Kapitel 2

Der Chef, Brigadier Valentine Catto, Sicherheitsdirektor des Jockey Club, war klein, mager und ein Kommandeur vom gelichteten blonden Scheitel bis zu den polierten Schuhspitzen. Er verfügte über all das Organisationstalent, das man brauchte, um in der Armee aufzusteigen, er war intelligent, ruhig und hörte einem aufmerksam zu.

Ich lernte ihn kennen, als der alte Clement Cornborough mich irgendwann erneut zum Lunch einlud, um, wie er sagte, eingehend die Auflösung der Treuhandschaft zu besprechen, die er vor zwanzig Jahren für mich übernommen hatte. Eine kleine Feier, sagte er. In seinem Club.

Sein Club war, wie sich zeigte, der Hobbs Sandwich Club nahe dem als Kennington-Oval bekannten Kricketplatz, ein viktorianisches Schlößchen mit üppiger dunkler Bar und üppigen dunklen Clubräumen; die eichengetäfelten Wände schmückten zahllose Porträts von Herren mit kleinen Kricketmützen, weiten Flanellhosen und (ziemlich oft) Backenbärten.

Hobbs Sandwich, sagte er, als er durch die Buntglastür voranging, war nach zwei großen Kricketspielern aus Surrey, aus den Zwischenkriegsjahren benannt — Sir Jack Hobbs, einer der wenigen jemals geadelten Kricketspieler, und Andrew Sandham, der einhundertsiebenmal 100 Läufe im Spitzenkricket geschafft hatte. Lange bevor ich geboren war, sagte er.

Ich hatte seit der fernen Schulzeit kein Kricket gespielt und es auch damals nicht sonderlich gemocht: Clement Cornborough erwies sich als lebenslanger Fan.

In der Bar stellte er mich einem ebenso fanatischen Anhänger vor, seinem Freund Val Catto, der dann mit uns zusammen aß.

Über mein Treuhandvermögen fiel kein Wort. Die beiden redeten fünfzehn Minuten lang ausschließlich über Kricket, dann begann der Freund Catto mich über mein Leben zu befragen. Unbehaglich dämmerte mir nach einiger Zeit, daß ich verhört wurde, auch wenn ich nicht wußte, wozu. Hinterher erfuhr ich, daß Catto eines Tages, in der Teepause während eines Kricketspiels, Cornborough geklagt hatte, was er wirklich brauche, sei jemand, der die Rennsportszene genau kenne, den aber umgekehrt die Szene nicht kenne. Einen Mann, der Augen und Ohren offenhalte. Einen stillen, unbekannten Ermittler. Eine Fliege an der Wand des Rennsports, die keiner bemerke. So jemand, hatten sie gemeinsam geseufzt, sei wohl kaum zu finden. Und ein paar Wochen später, als ich in Cornboroughs Büro trat (zumindest aber, als ich es verließ), war dem Anwalt ein Geistesblitz gekommen, von dem er seinem Freund Val erzählte.

Das Essen im Hobbs Sandwich (bestehend aus allem anderen als Sandwiches) hatte bis weit in den Nachmittag hinein gedauert, und als es vorüber war, hatte ich einen Job. Groß dazu überredet werden mußte ich nicht, da er mir von Anfang an interessant erschien. Ein Monat Probezeit für beide Seiten, sagte Brigadier Catto und nannte ein Gehalt, bei dem Cornborough breit lächelte.

«Was ist denn daran so komisch?«fragte der Brigadier.»Es ist normal. Das zahlen wir den meisten unserer Leute am Anfang.«

«Ich vergaß es zu sagen. Tor ist. ehm. «Er zögerte, vielleicht weil er sich fragte, ob die Beendigung des Satzes unter Verletzung der Schweigepflicht fiel, denn nach einer Weile fuhr er fort:»Am besten sagt er’s Ihnen selbst.«

«Ich akzeptiere das Gehalt«, sagte ich.

«Was haben Sie mir verschwiegen?«fragte Catto, plötzlich ganz der Chef, mit nicht direkt argwöhnischem, aber ernstem Augenausdruck: und ich begriff, daß ich mich nicht einem etwas kauzigen, freundlichen Kricketnarren verdingte, sondern dem zielbewußten, energischen Mann, der eine Brigade befehligt hatte und jetzt den Rennsport sauberhielt. Was ich tun sollte, war kein Spiel, gab er mir zu verstehen, und wenn ich es dafür hielt, erübrigte sich alles Weitere.

Ich sagte trocken:»Ich habe ein Privateinkommen, das nach Steuerabzug rund zwanzigmal so hoch ist wie das von Ihnen angebotene Gehalt, aber ich nehme Ihr Geld trotzdem, Sir, und ich werde dafür arbeiten.«

Er hörte das Engagement, das zugrundeliegende Versprechen heraus, und nach einer langen Pause lächelte er kurz und nickte.

«In Ordnung«, sagte er.»Wann können Sie anfangen?«

Ich hatte am nächsten Tag bei den Rennen in Epsom angefangen, hatte mir die Typen neu eingeprägt, schlafende Erinnerungen aufgeweckt, Tante Vivs muntere Stimme fast so deutlich im Kopf gehört, als ob sie noch lebte.»Da ist Paddy Fredericks. Hab ich dir erzählt, daß er mal mit Betsy verheiratet war, die jetzt Mrs. Glovebinder ist? Brad Glovebinder hatte Pferde bei Paddy Fredericks, aber als er Betsy stibitzte, hat er seine Pferde auch mitgenommen. Unrecht regiert die Welt. Tag, Paddy, wie geht’s? Dies ist mein Neffe Torquil, aber das wissen Sie wohl, Sie sind ihm ja schon öfter begegnet. Glückwunsch zu Ihrem Sieg, Paddy…«, und Paddy war etwas mit uns trinken gegangen und hatte mir eine Cola spendiert.

Ich traf an jenem ersten Tag in Epsom unverhofft mit dem Trainer Paddy Fredericks zusammen, und er hatte mich nicht erkannt. Da war kein Zögern oder Stutzen. Tante Viv war schon fast acht Jahre tot, und ich hatte mich zu sehr verändert; und von diesem frühen Zeitpunkt an war ich beruhigt, daß meine sonderbare neue Nicht-Identität funktionieren würde.

Da Rennsportschurken es sich zur Aufgabe machten, den gesamten Sicherheitsdienst vom Sehen her zu kennen, sagte Brigadier Catto, wenn er mich jemals persönlich sprechen wolle, werde das nicht auf der Rennbahn sein, sondern stets in der Bar des Hobbs Sandwich, und so war es in den letzten drei Jahren auch gewesen. Er und Clement Cornborough hatten sich dafür eingesetzt, daß ich Vollmitglied des Clubs wurde, und mich ermuntert, hin und wieder allein hinzugehen, und obwohl mir die Geheimnistuerei des Brigadiers ein wenig überspannt vorkam, hatte ich mich seinen Wünschen nicht nur gefügt, sondern sogar Gefallen daran gefunden, auch wenn ich dabei viel mehr über Kricket erfuhr, als ich eigentlich wollte.

Am Abend von Derry Welframs Tod trat ich um zehn vor acht in die Bar und bestellte ein Glas Burgunder und zwei Bratensandwiches; sie kamen sofort, weil jetzt in der Nachkricketsaison hundert Getreue weniger zur Stelle waren, die lauthals über Beinbrüche und Vereinspolitik palaverten. Es gab zwar noch eine ganze Reihe Gäste, aber von Ende September bis Mitte April konnte man den Abend über reden, ohne am nächsten Tag heiser zu sein, und als der Brigadier erschien, begrüßte er mich hörbar und vergnügt als alten Clubgefährten und begann mir auseinanderzusetzen, was er von dem soeben für die Wintertournee aufgestellten Länderspielteam hielt.

«Die haben Withers nicht reingeholt«, meckerte er.»Wie wollen sie jemals Balping aus der Mannschaft kriegen, wenn sie unseren besten Werfer daheim vertrocknen lassen?«

Ich hatte nicht die leiseste Ahnung, und er wußte es. Mit einem winzigen Lächeln bestellte er einen doppelten Scotch, verdünnt mit einem großen Glas Wasser, und führte mich zu einem der kleinen Tische weiter hinten im Raum, wobei er immer noch über das Warum und Weshalb der Mannschaftsaufstellung plauderte.

«Also«, sagte er, ohne Tempo oder Lautstärke zu ändern.

«Welfram ist tot, Shacklebury ist tot, Gideon ist tot, und das Problem ist, was tun wir jetzt?«

Die Frage konnte nur rhetorisch sein. Er rief mich nie ins Hobbs Sandwich, um sich beraten zu lassen, sondern stets, um mich zu neuen Maßnahmen anzuleiten, obgleich er zuhörte und seine Pläne änderte, wenn ich schwerwiegende Einwände vorbrachte, was nicht oft geschah. Er wartete aber einen Moment, als wünsche er eine Antwort, und trank bedächtig einen Schluck dünnen Whisky.

«Hat Mr. Gideon irgendeine Nachricht hinterlassen?«fragte ich schließlich.

«Unseres Wissens nicht. Keine nützliche Erklärung, der wir entnehmen könnten, warum er Filmer die Pferde verkauft hat, falls Sie das meinen. Es sei denn, sie kommt nächste Woche mit der Post, aber das bezweifle ich stark.«

Gideon hatte das Weiterleben mehr gefürchtet als den Tod, dachte ich. Die Drohung mußte den Lebenden gegolten haben: eine anhaltende, ständige Bedrohung.

«Mr. Gideon hat Töchter«, sagte ich.

Der Brigadier nickte.»Drei. Und fünf Enkel. Seine Frau starb vor zwei Jahren, wie Ihnen wohl bekannt ist. Verstehe ich Sie richtig?«

«Daß die Töchter und Enkelkinder Geiseln waren? Ja. Meinen Sie, die könnten das wissen?«

«Bestimmt nicht«, sagte der Brigadier.»Ich habe heute mit seiner ältesten Tochter gesprochen. Nette, vernünftige Frau um die Fünfzig. Gideon erschoß sich gestern abend gegen fünf, nehmen sie an, aber gefunden wurde er erst Stunden später, da er es im Wald getan hat. Ich war heute im Haus. Seine Tochter Sarah sagte, er sei in letzter Zeit äußerst deprimiert gewesen, jeden Tag schlimmer, doch sie habe nicht gewußt, woran es lag. Er habe nicht darüber sprechen wollen. Natürlich weinte Sarah, und natürlich fühlte sie sich schuldig, weil sie es nicht verhindert hat, dabei hätte sie das gar nicht gekonnt. Es ist so gut wie unmöglich, einen beschlossenen Selbstmord zu verhindern, der Mensch läßt sich nicht zum Weiterleben zwingen. Außer in Gefangenschaft natürlich. Jedenfalls, wenn sie irgendeine Art von Geisel war, hat sie nichts davon gewußt. So ein Schuldbewußtsein war das nicht.«

Ich bot ihm eins von meinen noch unangerührten Sandwiches an. Geistesabwesend griff er zu und begann zu kauen, und ich selber aß auch eins. Das Problem, wie man gegen Filmer vorgehen könnte, spiegelte sich in verdrießlichen Falten auf seiner Stirn, und ich hatte gehört, daß er das Scheitern des Komplottprozesses als persönliches Versagen ansah.

«Ich habe Ezra Gideon besucht, nachdem Sie und John Millington Welfram aufgestöbert hatten«, sagte er.»Ich zeigte Ezra Ihr Foto von Welfram. Ich dachte, er fällt in Ohnmacht, so blaß wurde er, aber geredet hat er dennoch nicht. Und jetzt, verdammt noch mal, haben wir an einem Tag beide Kontakte verloren. Wir wissen nicht, wen Filmer sich als nächstes vornimmt oder ob er schon wieder zugange ist, und es wird teuflisch schwer sein, noch so einen Angstmacher aufzuspüren.«

«Wahrscheinlich hat er selbst noch keinen gefunden«, sagte ich.

«Bestimmt keinen gleichwertigen. So verbreitet sind die doch nicht, oder?«

«Die Polizei sagt, sie werden jünger.«

Er schaute ungewöhnlich mutlos drein für jemand, dessen Erfolgsquote sonst rundum beeindruckend war. Die verlorene Schlacht wurmte ihn; die Siege waren abgetan. Ich trank Wein und wartete darauf, daß der Kommandeur in dem besorgten Mann zum Vorschein kam, wartete darauf, daß er den Aktionsplan darlegte.

Er überraschte mich jedoch, indem er sagte:»Ich hätte nicht gedacht, daß Sie bei dem Job so lange bleiben.«

«Wieso nicht?«

«Das wissen Sie doch ganz genau. Sie sind ja nicht dumm. Clement sagte mir, der Haufen Geld, den Ihr Vater Ihnen hinterließ, hat sich zwanzig Jahre lang nichts als vermehrt und ist gewachsen wie ein Pilz. Wächst immer noch. Wie ein ganzes Feld von Pilzen. Warum gehen Sie nicht hin und pflücken sie?«

Ich lehnte mich auf meinem Stuhl zurück und fragte mich, was ich sagen sollte. Ich wußte sehr gut, warum ich sie nicht pflückte, war mir aber nicht sicher, ob es auch vernünftig klang.

«Kommen Sie«, sagte er.»Ich muß das wissen.«

Ich sah in seine gespannten Augen und spürte seine Konzentration, und plötzlich wurde mir klar, daß er, ohne es auszusprechen, meine Antwort offenbar als Grundlage für den Einsatzplan nehmen wollte.

«Es ist gar nicht so einfach«, sagte ich langsam,»und lachen Sie jetzt nicht, es ist wirklich nicht so einfach, sich alles leisten zu können, was man will. Abgesehen von den Kronjuwelen und derlei Kleinigkeiten. Na ja… mir fällt es nicht leicht. Ich bin wie ein Kind, das auf einen Süßwarenladen losgelassen wird. Ich könnte essen und essen. mich krank futtern. und nur immer noch mehr wollen… und hoffnungslos abschlaffen. Also lasse ich die Finger von den Bonbons und beschäftige mich damit, daß ich Gauner verfolge. Wäre das eine Antwort?«

Er brummte unverbindlich.»Wie stark ist die Versuchung?«

«An eiskalten Tagen bei Wind und Schneeregen, auf einer Bahn wie Doncaster, wirklich sehr stark. In Ascot bei Sonnenschein spüre ich sie nicht.«

«Im Ernst«, sagte er.»Drücken wir es mal anders aus. Wie stark ist Ihr Engagement für den Sicherheitsdienst?«

«Das sind an sich zwei verschiedene Dinge«, sagte ich.»Ich pflücke nicht allzu viele Pilze, weil ich Ordnung halten will… festen Boden unter den Füßen haben möchte. Pilze können schließlich halluzinogen sein. Ich arbeite für Sie, für den Sicherheitsdienst, statt im Bankgeschäft oder als Landwirt und so weiter, weil es mir gefällt und mir eigentlich gar nicht so schlecht von der Hand geht; außerdem ist es nützlich, und im Däumchendrehen bin ich nicht besonders gut. Ob ich mein Leben für Sie opfern würde, weiß ich nicht. Wollten Sie das hören?«

Seine Mundwinkel zuckten. Er sagte:»Also gut. Wie stehen Sie denn heute so zur Gefahr? Ich weiß, daß Sie auf Ihren Reisen ziemlich waghalsige Sachen gemacht haben.«

Nach kurzem Zögern sagte ich:»Welche Art von Gefahr?«

«Körperliche. «Er rieb sich mit Daumen und Zeigefinger über den Nasenrücken und sah mich mit ruhigem Blick an.»Möglicherweise.«

«Was soll ich denn tun?«

Wir waren beim Zweck der Zusammenkunft angelangt, aber er zauderte immer noch.

Ich wußte irgendwie, daß er sich wegen der von ihm so genannten Pilze angewöhnt hatte, mit mir so zu sprechen, wie er es tat, wohl Vorschläge zu machen, selten aber ausdrückliche Befehle zu erteilen. Hätte ich ihm als Offizier in der Armee unterstanden, wäre er direkter gewesen. Millington, der von den Pilzen nichts wußte, konnte mich hemmungslos herumkommandieren wie ein Hauptfeldwebel und tat es in Streßsituationen knallhart.

Millington sagte meistens Kelsey zu mir und nur an guten Tagen auch mal Tor. (»Tor? Was ist denn das für ein Name?«hatte er am Anfang zu wissen verlangt.»Die Kurzform von Torquil«, sagte ich. »Torquil? Haha. Ich kann es Ihnen nicht verdenken.«) Sich selbst nannte er stets Millington (»Hier Millington«, wenn er anrief), und so dachte ich auch an ihn — er hatte mich nie aufgefordert, John zu ihm zu sagen. Ich nahm an, daß ein Mann, der lange in einer streng hierarchischen Organisation gedient hatte, Nachnamen ganz natürlich fand.

Die Aufmerksamkeit des Brigadiers schien weiterhin auf das

Glas gerichtet, das er langsam in seinen Händen drehte, doch schließlich setzte er es exakt auf die Mitte eines Bierfilzes, als sei er zu einem ebenso exakten Schluß gelangt.

«Ich habe gestern einen Anruf von meinem Kollegen beim kanadischen Jockey Club bekommen. «Wieder hielt er inne.

«Waren Sie schon mal in Kanada?«

«Ja«, sagte ich.»Eine Zeitlang, so ungefähr drei Monate, hauptsächlich im Westen. Calgary. Vancouver. von dort bin ich mit dem Schiff nach Alaska rauf.«

«Waren Sie in Kanada beim Pferderennen?«

«Ein paarmal, ja, aber das muß so sechs Jahre her sein… und ich kenne da niemand — «, verwirrt brach ich ab, da ich nicht wußte, um was es ihm ging.

«Sind Sie über diesen Zug informiert?«fragte er.»Den Transkontinentalen Erlebnis- und Rennexpress? Schon mal gehört davon?«

«Hm«, sagte ich nachdenklich.»Ich habe neulich was darüber gelesen. Lauter große kanadische Besitzer, die mit ihren Pferden auf Vergnügungstour gehen und sie auf Rennbahnen entlang der Strecke laufen lassen. Meinen Sie den?«

«Den meine ich. Aber die Besitzer sind nicht alles Kanadier. Es sind auch Amerikaner dabei, einige Australier und ein paar Briten. Einer der britischen Passagiere ist Julius Filmer.«

«Oh«, sagte ich.

«O ja. Der Jockey Club von Kanada hat der ganzen Geschichte seinen Segen gegeben, weil sie weltweite Publicity bringt und sie sich Rekordbesucherzahlen erhoffen, neuen Auftrieb für den gesamten kanadischen Rennsport. Mein Kollege Bill Baudelaire sagte mir gestern, er habe mit der Firma gesprochen, die das alles arrangiert — anscheinend gibt’s da regelmäßige Informationsrunden —, und habe festgestellt, daß jemand nachträglich in die Passagierliste aufgenommen worden ist, nämlich Julius Filmer. Bill Baudelaire weiß natürlich Bescheid über das Fiasko mit dem Prozeß. Er fragte, ob es uns nicht möglich wäre, den unerwünschten Mr. Filmer von diesem renommierten Zug fernzuhalten. Ob wir ihn nicht zur Persona non grata auf allen Rennplätzen erklären könnten, auch und insbesondere den kanadischen? Hören Sie, sagte ich ihm, wenn wir irgendwelche Gründe hätten, Filmer Rennbahnverbot zu erteilen, hätten wir es schon getan, aber der Mann ist freigesprochen worden. Wir dürfen ihn nicht ächten, nachdem man ihn für unschuldig erklärt hat, sonst bekommen wir alle möglichen Scherereien. Daß er Gideon zwei Pferde abgekauft hat, reicht nicht aus, um ihn von der Rennbahn zu verweisen. Heutzutage können wir ihn nicht ausschließen, bloß weil wir das gerne möchten, er kann nur Bahnverbot bekommen, wenn er gegen die Rennordnung verstößt.«

Die ganze Wut und Enttäuschung des Jockey Club schwang in seiner Stimme. Er war kein Mann, der Ohnmacht leichtnahm.

«Bill Baudelaire weiß das natürlich alles«, fuhr er fort.»Er sagte, wenn wir Filmer nicht aus dem Zug rausholen könnten, möchten wir bitte einen unserer Würdenträger mit hineinsetzen. Das ganze Ding ist zwar ausgebucht, aber er hat die Veranstalter gedrängt, ihm noch eine Fahrkarte auszustellen, und er wollte, daß einer unserer Stewards oder ein Ressortleiter des Jockey Club oder ich selbst deutlich sichtbar mitfährt, damit Filmer sich scharf beobachtet weiß und von allen Sünden abläßt, die er vielleicht im Sinn hat.«

«Fahren Sie denn?«fragte ich fasziniert.

«Ich nicht. Sie fahren mit.«

«Ehm…«sagte ich etwas verdattert.»Ich entspreche wohl kaum den Anforderungen.«

«Ich habe Bill Baudelaire gesagt«, erklärte der Brigadier knapp,»ich würde ihm einen Fahrgast schicken, den Filmer nicht kennt. Einen meiner Männer. Sollte Filmer dann irgend etwas versuchen, und das ist immerhin sehr fraglich, hätten wir vielleicht eine reelle Chance, dahinterzukommen und ihn in flagranti zu ertappen.«

Mein Gott, dachte ich. So einfach in Worten. So unglaublich schwierig in der Durchführung.

Ich schluckte.»Was meinte Mr. Baudelaire dazu?«

«Ich habe ihn überredet. Er erwartet Sie.«

Ich blickte erstaunt.

«Nun ja«, sagte der Brigadier,»nicht namentlich Sie. Irgend jemanden. Ziemlich jung, sagte ich, aber erfahren. Jemand, der nicht fehl am Platz wirkt…«:, seine Zähne blitzten kurz auf,»… im Millionärsexpreß.«

«Aber — «, sagte ich und brach ab, den Kopf voll schwerer Bedenken und Zweifel, ob ich für solch eine Aufgabe gut genug war. Andererseits, was für ein Ding.

«Werden Sie fahren?«fragte er.

«Ja«, sagte ich.

Er lächelte.»Das habe ich gehofft.«

Brigadier Catto, der neunzig Meilen von London in Newmarket wohnte, übernachtete, wie er es öfter tat, in einem komfortablen oberen Zimmer des Clubs. Ich verabschiedete mich nach einiger Zeit in der Bar von ihm und fuhr die restliche halbe Meile nach Hause, zu meiner Wohnung in einer ruhigen Straße in Kennington.

Ich hatte mir eine Bleibe in diesem Viertel gesucht, weil ich mir sagte, daß es mich sicher nicht oft in den Club ziehen würde, wenn ich auf der anderen Seite Londons lebte. Kennington, südlich der Themse, benachbart dem grimmigen Lambeth und Brixton, war keine Gegend, in der sich Pferdesport-Liebhaber unbedingt zeigen wollten, und tatsächlich hatte ich dort nie jemand entdeckt, den ich vom Sehen auf der Rennbahn kannte.

Ich war auf eine Anzeige gestoßen:»Hausanteil für präsentablen ledigen Yuppie zu haben. 2 Zimmer, Bad, gemeinschaftliche Küche, Hypothek und Instandhaltung. Abends anrufen«, und obwohl ich eher an eine Wohnung für mich allein gedacht hatte, schien eine Hausgemeinschaft mir plötzlich reizvoll, besonders nach der Einsamkeit der Arbeit. Ich hatte mich nach Vereinbarung vorgestellt, war von den vier anderen Bewohnern inspiziert und zur Probe aufgenommen worden, und alles hatte sich gut angelassen.

Die vier anderen waren derzeit zwei im Verlagswesen arbeitende Schwestern (ihr Vater hatte ursprünglich das Haus gekauft und das Schema mit der gleitenden Hypothek eingeführt), ein Anwaltsassessor, der zum Stottern neigte, und ein Schauspieler mit einer Nebenrolle in einer Fernsehserie. Die Hausordnung war einfach: Pünktlich zahlen, immer gut benehmen, sich nicht in die Angelegenheiten der anderen mischen und nicht zulassen, daß über Nacht bleibende Freunde/Freundinnen morgens stundenlang eines der drei Badezimmer besetzt halten.

Es gab ziemlich viel Gelächter und Kumpanei, doch neigten wir eher dazu, Kaffee, Bier, Wein und Kochgeschirr zu teilen, als einander Geheimnisse anzuvertrauen. Ich sagte ihnen, ich sei ein engagierter Rennbahnbesucher, und keiner fragte, ob ich beim Wetten gewann oder verlor.

Der Schauspieler Robbie im obersten Stock war mir enorm nützlich gewesen, obwohl ich bezweifle, daß er sich dessen bewußt war. Früh eines Abends, wenige Tage nach meinem Einzug, hatte er mich eingeladen, bei ihm ein Bier zu trinken, und als ich hochkam, saß er vor einem hell beleuchteten Schminktisch und sagte, er entwerfe gerade die Maske für eine Bühnenrolle, die er angenommen habe. Ich war verblüfft, wie sehr die anders gekämmten Haare, ein dicker falscher Schnurrbart und stärkere Augenbrauen ihn verändert hatten.

«Handwerkszeug«, meinte er, auf die Schminken und falschen

Haare deutend, die übersichtlich in Dosen und Schachteln vor ihm lagen.»Sechstagebart, Engelslocken — wie hättest du’s gern?«

«Locken«, sagte ich langsam.

«Dann setz dich mal hm«, sagte er vergnügt, stand auf, um mir seinen Platz zu überlassen, und holte einen Butan-Frisierstab hervor. Strähne für Strähne rollte er mein nahezu glattes Haar damit auf, und innerhalb von Minuten sah ich aus wie ein brauner Pudel, verwuschelt, strubbelig, völlig anders.

«Wie findest du’s?«sagte er und beugte sich vor, um mit mir in den Spiegel zu schauen.

«Erstaunlich. «Und einfach, dachte ich. Das konnte ich jederzeit im Auto machen.

«Es steht dir«, sagte Robbie. Er kniete sich neben mich, legte mir seinen Arm um die Schultern, drückte mich ein wenig und lächelte unmißverständlich einladend.

«Nein«, sagte ich sachlich.»Ich mag Mädchen.«

Er war nicht gekränkt.»Hast du es anders nie probiert?«

«Das ist einfach nicht mein Stil, Schatz«, sagte ich,»wenn du verstehst.«

Er lachte und nahm seinen Arm weg.»Dann lassen wir das. Ein Versuch schadet ja nichts.«

Wir tranken das Bier, und er zeigte mir, wie man einen verwegenen Macho-Schnurrbart zurechtbiegt und anklebt; dazu hielt er mir noch ein dickes Brillengestell hin. Ich betrachtete den Fremden, der mich aus dem Spiegel ansah, und sagte, ich sei mir nie darüber klar gewesen, wie leicht man Augen täuschen könne.

«Sicher. Es braucht lediglich ein bißchen Mut.«

Und damit hatte er recht. Ich kaufte mir selbst einen ButanFrisierstab, aber ich schleppte ihn eine Woche lang im Wagen mit herum, ehe ich mir auf dem Weg zur Rennbahn von

Newbury einen Ruck gab, auf einem Parkplatz anhielt und ihn auch wirklich benutzte. In den drei Jahren seither hatte ich das ohne nachzudenken zigmal getan und das Resultat auf der Heimfahrt feucht wieder herausgekämmt.

Sonntags faulenzte ich meistens in meinen zwei großen hellen Räumen im ersten Stock (der Assessor wohnte eins drüber, die Schwestern eins drunter), schlief, las oder werkelte herum. Etwa ein Jahr lang hatte ich meine Sonntage mit der Tochter eines Hobbs-Sandwich-Mitgliedes verbracht, aber das war für uns beide eher ein vorübergehendes gemeinsames Vergnügen gewesen als die große Leidenschaft, und schließlich war sie fortgedriftet und hatte jemand anders geheiratet. Ich nahm an, ich würde eines Tages auch heiraten; wußte, ich hatte Lust dazu; fand, daß es nicht eilte, bevor ich dreißig war.

Am Sonntag morgen nach der Besprechung mit dem Brigadier im Club überlegte ich schon einmal, was ich für Kanada packen sollte. Er hatte mir aufgetragen, das zu sein, was ich sonst so ausgiebig zu sein vermied — ein reicher junger Müßiggänger, der sich ganz dem schönen Leben widmen konnte.»Sie brauchen nur mit den anderen Passagieren über Pferde zu reden und die Augen offenzuhalten, weiter nichts.«

«Ja«, sagte ich.

«Spielen Sie die Rolle glaubhaft.«

«In Ordnung.«

«Ich habe Sie manchmal beim Pferderennen zu Gesicht bekommen, wissen Sie, da sahen Sie aus wie ein Börsenmakler und am nächsten Tag dann wie ein Hinterwäldler. Millington sagt, er sieht Sie oft gar nicht, obwohl er weiß, daß Sie da sind.«

«Ich werde inzwischen schon Übung haben, aber viel tue ich eigentlich nie. Andere Frisur, andere Kleidung, etwas latschiger Gang.«

«Es funktioniert«, sagte er.»Seien Sie das, was Filmer vermutlich erwartet.«

Die Frage war nicht so sehr, was Filmer vermutlich erwartete, dachte ich beim Anblick der großen Jackenauswahl in meinem Kleiderschrank, sondern was konnte ich für die geplante Dauer von zehn Tagen durchhalten, bis die Gesellschaft sich auflöste?

Locken beispielsweise kamen nicht in Frage, denn sie verschwanden im Regen. Klebebärte schieden aus, da sie vielleicht abgingen. Eine Brille schied aus, da man vergessen konnte, sie aufzusetzen. Ich würde im wesentlichen so aussehen müssen, wie die Natur mich geschaffen hatte, und ich mußte so nichtssagend, so unauffällig sein wie möglich.

Ich suchte meine teuersten und am wenigsten getragenen Sachen heraus und entschied, daß es besser wäre, mir noch neue Hemden, neue Schuhe und einen Kaschmirpullover zu kaufen, ehe ich fuhr.

Montag früh rief ich wie angewiesen Millington an und erlebte ihn wie gewohnt verdrießlich. Er hatte von dem Zug gehört. Er hielt nichts davon, daß ich da mitfuhr. Der Sicherheitsdienst (gemeint war der Brigadier) hätte einen ausgebildeten Fachmann schicken sollen, vorzugsweise einen Expolizisten. Wie ihn, zum Beispiel. Jemanden, der sich in Kriminaltechnik und — taktik auskannte und bei dem man sich darauf verlassen konnte, daß er wichtiges Beweismaterial nicht aus Unkenntnis und Ungeschick zerstörte. Ich ließ ihn so lange ohne Unterbrechung reden, daß er schließlich scharf fragte:»Sind Sie noch da?«

«Ja«, sagte ich.

«Ich möchte Sie sehen, möglichst heute morgen noch. Ich bringe Ihre Flugkarte mit. Einen gültigen Paß haben Sie doch wohl?«

Wir verabredeten uns wie schon öfter in einem recht guten Schnellimbiß an der Victoria Station, günstig gelegen für Millington, der ein paar Meilen südlich auf der anderen Seite der Battersea Bridge wohnte, und für mich nur wenige Stationen mit der Südlinie.

Ich traf zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit ein und sah Millington bereits an einem Tisch vor einem Becher mit brauner Flüssigkeit und mehreren Wurstbrötchen sitzen. Ich schnappte mir ein Tablett, schob es die Ablage vor der Vitrine entlang und nahm ein Stück Käsekuchen aus einem der aufklappbaren Türchen. Eigentlich fand ich das Glastürensystem ganz gut: Wenn man Glück hatte, dann hatte einem nicht die breite Öffentlichkeit auf den Käsekuchen geniest, sondern nur ein, zwei Köche und die Bedienung.

Millington betrachtete mein teilhygienisches Gebäck und sagte, er selber ziehe die Zitronensahne vor.

«Die schmeckt mir auch«, sagte ich.

Millington war ein dicker Mann mit einem Faible für Bier und jede Art Kuchen, der es dankbar aufgegeben haben mußte, auf sein Gewicht zu achten, seit er bei der Polizei weggegangen war. Jetzt sah er nach satten hundertzehn Kilo aus, und wenngleich nicht fett, so war er doch eine ausgesprochen kompakte Masse, dabei aber von einer Beweglichkeit, die er im Rahmen seiner Arbeit gut einsetzte. Viele kleine Rennbahngauner hatten schon irrtümlich angenommen, Millington könne im Gedränge nicht wie ein Wiesel hinter ihnen herjagen, bis sie die strafende Hand dann schwer auf ihren Kragen fallen spürten. Ich hatte Millington einmal einen ausgebüxten Taschendieb fangen sehen: ein packender Anblick.

Das große Imbißlokal, blitzblank und sauber, war immer schrecklich laut, da pausenlos Popmusik dröhnte, begleitet von über den Fußboden scharrenden Stühlen und dem Geklapper im Galopp eingenommener Mahlzeiten. Die Kunden waren zumeist Reisende, die mit Zügen ohne Büfettwagen angekommen waren oder weiterwollten, ausgehungert oder vorsorgend; sie sahen auf ihre Armbanduhr, schütteten den zu heißen Kaffee hinunter, scherten sich nicht um andere, brachen hastig auf. Keiner achtete je auf Millington oder mich, und keiner konnte je gehört haben, was wir sagten.

Wir trafen uns hier nie, wenn an Orten wie Plumpton, Brighton, Lingfield und Folkestone Rennen abgehalten wurden; dann nämlich konnte der ganze Rennzirkus durch Victoria Station rauschen. Auch trafen wir uns nie in der Nähe der Sicherheitsdienstzentrale des Jockey Club am Portman Square. Schon seltsam, dachte ich zuweilen, daß ich noch kein einziges Mal die Residenz meiner Arbeitgeber von innen gesehen hatte.

Millington sagte:»Ich bin nicht damit einverstanden, daß Sie mit Filmer reisen.«

«Das habe ich mitgekriegt«, erwiderte ich.»Sie sagten es schon.«

«Der Mann ist ein Mörder.«

Er war natürlich nicht um meine Sicherheit besorgt, sondern meinte, ich sei dem Gegner nicht gewachsen.

«Er muß in dem Zug ja nicht unbedingt jemand ermorden«, sagte ich ironisch.

«Das ist kein Scherz«, versetzte er streng.»Und danach wird er Sie kennen, und Sie werden uns, was ihn betrifft, auf der Rennbahn nicht mehr von Nutzen sein.«

«Der Brigadier sagte, rund fünfzig Personen nehmen an dieser Reise teil. Ich werde Filmers Augenmerk nicht groß auf mich lenken. Es ist ziemlich unwahrscheinlich, daß er sich hinterher an mich erinnert.«

«Sie sind zu nah bei ihm«, beharrte Millington.

«Nun ja«, sagte ich nachdenklich,»es ist unsere erste und einzige Chance bisher, überhaupt mal richtig nah an ihn heranzukommen. Selbst wenn er nur einen harmlosen Urlaub macht, dürften wir dadurch eine Menge mehr über ihn erfahren.«

«Mir liegt nichts daran, Sie zu verheizen«, sagte Millington und schüttelte den Kopf.

Ich sah ihn echt überrascht an.»Das ist neu.«

«Ich wollte zuerst nicht, daß Sie für uns arbeiten«, meinte er achselzuckend.»Hab mir nichts davon versprochen, fand es blödsinnig. Jetzt sind Sie mein Augenlicht. Die Augen in meinem Hinterkopf, über die sich die Schurken beklagen, seit Sie angefangen haben. Und wenn Sie’s unbedingt wissen wollen, ich möchte Sie nicht verlieren. Ich sagte dem Brigadier, wir würden unsere Trumpfkarte vergeuden, wenn wir Sie in den Zug setzen. Er meinte, wir würden den Trumpf vielleicht ausspielen, und wenn wir Filmer dadurch loswerden könnten, lohne sich das auch.«

Ich blickte in Millingtons besorgtes Gesicht. Ich sagte langsam:

«Wissen Sie, oder weiß der Brigadier irgend etwas über Filmers Reisepläne, was Sie mir verschwiegen haben?«

«Als er das sagte«, Millington sah auf seine Wurstbrötchen nieder,»stellte ich ihm die gleiche Frage. Er gab keine Antwort. Ich selber weiß nichts. Sonst würde ich es Ihnen sagen.«

Vielleicht würde er das, dachte ich. Vielleicht auch nicht.

Am nächsten Tag, Dienstag, fuhr ich in den Norden, nach Nottingham, um wie immer mein hartes Tagwerk zu verrichten, indem ich beim Pferderennen herumhing und weiter gar nichts tat.

Ich hatte die neuen Kleider und einen neuen Koffer gekauft und schon mehr oder minder fertig gepackt für meine Abreise am nächsten Morgen, und das alte Fernweh, das mich schon einmal sieben Jahre umgetrieben hatte, war aus seinem jüngsten Schlummer erwacht und hatte mir einen kräftigen Rippenstoß versetzt. Millington, dachte ich, hätte weniger Angst haben sollen, mich an Filmer zu verlieren als an den alten verführerischen Reiz des Wanderns, Weiterziehens — immer gespannt auf das, was hinter der nächsten Ecke kam.

Jetzt konnte ich wohl in Fünf-Sterne-Manier reisen statt mit einem Rucksack; in Limousinen statt Bussen; Haute Cuisine essen statt Bockwurst; in Palm Beach wohnen statt in staub schluckenden Nestern. Wahrscheinlich würde mir der Luxus eine Zeitlang gefallen, vielleicht auch längere Zeit, aber um im Lot zu bleiben, würde ich mich schließlich doch von dem Süßwarenladen losreißen müssen und irgend etwas arbeiten; das durfte ich nicht hinausschieben, bis mir der Sinn für die einfachen Dinge des Lebens verlorenging.

Ich trug, vielleicht als Huldigung an die einfachen Dinge, eine abgewetzte Lederjacke und eine flache Stoffmütze, die Fernglaskamera um den Hals, ein Rennprogramm in der Hand. Ich stand irgendwo vor dem Waageraum, beobachtete, wer kam und wer ging, wer mit wem sprach, wer bekümmert, wer glücklich, wer boshaft aussah.

Ein junger Nachwuchsreiter von wachsendem Ansehen kam in Straßenkleidung, nicht im Reitdreß aus dem Waageraum, blieb stehen und blickte sich um, als suche er jemanden. Seine Augen hörten auf zu wandern und konzentrierten sich, und ich war neugierig, was seine Aufmerksamkeit erregt hatte. Er sah auf den bezahlten Steward des Jockey Club, der bei dem Meeting als die Autorität in Menschengestalt fungierte. Der Steward unterhielt sich mit zwei Leuten, die an diesem Tag ein Pferd laufen ließen, und nach einer Weile zog er den Hut vor der Dame und ging zum Führring hinüber.

Der Nachwuchsreiter schaute ruhig hinter seinem entschwindenden Rücken her, dann noch einmal prüfend auf die Leute, die in der Nähe waren. Als er nichts Beunruhigendes sah, machte er sich auf den Weg zu dem Teil der Tribüne, von dem aus die Jockeys den Rennen zuschauten, und stieß zu einem jungen Mann, mit dem er ein Stück ging und redete. Sie trennten sich nahe der Haupttribüne, und ich, auf ihren Fersen, zog meine Aufmerksamkeit von dem Lehrling ab und folgte statt dessen dem anderen Mann. Er ging geradewegs zum Buchmacherplatz vor der Tribüne und an den Reihen der Buchmacher entlang zum Herrschaftsbereich von Collie Goodboy, der seine Offerten von einer kleinen Plattform im Bierkastenformat herunterschrie.

Der Kontaktmann des Nachwuchsreiters wettete nicht. Er ergriff ein Rechnungsbuch und begann die Wetten anderer einzutragen. Er sagte etwas zu Collie Goodboy (Les Morris von Haus aus), der bald darauf die gebotenen Quoten von seiner Tafel wischte und neue hinschrieb. Die neuen waren großzügig. Collie Goodboy wurde mit einem Ansturm von eifrigen Wettkunden belohnt, die die Einladung unbedingt annehmen wollten. Collie Goodboy strich methodisch ihr Geld ein.

Mit einem Seufzer wandte ich mich ab und schlenderte zur Tribüne hinauf, um mir das nächste Rennen anzusehen, beobachtete wie üblich die Menge, schaute, was los war. Zum Schluß stand ich nicht weit oberhalb des Geländers, das den Buchmacherring (genannt Tattersalls Enclosure) von den teuren Mitgliederplätzen trennte. Dort ging ich oft hin, denn von da aus konnte man die Leute vor und auf der Tribüne gut sehen. Man konnte auch sehen, wer an das Geländer — die» Rails«- kam, um bei den Buchmachern, die in dieser bevorzugten Stellung agierten, Wetten anzulegen. Die» Rails«-Buchmacher waren die Könige ihrer Branche, freundlich, entgegenkommend, fair; knallharte, glänzende Rechner.

Ich beobachtete wie immer, wer bei wem Wetten abschloß, und als ich bei dem Buchmacher anlangte, der am nächsten zur Tribüne, am nächsten zu mir stand, sah ich, daß sein derzeitiger Kunde Filmer war.

Ich schaute ihm beim Setzen zu, dachte an die bevorstehende Zugreise, da legte er den Kopf zurück und sah mir direkt in die Augen.

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