den Kopf.

Der Mountie sagte ungerührt, er werde die Nachforschungen über Angelicas und Rickys Tod energisch vorantreiben und könne vielleicht schon in Winnipeg Neues berichten. Er und Zak gingen zusammen fort, und Donna pilgerte eine Weile von Tisch zu Tisch: Die arme Angelica, sagte sie immer wieder, sei wirklich nett gewesen, keine Mörderin, und sie, Donna, rege sich über die Unterstellung fürchterlich auf. Sogar ein paar echte Tränen rang sie sich ab. Sie war zweifellos eine gute Schauspielerin.

«Was kümmert Sie’s?«fragte Sheridan sie barsch.»Sie haben sie doch gestern morgen erst kennengelernt, und vor dem Abendessen war sie tot.«

Donna sah ihn unsicher an. Er hatte sich angehört, als ob er Angelica wirklich für tot hielte.

«Ehm…«sagte sie,»manche Menschen kennt man vom ersten Moment an. «Sie ging sanft weiter und verschwand bald darauf mit traurig hängenden Schultern in dem Gang neben der Küche. Sheridan murmelte irgend etwas vor sich hin, was die

Leute, bei denen er saß, peinlich berührte.

Emil und sein Team, mich eingeschlossen, begannen sofort die Tische um die Passagiere herum fürs Abendessen zu decken und trugen alsbald warmen Ziegenkäse und Radieschensalat auf, danach kurzgebratenes Chateaubriand mit jungen Erbsen und Stiftkarotten und schließlich nahrhafte Orangensorbets, reich garniert mit flockiger Schlagsahne und Nüssen. Die meisten Fahrgäste hielten bis zum Ende durch und sahen nicht so aus, als wäre es eine Tortur.

Meine Andeutung beim Geschirrspülen nach der Schlacht, man könne irgendwie vielleicht etwas ins Essen gespritzt haben, was sich für alle jetzt gesundheitsschädlich auswirke, nahm Angus mit frostiger Belustigung auf. Absolut unmöglich, versicherte er mir. Ich hätte doch gewiß bemerkt, daß so gut wie alle Zutaten frisch in den Zug gekommen seien? Er koche sein Essen, er wärme kein vorgefertigtes Zeug auf.

Ich versicherte ihm wahrheitsgemäß, daß ich von seinem Können und von seiner Schnelligkeit beeindruckt war und seine Menüs fabelhaft fand.

«Euch Schauspielern«, sagte er, schon nachsichtiger,»fallen auch die unmöglichsten Sachen für eine Handlung ein.«

In Winnipeg, eintausendvierhundertunddreizehn Meilen Schienenstraße von Toronto, stieg alles aus.

Zwei große Pferdetransporter warteten auf die Pferde, die über Rampen aus- und eingeladen wurden. Die Pfleger und Leslie Brown führten die Tiere vom Zug zu den Lkws, brachten sie unter und strömten dann, mit Reisetaschen bewaffnet, in einen Bus, der den Transportern hinaus zur Rennbahn folgte.

Eine Reihe von Bussen wartete auf dem Bahnhofsvorplatz, um die Rennbahnbesucher zu verschiedenen außerhalb liegenden Motels zu bringen, und ein langer neuer Reisebus mit dunkel getönten Fenstern war für die Besitzer reserviert. Einige Besitzer wie die Lorrimores und Daffodil und Filmer hatten eigene

Transportmittel in Form von chauffeurgesteuerten Limousinen angefordert, und ihre Fahrer kamen zum Zug herüber, um ihnen das Gepäck abzunehmen.

Das Zugpersonal räumte, nachdem alle anderen fort waren, sämtliche beweglichen Sachen in sichere Schränke und stieg dann zu den Schauspielern in den letzten wartenden Bus. Der Mountie, sah ich mit Interesse, war unter uns, groß und imposant auch ohne die rote Uniform mit den Messingknöpfen, die in seiner Reisetasche steckte.

George kam zuletzt, einen Aktenkoffer mit Papieren in der Hand, und blickte über seine Schulter auf den Zug, als frage er sich, ob er etwas vergessen habe. Er nahm den Sitz neben mir, auf der anderen Seite des Gangs und sagte, die Wagen kämen für zwei Tage auf ein Nebengleis, die Lokomotive werde abgehängt und woanders eingesetzt und ein Wachmann werde Posten stehen. Auf dem Abstellgleis würden die Wagen unbeheizt und unbeleuchtet sein und erst übermorgen, eine Stunde vor unserer Abreise, wieder zum Leben erwachen. Daß von Küste zu Küste die gleiche Mannschaft im Einsatz bleiben könne, sagte er, verdankten wir nur den beiden Ruhepausen unterwegs.

Die Besitzer und ein Teil der Schauspieler stiegen im Westin Hotel ab, das, so hatte Nell beim Dinner allen mitgeteilt, über einen Tanzsaal, jeglichen Komfort und ein Hallenbad auf dem Dach verfügte. Für die Reisegruppe war ein Frühstücksraum reserviert, wo jeden Morgen der Krimi ein Stück weitergehen würde. Davon abgesehen, sagte sie, sei jeder sich selbst überlassen; es gebe gute Läden, gute Restaurants und guten Rennsport. Für den Transport zur Rennbahn und zurück sei gesorgt. Am Mittwoch, nach dem Jockey Club RennexpreßSonderrennen, würden wir alle wieder an Bord des Zuges gehen, und Cocktails und Dinner würden serviert, sobald wir aus dem Bahnhof hinausgerollt seien. Die Gesellschaft applaudierte gutgelaunt.

Ich hatte beschlossen, nicht in eines der von Besitzern, Schauspielern, Personal oder Rennbahnbesuchern belegten Hotels zu gehen, und fragte Nell, ob sie noch andere Möglichkeiten wisse. Ein bißchen viel verlangt, schien es.

«Wir haben fast überall Leute untergebracht«, meinte sie zweifelnd,»aber im Holiday Inn sind bloß ein paar Schauspieler… warum versuchen Sie’s nicht dort? Obwohl… genaugenommen gibt es ein Hotel, wo wir niemand angemeldet haben, und zwar das Sheraton. Aber das ist wie das Westin — teuer.«

«Macht nichts, ich finde schon was«, sagte ich, und als der Personalbus nach kurzer Fahrt anhielt und seine Passagiere ausspie, nahm ich meine Reisetasche, setzte mich ab, erfragte den Weg und ging schnurstracks dorthin, wo sonst niemand wohnte.

In meinem zugeknöpften grauen VIA-Regenmantel bot ich den Empfangsangestellten des Sheraton kein ungewohntes Bild; das einzige Problem, sagten sie, bestehe darin, daß sie belegt seien. Es sei schon spät. Die ganze Stadt sei ausgebucht.

«Ein Anbau?«schlug ich vor.

Zwei von ihnen schüttelten den Kopf und berieten sich leise. Sie hatten zwar kein Einzelzimmer mehr, sagten sie schließlich, aber noch eine soeben abbestellte Suite. An der sei ich wohl nicht interessiert?

«Doch«, sagte ich und gab ihnen bereitwillig meine American-Express-Karte. So hängte denn Tommy der Kellner sorgsam seine weiß gefütterte gelbe Weste auf, bestellte Wein beim Zimmerservice, schlief nach einer langen, wohltuenden Dusche geschlagene acht Stunden durch und träumte nicht von Filmer.

Am Morgen rief ich Mrs. Baudelaire an und lauschte erneut der beinah mädchenhaften Stimme in der Leitung.

«Nachrichten für den unsichtbaren Mann«, sagte sie vergnügt.

«Ehm. sind Sie noch unsichtbar?«

«Weitgehend schon, glaube ich.«

«Bill sagt, Val Catto wüßte gern, ob Sie für die Zielperson noch unsichtbar sind. Können Sie damit was anfangen?«

«Kann ich, und die Antwort ist ja.«

«Sie sind beide unruhig.«

«Und nicht sie allein«, sagte ich.»Richten Sie ihnen bitte aus, daß die Zielperson einen Verbündeten im Zug hat, der, glaube ich, mit den Rennbahnbesuchern reist. Ich habe ihn mal gesehen und will versuchen, ihn zu fotografieren.«

«Du meine Güte!«

«Fragen Sie sie bitte auch, ob bestimmte Zahlen, die ich Ihnen gleich durchgeben werde, im Leben der Zielperson irgendeine Bedeutung haben.«

«Wie spannend«, sagte sie.»Schießen Sie los.«

«Nun. drei Ziffern kenne ich nicht. Drei Fragezeichen also. Dann eins-fünf-eins.«

«Drei Fragezeichen, dann eins-fünf-eins. Richtig?«

«Richtig. Ich weiß, daß es nicht seine Autonummer ist, jedenfalls nicht die des Wagens, mit dem er meistens fährt, aber fragen Sie, ob es irgendwie auf seinen Geburtstag paßt oder zu seiner Telefonnummer oder was immer ihnen sonst einfällt. Ich möchte wissen, wie die ersten drei Stellen lauten.«

«Sofort im Anschluß an unser Gespräch rufe ich Bill an. Er hat mir ein paar Antworten auf Ihre Fragen von gestern abend gegeben.«

«Großartig.«

«Die Antworten sind, daß Mr. und Mrs. Young, denen Sparrowgrass gehört, häufige und gern gesehene Besucher in England sind und daß der Jockey Club sie zu vielen Rennveranstaltungen als Ehrengäste einlädt. Sie waren mit Ezra

Gideon befreundet. Val Catto weiß nicht, ob sie wissen, daß Ezra Gideon zwei Pferde an Mr. A. J. Filmer verkauft hat. Ergibt das einen Sinn?«

«Ja«, sagte ich.

«Freut mich, daß Sie wissen, wovon ich rede. Wie steht’s denn hiermit?«Sie machte eine Atempause.»Sheridan Lorrimore wurde letzten Mai von der Universität Cambridge verwiesen — relegiert —, und zwar wegen irgendeines vertuschten Skandals. Mercer Lorrimore war zu der Zeit drüben in England, blieb auch dort und ließ im Juli in Newmarket Pferde laufen, doch der Jockey Club fand ihn grimmiger als sonst und erfuhr, daß es mit seinem Sohn zu tun hatte, aber genauer äußerte er sich nicht dazu. Val Catto will sehen, was er aus Cambridge herausbekommt.«

«Das ist prima«, sagte ich.

«Sheridan Lorrimore!«Sie klang bestürzt.»Ich hoffe, da ist nichts dran.«

«Wappnen Sie sich«, meinte ich trocken.

«Ach herrje.«

«Wie gut kennen Sie ihn?«fragte ich.

«Gar nicht weiter. Aber es ist nicht gut, wenn eine unserer ersten Familien durch die Mühlen der Sensationspresse gedreht wird.«

Die Wendung gefiel mir, und ich mußte daran denken, daß sie einmal eine Zeitschrift herausgegeben hatte.

«So etwas würdigt das ganze Land herab«, fuhr sie fort.»Was immer es war, ich kann nur hoffen, daß es vertuscht bleibt.«

«Was immer es war?«

«Ja«, sagte sie bestimmt.»Seiner Familie wegen. Seiner Mutter wegen. Ich kenne Bambi Lorrimore. Sie ist eine stolze Frau. Sie hat es nicht verdient, von ihrem Sohn blamiert zu werden.«

Da war ich mir nicht so sicher; ich wußte nicht, inwieweit sie für sein Verhalten verantwortlich war. Aber vielleicht konnte sie auch wenig dafür. Vielleicht hatte niemand einen Sohn wie Sheridan verdient. Vielleicht wurden Menschen wie Sheridan einfach so geboren, gleichsam ohne Arme.

«Sind Sie noch da?«fragte Mrs. Baudelaire.

«Aber sicher.«

«Bill sagt, der Privatwagen der Lorrimores wurde Sonntag abend vom Zug abgehängt. Ist das wirklich wahr? Große Aufregung deswegen, nicht? Es kam in den Fernsehnachrichten, und heute morgen steht’s in allen Zeitungen. Bill meint, da hätte offenbar aus unbekannten Gründen ein Irrer zugeschlagen, aber er möchte wissen, ob Sie irgendwelche Informationen darüber besitzen, die er nicht hat.«

Ich erzählte ihr, was geschehen war: Wie Xanthe nichtsahnend beinah ins Leere gestürzt wäre.

«Sagen Sie Bill, die Zielperson hat während des Vorfalls selbst und während der Untersuchung gestern morgen in Thunder Bay entspannt und unbeteiligt dagesessen, und ich bin sicher, daß er die Abkopplung nicht geplant hat. Irgend etwas scheint er aber mit seinem Verbündeten im Zug geplant zu haben, und ich glaube, Bill sollte zusehen, daß die Pferde aus dem Zug jetzt auf der Rennbahn sehr sorgfältig bewacht werden.«

«Ich richte es ihm aus.«

«Sagen Sie ihm, es besteht eine geringe Möglichkeit, daß etwas ins Trinkwasser der mitfahrenden Pferde gemischt wurde, aber wenn das geschehen wäre, hätten die Pferde wohl gestern abend schon darunter zu leiden gehabt, und danach sah es nicht aus. Heute morgen kann ich sie nicht kontrollieren. Ich nehme an, wenn etwas mit ihnen ist, wird Bill es ziemlich bald erfahren. Jedenfalls habe ich vier Proben von dem Trinkwasser entnommen, die ich heute abend mit zur Rennbahn bringe.«

«Gütiger Himmel.«

«Sagen Sie Bill, ich lasse sie ihm irgendwie zukommen. Sie werden in einem Päckchen sein, auf dem sein Name steht.«

«Jetzt muß ich mir das doch aufschreiben. Bleiben Sie dran.«

Stille trat ein, während sie den Hörer hinlegte und ihre Notizen machte. Dann kam sie wieder an den Apparat und wiederholte wortgetreu alles, was ich ihr mitgeteilt und alles, worum ich gebeten hatte.

«Stimmt das so?«fragte sie zum Schluß.

«Vollkommen«, sagte ich begeistert.»Um welche Zeit ist es im allgemeinen günstig, Sie anzurufen? Ich möchte Sie nicht unnötig stören.«

«Rufen Sie jederzeit an. Ich bin hier. Schönen Tag noch. Bleiben Sie unsichtbar.«

Ich lachte, und sie war aus der Leitung verschwunden, bevor ich fragen konnte, wie es ihr ging.

Man hatte mir ein Freiexemplar einer Winnipegger Zeitung vor die Zimmertür gelegt. Ich hob sie auf und sah nach, was sie über den Zug brachten. Die Story füllte nicht gerade die ganze Titelseite aus, begann aber dort mit Fotos von Mercer und Bambi und ging innen weiter mit einer bezaubernden, voll ausgeleuchteten Studioaufnahme von Xanthe, die sie viel älter als — wie angegeben — fünfzehn erscheinen ließ.

Ich hegte den ironischen Verdacht, daß die zusätzliche Publicity, die der Große Transkontinentale Erlebnis- und Rennexpreß erhalten hatte, dem Unternehmen keineswegs schadete. Außer einem unbekannten Spinner drüben in der Wildnis Ontarios wurde niemandem Schuld zugeschrieben. Winnipeg war voll von Rennbahnbesuchern, die einen hübschen Beitrag zur Kommunalwirtschaft leisteten. Winnipeg nahm sie mit offenen Armen auf. Ausdrücklich wies die Zeitung darauf hin, daß das erste der beiden Meetings zur Feier des kanadischen Rennsports an diesem Abend, Startzeit Punkt 19 Uhr, abgehalten wurde und das zweite, einschließlich des Jockey

Club Race Train Stakes, morgen nachmittag um 13 Uhr 30 begann. Der Nachmittag sei, wie allgemein bekannt, zum Lokalfeiertag erklärt worden und bilde einen passenden Abschluß für das diesjährige Galopprennprogramm in Assiniboia Downs. (Die Traber, hieß es in Klammern, hielten das erste Meeting ihrer Wintersaison am kommenden Sonntag ab.)

Ich streifte den größten Teil des Tages in Winnipeg umher, sah zwar einmal ein Besitzerehepaar in einem Geschäft, das Eskimo-Schnitzereien anbot, lief aber keinem, der mich hätte kennen können, direkt über den Weg. Ich vergeudete wenig Zeit damit, herauszufinden, was Filmer machte oder wo er hinging, da ich schon bald festgestellt hatte, daß sich das Westin Hotel über dem Eingang eines unterirdischen Einkaufszentrums befand, welches sich wie ein Kaninchenbau in sämtliche Richtungen verzweigte. Um das Klima zu besiegen, war Shopping in Kanada weitgehend unter die Erde verlagert. Filmer konnte im Westin ein und aus gehen, ohne an die frische Luft zu müssen, und wahrscheinlich hatte er das getan.

Es gab Rennbahn-Expreß-Busse, sah ich, die von der Stadt in die Downs fuhren, also ließ ich mich gegen sechs von einem hinbringen, schlenderte auf dem Gelände herum und sann auf eine Möglichkeit, wie ich Bill Baudelaire die Wasserproben übergeben könnte, die jetzt einzeln verpackt in der nichtssagenden Plastiktüte steckten.

Es wurde mir leichtgemacht. Ein Mädchen etwa in Xanthes Alter hüpfte an meine Seite, als ich langsam vor der Tribüne daherging, und sagte:»Hallo! Ich bin Nancy. Wenn das für Clarrie Baudelaire ist, kann ich’s gern mit raufnehmen.«

«Wo ist sie denn?«fragte ich.

«Sie und ihr Vater essen da oben hinter einem Fenster im Vereinshaus. «Sie wies auf einen Abschnitt der Tribüne.»Er sagte, Sie wollten ihr was zur Erfrischung bringen, und bat mich, runterzulaufen und es zu holen. Ist das richtig?«

«Haargenau«, sagte ich anerkennend.

Sie war hübsch, sommersprossig, in einem leuchtend blauen Trainingsanzug mit einem weißen, goldbeschlagenen Gürtel. Ich gab ihr die Tragetasche, sah zu, wie ihre beschwingte Rückansicht in der Menge verschwand, und war mir immer sicherer, daß das, was sie da überbrachte, harmlos war. Bill Baudelaire würde nicht ruhig mit seiner Tochter zu Abend essen, wenn drüben in den Rennbahnställen das große Pferdeelend ausgebrochen wäre.

Das Vereinshaus, in dem man speisen und gleichzeitig den Rennen zuschauen konnte, nahm eine ganze Etage der Haupttribüne ein und war vollverglast, um im Inneren den Sommer zu bewahren. Ich beschloß nicht hinaufzugehen, weil Tommy es nicht getan hätte, und Tommy frei vom Dienst in Tommys Freizeitkleidung war das, was ich in diesem Augenblick unbedingt sein wollte. Ich legte ein paar tommygemäße Wetten an, aß vorzüglich in der Kellerbar und wanderte ausgiebig herum, das Programmheft in der Hand, das Fernglas um den Hals, ganz wie gewohnt.

Das Tageslicht ging fast unmerklich in Dunkelheit über, und Elektrizität übernahm die Aufgabe der Sonne reibungslos. Um sieben lief das erste Rennen dann bei Flutlicht, die Farben der Jockeys strahlten vor dem Hintergrund der Nacht.

Es waren viele halbvertraute Gesichter unter den Zuschauern — die Rennbahnenthusiasten aus dem Zug. Aber der einzige von ihnen, der mich interessierte, war entweder ungemein schwer zu fassen oder nicht da. Die mir bekannten Techniken zum Auffinden von Leuten nützten alle nichts: Der Mann mit dem hageren Gesicht, den grauen Haaren und dem pelzbesetzten Parka war unsichtbarer als ich selbst.

Dafür sah ich Nell.

In ihrem schlichten blauen Kostüm kam sie aus dem

Vereinshaus, begleitet von zwei Besitzern, die offenbar unten bei den Pferden sein wollten. Ich bummelte hinter den dreien her, beobachtete den Aufgalopp zum dritten Rennen und war nicht weit weg von ihnen, als sie direkt an die Rails gingen, um sich den Lauf aus allernächster Nähe anzusehen. Als es vorbei war, wandten sich die Besitzer der Tribüne zu, unterhielten sich angeregt über das Ergebnis, und ich baute mich so auf, daß Nell mich mit etwas Glück sehen würde, wobei ich kurz das Rennprogramm schwenkte.

Sie bemerkte das Programmheft, bemerkte mich mit geweiteten Augen, und bald darauf löste sie sich von den Besitzern, blieb stehen und wartete. Als ich ohne Hast bei ihr anlangte, grinste sie mich von der Seite an.

«Sind Sie nicht so ein Kellner aus dem Zug?«sagte sie.

«Na klar.«

«Haben Sie was zum Schlafen gefunden?«

«Ja, danke. Wie ist das Westin?«

Sie wohnte bei den Besitzern; ihr Hirte, ihr Wegbereiter, ihr Informationsstand.

«Das Hotel ist schon gut — aber irgend jemand sollte diesem reichen… diesem arroganten… diesem unausstehlichen Sheridan den Hals umdrehen. «Empörung bebte in ihrer Stimme, als sie plötzlich ein offenkundig aufgestautes und zurückgedrängtes Gefühl herausließ.»Er ist unerträglich. Er verdirbt anderen den Spaß. Sie haben alle ein Vermögen bezahlt, um dabeizusein, und sie dürfen verlangen, daß man sie in Frieden läßt.«

«Ist was passiert?«fragte ich.

«Ja, beim Frühstück. «Die Erinnerung mißfiel ihr.»Zak legte die nächste Krimiszene ein, und Sheridan hat ihn dreimal niedergebrüllt. Ich bin rüber zu Sheridan, um ihn zu bitten, er solle still sein, da packt er mich am Handgelenk und versucht mich auf seinen Schoß zu ziehen, und ich verliere das Gleichgewicht und schlage schwer auf dem Tisch auf, an dem er sitzt, und irgendwie bleib ich dabei am Tischtuch hängen und reiße es mit, und alles, was draufliegt, landet auf dem Boden. Sie können sich den Zirkus vorstellen. Ich lag auf den Knien, und alles war voll Orangensaft und Essen, voll Scherben und Kaffee, und Sheridan meinte laut, ja was wäre ich denn auch so ungeschickt.«

«Und ich kann mir vorstellen«, sagte ich, da ich jetzt eher Resignation als Empörung in ihrem Gesicht sah,»daß Bambi Lorrimore keine Notiz davon genommen hat, daß Mercer herbeigeeilt kam, um Ihnen aufzuhelfen und um Entschuldigung zu bitten, und daß Mrs. Young gefragt hat, ob Sie sich weh getan haben.«

Sie schaute mich verblüfft an.»Sie waren dort!«

«Nein. Es ist bloß typisch.«

«Nun… genau das ist passiert. Ein Kellner kam, um die Schweinerei wegzumachen, und während er dakniete, sagte Sheridan laut, der Kellner hätte höhnisch über ihn gegrinst und er würde ihn rausschmeißen lassen. «Sie hielt inne.»Und wahrscheinlich können Sie mir wieder sagen, was als nächstes passiert ist?«

Sie wollte nur hänseln, aber ich antwortete:»Vermutlich hat Mercer dem Kellner versichert, daß er nicht rausfliegt, und ihn beiseitegenommen und ihm zwanzig Dollar in die Hand gedrückt.«

Ihr Mund klappte auf.»Sie waren doch da.«

Ich schüttelte den Kopf.»Er gab mir zwanzig Dollar, als Sheridan mich neulich abends angepöbelt hat.«

«Aber das ist doch furchtbar.«

«Mercer ist ein netter Mensch, der in einem ewigen Dilemma steckt. Bambi hat sich dagegen verschlossen. Xanthe sucht anderswo Trost.«

Nell dachte darüber nach und brachte eine Ansicht zum Ausdruck, die so ziemlich der meinen entsprach.

«Eines Tages wird Ekel Sheridan was machen, was sein Vater nicht bezahlen kann.«

«Er ist ein sehr reicher Mann«, sagte ich.

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