Kapitel 7

Etwa fünfzig Schlußfolgerungen schossen mir durch den Kopf, allesamt verheerend. Ich war so sicher gewesen, er würde mich nicht erkennen. Dummer, arroganter Irrtum.

«Das war vermutlich, als wir drüben in Europa waren und an dem Derby-Eve-Dinner in London teilnahmen«, sagte die ältere Frau ihm gegenüber.»Wir saßen am Ehrentisch… Wir waren Gäste des armen, lieben Ezra Gideon.«

Ich entfernte mich unter stummen Dankgebeten an alle, die dort droben zuhören mochten. Filmer hatte nicht mal einen Blick auf mich geworfen, geschweige denn mich erkannt. Als ich schließlich zu ihm hingesehen hatte, war sein Kopf der Tischgesellschaft zugewandt gewesen, und gleiches galt für Daffodil.

Filmers Gedanken mußten jedenfalls auch durcheinandergeraten sein. Er war direkt verantwortlich für Gideons Selbstmord, und jetzt fand er sich bei Gideons Freunden wieder. Ob ihn das peinlich berührte oder nicht (wahrscheinlich nicht), bestimmt genügte es, um ihn von Kellnern abzulenken.

Ich holte weitere Gläser und brachte einige davon zu den Lorrimores, die eine Oase des Schweigens in der plappernden Menge bildeten und mir überhaupt keine Beachtung schenkten; und von da an fühlte ich, daß ich wirklich die richtige Rolle gewählt hatte und sie unbegrenzt durchhalten konnte.

Als alle bedient waren, erschien Zak der Ermittlungsbeamte wie ein Sturmwind und führte den Krimi weiter durch Szene zwei, indem er genau rekonstruierte, wie man versucht hatte, eines der Pferde zu entführen, und die quälende Frage in den Raum stellte, welches? Zur Belustigung des Publikums befragte er mehrere der echten Besitzer:»Welches ist Ihr Pferd, Sir? Sagten Sie, Upper Gumtree?«Er blickte auf eine Liste.»Ah ja. Dann sind Sie Harvey Unwin aus Australien? Spricht irgend etwas dafür, daß Ihr Pferd die Zielscheibe internationaler Machenschaften sein könnte?«

Es war geschickt und unterhaltsam gespielt. Mercer Lorrimore sagte, als er an die Reihe kam, schmunzelnd, sein Pferd heiße Voting Right und nein, er habe keine Vorankündigung von einem Überfall erhalten. Bambi lächelte dünn, und Sheridan sagte mit lauter Stimme, er finde das Ganze bescheuert; alle wüßten doch, daß gar kein Entführungsversuch gelaufen sei, warum hörte Zak also nicht auf herumzuhampeln und zischte ab?

In die atemlos entsetzte Stille hinein, während Mercer nach Worten rang, lächelte Zak strahlend und sagte:»Ist es die Verdauung? Wir holen Ihnen ein paar Tabletten«, und klopfte Sheridan mitfühlend auf die Schulter.

Es löste stürmischen Beifall im Saal, oder vielmehr im Zug aus. Die Leute lachten und applaudierten, und Sheridan sah wirklich mordlustig drein.

«Nun zu Sparrowgrass«, sagte Zak, mit einem Blick auf seine Liste elegant fortfahrend,»wem gehört Sparrowgrass?«

Der ältere Herr, der bei Filmer saß, sagte:»Mir. Meiner Frau und mir.«

«Dann sind Sie also Mr. und Mrs. Young? Irgendwie verwandt mit Brigham? Nein? Macht nichts. Trifft es nicht zu, daß jemand versucht hat, den Stall niederzubrennen, in dem Ihr Sparrowgrass vor einem Monat stand? Meinen Sie, die beiden Überfälle könnten zusammenhängen?«

Die Youngs blickten erstaunt drein.»Woher wissen Sie denn das?«

«Wir haben unsere Quellen«, sagte Zak hochmütig — und erzählte mir hinterher, daß seine Quelle die Daily Racing Form war, die er neuerdings eifrig gelesen hatte, um Hintergrundmaterial für seine Story zu sammeln. Die Reisenden zeigten sich gehörig beeindruckt.

«Ich bin sicher, daß niemand versucht, mein Pferd zu kidnappen«, sagte Young, jedoch mit einem zweifelnden Unterton, der ein Triumph für Zak war.

«Hoffentlich nicht«, sagte er.»Und als letztes, wem gehört Calculator?«

Die Schauspieler Walter und Mavis Bricknell streckten erregt die Hände hoch.»Uns. Was ist denn mit ihm? Wir müssen gleich mal nachsehen. Das geht einem doch alles sehr an die Nerven. Werden die Pferde denn jetzt richtig bewacht?«

«Beruhigen Sie sich, mein Herr, beruhigen Sie sich, meine Dame«, sagte Zak wie zu Kindern.»Merry & Co hat eigens einen Stallmeister zu ihrer Beaufsichtigung engagiert. Sie werden von jetzt an sicher sein.«

Er beschloß die Szene damit, daß er sagte, wir würden bald in Newmarket halten, doch die britischen Besitzer sollten nicht aussteigen, es gäbe keine Rennen dort. (Gelächter). Das Mittagessen sei jetzt im Anmarsch, setzte er hinzu, und er hoffe, daß um halb sechs alle auf einen Drink wiederkämen, dann nämlich stünden, wie auf ihren Programmen ausgedruckt, interessante Entwicklungen an. Die Fahrgäste klatschten sehr laut, um ihm Mut zu machen. Zak winkte, zog sich zurück und lief den Gang hinunter, fast sofort wieder plattfüßig nach dem schwungvollen Auftritt im Speiseraum, und schon befragte er mit hängenden Schultern sein Notizbuch, was als nächstes zu tun sei. Wie oft mußte er sich wohl mit Leuten wie Sheridan abgeben? Seinem Verhalten nach oft genug.

Emil trug mir auf, die Sektgläser einzusammeln, das Wasser auszuschenken und auf jeden Tisch einen Korb Stangenbrot zu stellen. Er selbst entkorkte Wein. Oliver und Cathy brachten Platten mit geräuchertem Lachs und Schalen mit Vichysoise-

Suppe auf Tabletts aus der Küche und stellten sie zur Wahl.

Das Platzproblem löste sich mehr oder minder von selbst. Mavis und Walter, die vorgaben, ihnen sei» das Wohlergehen unseres Pferdes wichtiger als Essen«, gingen weiter vor in den Zug, um im Speisewagen der Rennbahnbesucher zu lunchen, und ebenso Angelica-»mich hält’s hier nicht, ich rase!«Einige andere wie Raoul, Pierre und Donna verschwanden unauffällig, bis Nell beim Durchzählen feststellte, daß jeder zahlende Passagier einen Sitzplatz hatte. Giles-der-Mörder, sah ich mit Interesse, war immer noch im Speiseraum, noch immer unheimlich nett; anscheinend war es für das Schauspiel wesentlich, daß man ihn mochte.

Wir hielten kurz in Newmarket. Kein britischer Besitzer stieg aus. (Schade). Nach der Suppe gab es Hühnerfrikassee mit Zitrone und Petersilie.

Ich wurde von Aquarius zu Ganymed befördert, weg vom Wasser, hin zum Wein. Emil traute mir mit Recht nicht zu, schmutzige Gedecke abzuräumen, was ein gekonntes Jonglieren mit Messern und Gabeln erforderte. Ich durfte mit den anderen die Aschenbecher auswechseln, Ahorn-Haselnuß-Mousse auftragen und Tee und Kaffee in die schon plazierten Tassen füllen. Filmer ignorierte meine Anwesenheit vollständig, und ich mied es tunlichst, seine Aufmerksamkeit dadurch zu erregen, daß ich etwas verschüttete.

Zum Schluß empfand ich große Bewunderung für Emil, Oliver und Cathy, die elegant drei volle Gänge serviert und abgeräumt hatten, während der Boden unter ihren Füßen schwankte, und die normalerweise meine paar Handgriffe noch mit übernommen hätten.

Als fast alle Passagiere (einschließlich Filmer) gegangen waren, sei es zu ihren Abteilen oder in den Aussichtswagen, räumten wir die Tische ab, legten frische Tücher auf und begannen selbst ans Essen zu denken. Zumindest tat ich das. Die anderen gingen in die Küche, ich folgte ihnen, aber dort angelangt, zog Emil sogleich seine Weste aus, legte eine Schürze und lange gelbe Handschuhe an und begann Geschirr abzuwaschen. Eine satte, berghohe Ladung von drei Gängen für achtundvierzig Personen.

Ich sah ihm entgeistert zu.»Machen Sie das immer?«fragte ich.

«Wer sonst?«

Cathy ergriff ein Handtuch, um abzutrocknen.

«Keine Maschinen?«protestierte ich.

«Wir sind die Maschinen«, sagte sie.

Spülen, dachte ich kläglich — ohne mich? Ich nahm mir eines der Handtücher und half ihr.

«Das brauchen Sie nicht«, sagte sie,»aber danke schön.«

Angus der Chefkoch säuberte sein Reich am anderen Ende der langen heißen Küche, und Simone packte dicke Rindfleischsandwiches aus, die wir alle während der Arbeit im Stehen aßen. Es herrschte eine eigentümliche Kameradschaft dabei, als wären wir Kämpfer an der vordersten Front. Sie hatten Anspruch darauf, nach der letzten Schicht im mittleren Speisewagen zu essen, sagte Emil beim Gläserwaschen, gingen meistens aber nur zum Dinner hm, wenn überhaupt. Das verstand ich, da wir nach den Sandwiches an diesem ersten Tag die leider allzuwenigen Restportionen des lukullischen Mittagsmahls verzehrten, das wir serviert hatten.»Weggeworfen wird nichts«, sagte Cathy,»wenn wir solche Touren machen.«

Als das Geschirr glücklich fertig und in die Regale eingeräumt war, stellte sich heraus, daß wir ein paar schöne Stunden freihatten: Wiederantritt Punkt halb sechs.

Ich weiß nicht, was die anderen taten, aber ich ging geradewegs nach vorn in den vollgepackten Zug, schlängelte mich unsicher durch eine schier endlose Reihe von Schlafwagen (vorbei an meinem eigenen Bett), durch den immer noch belebten mittleren Speisewagen, den vollen, lärmenden Gr oßraum-Day niter, drei weitere Schlafwagen, den überfüllten Aussichtswagen (Speiseraum, Küche, Gesellschaftsraum, Aussichtsdeck), noch einen Schlafwagen und erreichte schließlich die Pferde. Insgesamt eine Strecke von etwas unter einer Viertelmeile, aber es kam mir wie ein Marathonlauf vor.

Am Eingang des Pferdewaggons hielt mich eine verschlossene Tür auf und, auf mein wiederholtes Klopfen hin, eine energische Frau, die mir erklärte, ich sei unerwünscht.

«Sie können hier nicht rein«, sagte sie schroff und versperrte mir den Weg mit ihrem Körper.»Das Zugpersonal hat hier keinen Zutritt.«

«Ich arbeite für Merry & Co«, sagte ich.

Sie musterte mich von oben bis unten.»Sie sind ein Kellner«, sagte sie entschieden.»Sie kommen nicht rein.«

Sie bebte vor Autorität, die resolute Hüterin des Passes. Um die Vierzig, schätzte ich, mit ebenmäßigen Gesichtszügen, ungeschminkt und einer schlanken, drahtigen Figur in Hemd, Pullover und Jeans. Ich erkannte ein unbewegliches Objekt, wenn ich es sah, daher zog ich mich durch den ersten Schlafwagen zurück, wo Pfleger in T-Shirts sich in offenen Tagesabteilen lümmelten (zum Schlafen zog man schwere Filzvorhänge zu), und wandte mich ratsuchend an den chinesischen Koch in der Küche des vorderen Aussichtswagens.

«Der Zugführer?«sagte er auf meine Frage hin.»Der ist hier.«

Er wies den Gang hinunter in den Speiseraum.»Sie haben Glück.«

Der Zugführer in seinem grauen Anzug, mit Goldstreifen für langjährige Dienste am linken Ärmel, saß am ersten Tisch von der Küche aus und beendete gerade sein Mittagessen. Es gab noch andere Gäste an anderen Tischen, doch er war allein und nutzte die Mittagspause zum Ausfüllen von Formularen, die er vor sich ausgebreitet hatte. Ich glitt auf einen der Sitze ihm gegenüber, und er hob fragend die Augen.

«Ich bin von Merry & Co«, sagte ich.»Sie wissen, glaube ich, über mich Bescheid.«

«Tommy?«sagte er nach einer Denkpause.

«Ja.«

Er gab mir über den Tisch hinweg die Hand.

«George Burley«, sagte er.»Nennen Sie mich George.«

Er war mittleren Alters, massig, mit kurzgeschnittenen Haaren und Schnurrbart und, wie ich bald herausfand, einer hübschen ironischen Ader.

Ich erklärte ihm das mit der unpassierbaren Tür zum Pferdewaggon.

Seine Augen glitzerten.»Sie haben die Drachenlady kennengelernt, eh? Miss Leslie Brown. Eigentlich soll sie die Pfleger im Zaum halten. Jetzt versucht sie über den Zug zu herrschen, eh?«

Er hatte die unter Kanadiern verbreitete Gewohnheit, noch die alltäglichste Aussage in eine Frage zu verwandeln. Schön heute, eh?

«Ich hoffe«, sagte ich höflich,»daß Sie im Rang über ihr stehen.«

«Darauf können Sie Gift nehmen«, sagte er.»Lassen Sie mich fertig essen und die Papiere erledigen, dann gehen wir gleich mal hin, eh?«

Ich wartete eine Weile, sah die Landschaft vorübergleiten, wilde unbewohnte Flächen mit grünen und herbstfarbenen Bäumen, grauem Fels und blauen Seen, dazwischen winzige Hütten und einsame Häuser, alles leuchtend in der Nachmittagssonne, ein Panoramaeindruck von der Weite Kanadas und seiner dünn gesäten Bevölkerung.

«Gut«, sagte George, seine Papiere zusammenraffend.»Ich trinke nur noch meinen Kaffee aus, eh?«

«Gibt es«, fragte ich,»ein Telefon im Zug?«

Er lachte leise.»Das will ich meinen. Aber es ist ein Funktelefon, eh? Klappt nur in der Nähe von Städten, wo es Sender/ Empfänger gibt. Auf kleinen Bahnhöfen müssen wir aussteigen und die normalen Netztelefone benutzen, wie die Passagiere es bei längeren Aufenthalten tun.«

«Aber man kann auch das Zugtelefon benutzen?«fragte ich.

Er nickte.»Es ist ein Zahltelefon für Kreditkarten, eh? Sehr viel teurer. Die meisten Leute vertreten sich lieber die Beine und gehen auf die Bahnhöfe. Es steht in meinem Dienstraum. «Er kam meiner Frage zuvor.»Mein Dienstraum ist im ersten Schlafwagen hinter dem mittleren Speisewagen.«

«Da ist auch mein Abteil«, sagte ich, als ich es ausgeknobelt hatte.

«Na bitte. Sie finden meinen Namen an der Tür.«

Er trank seinen Kaffee aus, schob seine Papiere in eine Mappe und nahm mich wieder mit nach vorn zum Pferdewaggon. Der Drachen öffnete streitlustig auf sein Klopfen und starrte mich mißbilligend an.

«Das ist Tommy«, sagte George.»Er ist ein Sicherheitsbeamter von Merry & Co, eh? Er hat mit meiner Erlaubnis im ganzen Zug freien Zutritt.«

Sie beugte sich ihrerseits der unwiderstehlichen Gewalt und ließ uns rein, wenn auch mit hochgezogenen Brauen und einem Flair von zurückgestellter, nicht abgetretener Macht. Sie holte ein Klemmbrett mit einem Bogen linierten Papiers hervor.»Unterschreiben Sie hier«, sagte sie.»Jeder, der hier reinkommt, muß unterschreiben. Setzen Sie Datum und Uhrzeit hinzu.«

Ich kritzelte» Tommy Titmouse «hin und setzte die Zeit ein. Filmer, sah ich mit Interesse, hatte vor der Abfahrt nach seinem Pferd geschaut.

Wir gingen in den Pferdewaggon hinein, und George zeigte mir alles.

«Es sind elf Boxen, sehen Sie? Früher hat man vierundzwanzig Pferde in so einem Waggon befördert, aber da gab’s keinen Mittelgang, eh? Man konnte während der Fahrt nicht durchlaufen. Jetzt werden kaum noch Pferde mit der Bahn befördert. Der Wagen hier wurde 1958 gebaut, eh? Einer der letzten, einer der besten.«

Links und rechts vom Eingang stand je eine Box längs an der Wand, dann kam ein Zwischenraum, dann wieder zwei Boxen, dann ein Zwischenraum, wo große Schiebetüren Zugang zur Außenwelt gewährten; hier wurde ein- und ausgeladen. Danach kam ein breiterer Mittelbereich mit nur einer Box auf einer Seite. Anschließend wieder zwei Boxen und noch eine Ladefläche, dann zwei weitere Boxen und ein Zwischenraum, und schließlich noch je eine Box zu beiden Seiten der vorderen Tür. Elf Boxen, wie versprochen, plus ein Mittelgang.

Die Boxen waren aus schweren, grün gestrichenen Metallplatten zusammengesetzt und verschraubt; zerlegbar. In dem breiten Bereich in der Wagenmitte, wo nur vor einer Wand eine Box war, stand ein gemütlicher Sessel für die respekteinflößende Miss Brown, dazu ein Tisch, Geräteschränke, ein Kühlschrank und ein KunststoffWassertank mit einem tief angebrachten Hahn zum Füllen der Eimer. George öffnete den Verschluß des Tanks und zeigte mir ein kleines Brett, das auf der Oberfläche schwamm.

«Damit das Wasser nicht so rumschwappt, eh?«

Eh so was, dachte ich.

Dutzende von Heuballen lagen überall in den Ecken, und ein gefülltes Heunetz schaukelte sanft über dem Kopf jedes Pferdes. Ein paar Pfleger saßen auf Ballen herum, während ihre Schützlinge am schlichten Futter knabberten und geheimnisvollen Pferdegedanken nachhingen.

Jede Box war vorsorglich mit einem maschinegeschriebenen Kärtchen versehen, das in einer Halterung an der Tür steckte und den Namen ihres Insassen angab. Ich schaute mir einige davon an und stellte fest, daß Filmers und Daffodils Laurentide Ice ein hellgrauer Hengst mit zerbrechlich wirkenden Knochen war, Voting Right von den Lorrimores ein unscheinbarer Brauner und Sparrowgrass von den Youngs ein Hellfuchs mit Stern und einer weißen Socke.

«Kommen Sie«, sagte George.»Ich stelle Ihnen die Lokführer vor, eh?«Er selbst war kein Pferdemensch.

«Ja. Danke.«

Er schloß die vordere Tür des Pferdewaggons auf und ließ uns mit einem weiteren Schlüssel in den Gepäckwagen ein.

«Die Türen sind immer abgesperrt, eh?«

Ich nickte. Wir gingen schwankend durch den langen Gepäckwagen, der halbleer und sehr laut war, und nachdem George mir geraten hatte, meine Weste auszuziehen und wegzulegen, damit kein Öl drankam, schloß er die Tür am anderen Ende auf. Hatte ich es dort, wo wir waren, schon für laut gehalten, so wurde jetzt jedes Gespräch unmöglich.

George winkte, und ich folgte ihm in die Hitze des Maschinenwagens, in dem sich unter anderem der Kessel befand, der Dampf für die Beheizung des ganzen Zuges lieferte. George deutete wortlos auf den ungeheuren Wassertank und zeigte mir belustigt das System zum Ablesen des Pegelstands. In Abständen den riesigen Zylinder hinauf waren normale Hähne angebracht, wie man sie über Spülbecken findet. George wies auf die danebenstehenden Zahlen im 100-Gallonen-Maß und machte Hahndrehbewegungen mit seinen Händen. Man drehte die Hähne auf, begriff ich ungläubig, um die Höhe des Inhalts zu ermitteln. Überaus logisch, nahm ich an, wenn man noch nie von Wasserstandsmessern gehört hatte.

Wir gingen weiter nach vorn, durch einen langen, schmalen

Gang an heißen, stampfenden Maschinen vorbei, mehr als mannshoch, quälend schmerzhaft für die Sinne, und traten über eine Kupplung dann in die Lok selbst, noch länger, noch lauter, noch heißer, der reinste Höllenspuk. An ihrem vorderen Ende kamen wir zu einer verglasten Tür, die keinen Schlüssel erforderte, und befanden uns plötzlich im vergleichsweise ruhigen Führerstand, ganz an der Spitze des Zuges.

Die Luft war frisch und kühl hier, da das Fenster auf der rechten Seite, neben dem Führerpult, weit offenstand. Als ich eine Bemerkung darüber machte, sagte George, das Fenster sei immer geöffnet, außer bei Schneesturm, eh?

Durch die breiten, nicht zu öffnenden Vorderfenster bot sich ein fesselnder Blick auf den Schienenstrang vor uns, Signale, die in der Ferne grün leuchteten, Bäume, an denen wir mit zweckmäßigen siebzig Meilen die Stunde vorübersausten. Ich war noch nie im Führerstand eines fahrenden Zuges gewesen, und ich hätte den ganzen Tag dort bleiben können.

Am Führerpult saß ein ziemlich junger Mann, der keinerlei Uniform trug, und neben ihm saß ein älterer Mann in einem ziemlich sauberen Overall, mit Schmierfett an den Fingern.

George übernahm die Vorstellung. Robert, das war der jüngere, und Mike, der ältere. Sie nickten und gaben mir die Hand, als George meine Position erklärte.»Helft ihm, wenn er darum bittet.«

Sie sagten, das würden sie tun. George klopfte Robert auf die Schulter und wies mich auf ein weißes Fähnchen hin, das draußen steif neben dem rechten Vorderfenster wehte.

«Der Wimpel zeigt an, daß dies ein Sonderzug ist. Außerplanmäßig. Sonst könnten die Eisenbahner auf der Strecke ja denken, der Canadian sei dreißig Minuten zu früh dran.«

Das hielten sie alle für einen guten Witz. Nirgends auf der Welt kamen Züge zu früh. Verspätung war die Regel.

Immer noch kichernd führte George mich durch die Glastür zurück in das Inferno. Wir schoben uns erneut an dem donnernden Ungetüm und seinem rückwärtigen Ableger vorbei und gelangten endlich in die klappernde, widerhallende Stille des Gepäckwagens, wo meine Weste auf mich wartete. Mein Koffer, sah ich mit Interesse, stand in einer stummen Reihe von anderen, durchaus erreichbar, wenn ich ihn haben wollte.

George sperrte die Gepäckwagentür hinter uns ab, und wir standen wieder in dem ruhigen Pferdewaggon, der anheimelnd und freundlich wirkte, schon weil die Pferde ihre Köpfe über die Türen vorstreckten. Interessant fand ich, daß die meisten, soweit sie es in ihren vielleicht vier Fuß breiten Boxen konnten, diagonal im Raum standen, um mit der Bewegung besser klarzukommen; und alle schauten wach und aufmerksam drein, sichere Anzeichen von Zufriedenheit.

Ich rieb dem einen oder anderen die Nase, unter dem argwöhnisch finsteren Blick von Miss Brown, der es nicht gefiel, mich hereinlassen zu müssen, wann immer ich darum bat, eh?

George verließ leise lachend den Pferdewaggon, und gemeinsam schlängelten wir uns weiter durch den Zug, wobei George immer mal anhielt, um bei den einzelnen Schlafwagenstewards nachzuhören, was es Neues gab, und eventuelle Fragen zu klären. Im Aussichtswagen wurde gesungen, und die Rennbahnbesucher im Dayniter hatten etwa vier getrennte Kartenrunden gebildet, in denen das Geld flott herumging.

Der überlastete und mißmutige Koch im mittleren Speisewagen hatte nicht völlig die Geduld verloren, und nur wenige Fahrgäste hatten beanstandet, daß die Abteile zu eng seien; die an sich häufigste Beschwerde, sagte George.

Niemand war krank, niemand war betrunken, niemand prügelte sich. Alles lief so glatt, meinte George, daß man jeden Moment auf ein Unglück gefaßt sein mußte, eh?

Wir kamen zu guter Letzt zu seinem Büro, das im wesentlichen ein Einbettabteil war wie meines auch, also ein 7 mal 4 Fuß großer Raum auf einer Seite des Durchgangs, ausgestattet mit Waschbecken, Klapptisch und zwei Sitzen, deren einer das verbarg, was der Begleitprospekt genierlich als» sanitäre Einrichtung «bezeichnete. Man konnte die Schiebetür entweder offenlassen und schauen, was draußen auf dem Gang geschah, oder sich in einen privaten Kokon einschließen; und nachts klappte man das Bett von der Decke auf den Sitz der sanitären Einrichtung herunter, womit sie effektiv außer Dienst gestellt war.

George bat mich herein und ließ die Tür auf.

«Dieser Zug«, sagte er, als er es sich in dem Sessel bequem machte und mir die sanitäre Einrichtung zuwies,»ist ein Triumph der Diplomatie, eh?«

Er hatte ein ständiges Lächeln in den Augen, als fände er, das ganze Leben sei ein Witz. Später wurde mir klar, daß er Dummheit für die Norm menschlichen Verhaltens hielt und daß nach seiner Ansicht niemand dümmer war als Passagiere, Politiker, Presseleute und die Leute, die ihm Arbeit gaben.

«Inwiefern«, fragte ich,»ist es ein Triumph?«

«Der gesunde Menschenverstand ist ausgebrochen.«

Ich wartete. Er strahlte und fuhr nach einer Weile fort:»Die Lokführer ausgenommen, bleibt bis Vancouver das gleiche Personal im Zug!«

Ich wirkte nicht hinreichend beeindruckt auf ihn.

«Das ist noch nie dagewesen, eh?«sagte er.»Die Gewerkschaften erlauben es nicht.«

«Oh.«

«Außerdem gehört der Pferdewaggon der Canadian Pacific.«

Ich schaute noch verständnisloser drein.

Er kicherte.»Die Canadian Pacific und VIA Rail, die so eng zusammenarbeiten, vertragen sich wie Schmirgelpapier, immer gut für Reibereien. Canadian-Pacific-Züge sind Güterzüge, und VIA-Züge befördern Personen, und nie sollen die zwei sich verbinden. Der Zug hier ist eine Verbindung. Ein Wunder, eh?«

«Sicherlich«, sagte ich ermutigend.

Er funkelte mich mitleidig an wegen meines mangelnden Verständnisses für die wirklich wichtigen Dinge im Leben.

Ich fragte, ob sein Telefon am nächsten großen Halt funktionieren würde, eine Sache, die ich als wichtig einstufte.

«Sudbury?«sagte er.»Natürlich. Aber da bleiben wir ungefähr eine Stunde. Vom Bahnhof aus ist es viel billiger. Ein Bruchteil vom Preis.«

«Aber hier ist man ungestörter.«

Er nickte gleichmütig.»Kommen Sie her, sobald wir vor Sudbury das Tempo runternehmen. Ich lasse Sie dann hier allein. Ich habe auf dem Bahnhof zu tun.«

Ich dankte ihm für alles und verließ die Einflußsphäre seines strahlenden Lächelns, wohl wissend, daß auch ich ein Beispiel für die allgemein verbreitete Dummheit abgab. George konnte ich noch sehr oft sehen, dachte ich, bevor er mich langweilen würde.

Meine eigene Tür war, wie ich feststellte, nur zwei Türen von seiner entfernt, auf der rechten Zugseite, wenn man nach vorn schaute. Ich ging ohne anzuhalten daran vorbei und sah, daß im vorderen Teil des Wagens insgesamt sechs Einbettabteile waren, drei auf jeder Seite. Dann machte der Gang einen Knick, um vier Zweibettabteilen Platz zu bieten, und führte nach einem weiteren Knick zentral durch einen Bereich mit offenen, durch Vorhänge verschließbaren Abteilen. Die sechs offenen Abteile dieses Wagens waren zwölf Schauspielern und Mitgliedern des Personals zugeteilt, von denen die meisten gerade lasen, sich unterhielten oder fest schliefen.

«Wie läuft’s?«sagte Zak gähnend.

«Alles ruhig an der Westfront.«

«Passiere, Freund.«

Ich lächelte und ging weiter durch den Zug, bekam jetzt ein Gefühl für ihn, verstand, wie er angelegt war, hätte gern auch mehr gewußt über Dinge wie Elektrizität, Wasserversorgung und Kanalisation. Eine kleine moderne Stadt auf Achse, dachte ich, mit der ganzen notwendigen Infrastruktur.

In den Schlafwagen der Besitzer (wo es fast keine offenen Abteile gab) waren alle Türen dicht, denn hier legte man Wert auf Ungestörtheit. Die Räume hätten leer sein können, es ließ sich unmöglich sagen, und als ich in den Sonderspeisewagen kam, fand ich tatsächlich eine ganze Reihe der Passagiere an den ungedeckten Tischen sitzen, nur zum Plaudern. Ich ging zum Aussichtswagen durch, wo es noch drei Schlafräume gab, bevor man in die Bar kam, die ausgestattet war mit Tischen, Sitzplätzen und Barmann. Auch hier saßen einige Leute und unterhielten sich, und wieder andere saßen weiter hinten, in dem langen unteren Gesellschaftsraum.

Von dort führte eine kleine Treppe hoch zum Aussichtsdeck, und ich ging kurz hinauf. Die vielen Sitze hier waren fast alle belegt; die Fahrgäste genossen den ungehinderten Blick auf eine Million leuchtender Bäume unter blauem Himmel und brieten in der heißen Sonne, die durch das Glasdach hereinstrahlte.

Mr. Young war dort oben und schlief. Julius Apollo war nicht da und auch nirgendwo sonst für die Öffentlichkeit sichtbar.

Nell hatte ich ebenfalls nirgends gesehen. Ich wußte nicht, wo sie sich bei ihrer häufigen Umverteilung der Schlafplätze schließlich untergebracht hatte, aber wo immer sie sein mochte, es war hinter einer geschlossenen Tür.

Da nach dem Aussichtswagen nur noch der Privatwagen der Lorrimores kam, den ich schwerlich betreten konnte, kehrte ich um in der Absicht, mich in mein Abteil zurückzuziehen und die

Landschaft auf mich wirken zu lassen.

Im Speisewagen wurde ich von Xanthe Lorrimore aufgehalten, die allein an einem Tisch saß und mürrisch aussah.

«Bringen Sie mir eine Cola«, sagte sie.

«Sehr wohl«, sagte ich und holte eine aus dem Kühlschrank in der Küche, herzlich froh, daß ich zufällig mitbekommen hatte, wo die Softdrink-Dosen waren. Ich stellte die Dose und ein Glas auf eines der kleinen Tabletts (geleitet von Emils Stimme, die sagte:

«Niemals den Gegenstand tragen. Tragen Sie das Tablett.«) und kehrte zu Xanthe zurück.

«Das müßte leider bar bezahlt werden«, sagte ich, als ich das Glas auf den Tisch stellte und mich anschickte, die Dose zu öffnen.

«Was heißt das denn?«

«Sachen aus der Bar gehen extra. Sie sind nicht im Fahrpreis Inbegriffen.«

«Ist doch lachhaft. Außerdem habe ich kein Geld.«

«Sie können gern später zahlen.«

«Ich find das blöd.«

Ich riß die Dose auf und goß die Cola ein, und Mrs. Young, die zufällig allein am Nebentisch saß, drehte sich um und sagte liebenswürdig zu Xanthe, sie, Mrs. Young, werde die Cola bezahlen und ob Xanthe sich nicht zu ihr setzen wolle.

Xanthes erster Impuls war offensichtlich, abzulehnen, doch motzig oder nicht, sie war auch einsam, und Mrs. Young hatte etwas großmütterlich Gütiges an sich, das ein unkritisch lauschendes Ohr versprach. Xanthe zog mit ihrer Cola um und packte damit aus, was sie gerade bewegte.

«Mein Bruder«, sagte sie,»ist ein Arschloch.«

«Vielleicht hat er so seine Probleme«, meinte Mrs. Young gelassen, während sie in ihrer geräumigen, unübersichtlichen Handtasche nach Geld kramte.

«Wäre er der Sohn von jemand anders, säße er im Gefängnis.«

Die Worte sprudelten hervor wie von einem unwiderstehlichen Gefühlsdruck freigesetzt. Xanthe schien selbst erschrocken über das, was sie da herausgelassen hatte, und versuchte lahm, die Wirkung abzuschwächen.»Das habe ich natürlich nicht wörtlich gemeint. «Hatte sie aber.

Mrs. Young, die sich bei ihrer Suche unterbrochen hatte, fand schließlich ihre Geldbörse und gab mir einen Dollar.

«Was zuviel ist, können Sie behalten«, sagte sie.

«Danke, Madam.«

Mir blieb nichts übrig als zu gehen, und ich klemmte den Dollar mit meinem Daumen fest und trug ihn wie einen Ehrenpreis auf dem Tablett zur Küche. Von dort zurückschauend, sah ich, wie Xanthe anfing, mit Mrs. Young zu reden, langsam erst, mit angezogenen Bremsen, und dann immer schneller, bis das ganze Unglück hervorströmte wie eine Flut. Ich konnte Xanthes Gesicht sehen und den Hinterkopf von Mrs. Young. Xanthe, so schien mir, war vielleicht sechzehn, wahrscheinlich aber jünger; bestimmt nicht älter. Sie hatte noch die Gesichtskonturen der Kindheit — rundes Kinn, Augen mit großen Pupillen; dazu kastanienbraunes Haar in Hülle und Fülle und eine heranreifende Figur, verborgen unter einem weiten weißen Pulli mit einem glitzernd rosa Popslogan vorne drauf, das Abzeichen der Jugend.

Sie unterhielten sich noch, als ich weiter zu meinem Abteil ging, wo ich eine Weile in ungestörter Behaglichkeit saß und den Fahrplan studierte. Außerdem ging mir durch den Kopf, daß zu den alten Fragen, auf die ich noch immer keine Antwort hatte, jetzt ein ganzes Paket neuer hinzugekommen war, vor allem die, ob Filmer bereits gewußt hatte, daß die Youngs mit Ezra Gideon befreundet waren. Genau gesagt, ob die Youngs eine Art Zielscheibe waren. Und doch hatte Filmer sich ihren Tisch nicht ausgesucht; dort zu sitzen war eine willkürliche Entscheidung von Daffodil gewesen. Vielleicht hätte er, wenn der Zufall ihm nicht in die Hände gespielt hätte, eine Begegnung herbeigeführt. Oder war ihre Freundschaft mit Gideon bloß ein unwillkommenes Zusammentreffen, wie ich zuerst angenommen hatte? Die Zeit würde vielleicht die Antwort bringen.

Im Augenblick sagte mir die Uhr, daß es halb sechs war, Zeit, mich im Speiseraum zurückzumelden, und als ich dorthin kam, war jeder einzelne Platz bereits besetzt — die Reisenden hatten schnell gelernt. Nachzügler standen etwas ratlos in den Eingängen.

Filmer, sah ich sofort, saß auf dem Platz gegenüber Mercer Lorrimore. Daffodil, neben ihm, saß Bambi gegenüber, die sich unterkühlt freundlich gab.

Xanthe saß immer noch am Tisch von Mrs. Young, zu der sich jetzt auch ihr Mann wieder gesellt hatte. Sheridan war, soweit ich sehen konnte, abwesend. Giles-der-Mörder war präsent, saß bei den Youngs und Xanthe, nett wie immer.

Emil, Oliver, Cathy und ich gingen von Tisch zu Tisch, gossen mit kleinen Bewegungen Wein, Tee oder Kaffee in Gläser oder Tassen auf kleinen Tabletts, und als das getan war, preschte Zak mit neuer Energie geladen auf den Schauplatz, um den Krimi voranzubringen.

Ich hörte mir nicht alles im einzelnen an, doch es drehte sich um Pierre und Donna und Raoul den Galopprenntrainer, der ihr Geld heiraten wollte. Zak hatte die überflüssig gewordene Pierre-schlägt-Raoul-zu-Boden-Szene dadurch ersetzt, daß er Donna Raoul ohrfeigen ließ, und die langte mit einer solchen Wucht hin, daß den Zuschauern die Luft wegblieb. Donna wurde klar als die hoffnungslos verknallte Tochter der nervenschwachen Bricknells herausgestellt, und Mavis war offensichtlich mehr für Raoul als für Pierre, den sie als spielwütigen Taugenichts verabscheute. Mutter und Tochter fingen an, sich schwere Beschimpfungen an den Kopf zu werfen, wovon Walter sie aufgeregt abzubringen suchte. Schließlich begann Mavis zu heulen.

Ich betrachtete die Gesichter der Fahrgäste. Obwohl sie wußten, daß es sich da um Schauspieler handelte, waren sie alle gebannt. Eine Seifenoper war hautnah zum Leben erwacht. Ich hatte immer geglaubt, Rennsportfreunde gehörten zu den zynischsten Leuten der Welt, doch hier waren einige der erfahrensten unter ihnen unwillkürlich bewegt und betroffen.

Zak hielt die Spannung aufrecht, indem er sagte, bei unserem letzten kurzen Zwischenhalt sei ihm ein Telex über Angelicas vermißten Freund Steve ausgehändigt worden. War Angelica anwesend? Alle schauten sich um: Nein, sie war nicht da. Macht nichts, sagte Zak; würde ihr bitte jemand ausrichten, sie solle Steve von Sudbury aus anrufen, er habe wichtige Neuigkeiten für sie.

Viele Leute nickten. Es war erstaunlich.

In Seide gekleidet und juwelenbehangen — wohl zum Beweis, daß Donnas Erbschaft kein Hirngespinst war —, stolperte Mavis Bricknell hinaus zur Toilette am Eingang des Aussichtswagens, um, wie sie sagte, ihr ruiniertes Gesicht in Ordnung zu bringen, und kam bald darauf laut schreiend zurück.

Angelica, so schien es, lag auf dem Boden der Toilette, mausetot. Zak eilte natürlich hin, um zu ermitteln, und ein beachtlicher Teil des Publikums folgte ihm. Die ersten kamen bald wieder, lächelten schwach und wirkten verunsichert.

«Sie kann ja nicht wirklich tot sein«, sagte jemand ernst.»Aber so aussehen tut sie weiß Gott.«

Offenbar war die kleine Kabine ganz voll» Blut«, und Angelicas eingeschlagener Kopf ruhte im Schatten hinter dem Kernstück der sanitären Einrichtung. Angelicas Augen starrten, gerade noch sichtbar, ohne zu blinzeln gegen die Wand.»Wie macht sie das nur?«sagten einige.

Zak kam zurück, sah sich um und winkte mich zu sich.

«Stellen Sie sich bitte vor die Tür dort und lassen Sie niemanden rein, ja?«

Ich nickte und ging zwischen den Leuten durch zum Aussichtswagen. Zak selbst rief jedermann zurück in den Speiseraum und sagte, sie sollten alle zusammenbleiben, bis wir Sudbury erreichten; wir würden bald dort sein. Ich konnte Nells Stimme hören, die ruhig erklärte, daß alle noch Zeit für einen Drink hätten. In Sudbury hätten wir eine Stunde Aufenthalt, so daß jeder sich die Beine vertreten könne, und gleich nach der Abfahrt des Zuges werde das Dinner serviert.

Ich ging durch den klappernden, zugigen Verbindungsgang zwischen Speise- und Aussichtswagen und blieb vor der Toilette stehen. Erfreut war ich nicht gerade über Zaks Einfall, da ich nicht riskieren wollte, daß man mich für einen Schauspieler hielt, obwohl das immer noch sehr viel besser gewesen wäre als die Wahrheit.

Es war langweilig, auf dem Gang zu stehen, erwies sich aber auch als notwendig, denn einige Passagiere kamen wieder, um noch einen Blick auf die Leiche zu tun. Sie nahmen es gutgelaunt hin, daß ich sie wegschickte. Unterdessen hörte man die Leiche, die wohl schließlich doch hatte blinzeln müssen, drinnen die Wasserspülung betätigen.

Als wir verlangsamten, klopfte ich an die Tür.»Nachricht von Zak«, sagte ich.

Die Tür öffnete sich einen Spalt weit. Angelicas Fettschminkenbemalung war ein helles Blaugrau, ihr Haar ein Wust von Tomatenketchup.

«Schieben Sie den Riegel vor«, sagte ich.»Zak kommt gleich. Schließen Sie auf, wenn Sie seine Stimme draußen hören.«

«Gut«, sagte sie, sehr lebendig und vergnügt.»Angenehme Reise noch.«

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