Kapitel 15

Ich ging in den Bergen spazieren und dachte an die unerwarteten Geschenke, die ich erhalten hatte.

Lenny Higgs. Die Kombinationen der Aktentaschenschlösser. Nells Freundschaft. Mrs. Baudelaire. Die Gelegenheit, Szenen für Zak zu erfinden.

Hauptsächlich dies beschäftigte mich, während ich den Weg entlangging, der um den kleinen See herumführte; und die Pläne, die ich für das Manuskript zu entwickeln begann, hatten viel mit dem Ende meines Gesprächs mit Bill Baudelaire zu tun, das beunruhigend gewesen war.

Nachdem er sich bereit erklärt hatte, einen Aushilfspfleger für Laurentide Ice zu besorgen, sagte er, er habe in Assiniboia Downs versucht, mit Mercer Lorrimore zu reden, aber nicht viel damit erreicht.

«Worüber haben Sie geredet?«fragte ich.

«Über unser Objekt. Es erschreckte mich, wie sehr er sich mit den Lorrimores angefreundet hatte. Ich nahm Mercer Lorrimore beiseite und erinnerte ihn an den Prozeß, aber er fertigte mich ziemlich kurz ab. Werde ein Mensch für unschuldig befunden, sagte er, dann sei der Fall erledigt. Er hält anscheinend jeden für gut — und das ist zwar hochanständig, aber nicht vernünftig. «Bills Stimme wurde vor Ernüchterung noch tiefer.»Unser Objekt kann, wie Sie wissen, unwahrscheinlich freundlich sein, wenn er es darauf anlegt. Das tut er mit Sicherheit. Die arme Daffodil hat ihm ja praktisch auch aus der Hand gefressen, und ich möchte wissen, was sie jetzt von ihm hält.«

Ich konnte den Nachhall seiner Stimme in den Bergen hören.

«Eher hochanständig als vernünftig. «Mercer war ein Mensch, der Gutes sah, wo nichts Gutes vorhanden war. Der sich danach sehnte, auch einen guten Sohn zu haben, und für den Unverbesserlichen ewig zahlen würde.

Der Weg um den See führte bergauf, bergab, wand sich streckenweise durch dichtstehende Kiefern, bot dann plötzlich eine atemberaubende Sicht auf die stummen Riesen, die über ihm emporragten, oder gab den Blick frei auf das dunkel türkisblaue Wasser drunten in seiner vollendeten Schale. Während der Nacht hatte es geregnet, so daß die ganze Landschaft im Morgensonnenschein klar und funkelnd dalag; und auf den Bergspitzen und dem Gletscher war der Regen als Schnee niedergegangen, wodurch sie jetzt weißer erschienen, reiner und näher als am Tag zuvor.

Die Luft war kalt, stieg wahrnehmbar wie ein Gezeitenstrom von den vereisten Gipfeln herab, doch die Sonne, in ihrem herbstlichen Höchststand am Himmel, spendete noch immer so viel Wärme, daß das Spazierengehen ein Vergnügen war, und als ich zu einer Stelle kam, wo man vor einem fantastischen Rundblick auf See, Chateau und den Berg dahinter eine Bank postiert hatte, war es auch warm genug, zu rasten und mich hinzusetzen. Ich wischte ein paar Regentropien von der Sitzfläche, ließ mich auf die Bank fallen, vergrub die Hände in den Taschen und schaute geistesabwesend auf das Bilderbuchpanorama, mit den Gedanken im zweiten Gang bei Filmer.

Ich konnte Gestalten sehen, die im Schloßgarten beim Seeufer umherliefen, und dachte ohne Eile daran, vielleicht das Fernglas herauszuholen, um festzustellen, ob einer von ihnen Julius Apollo war. Nicht, daß es viel gebracht hätte, wenn er dort gewesen wäre. Er würde im Blickfeld der Fensterreihen des Chateaus keine brauchbaren Straftaten begehen.

Jemand mit leisen Sohlen kam aus dem Schutz der Bäume den Pfad entlang, blieb stehen und schaute auf den See herunter. Jemand Weibliches.

Ich blickte ohne Neugierde zu ihr hinüber, sah eine Rückansicht von Jeans, blauem Parka, weißen Turnschuhen und einer weißen Strickmütze mit purpurroten Bommeln; dann drehte sie sich um, und ich sah, daß es Xanthe Lorrimore war.

Sie schien enttäuscht, die Bank bereits besetzt zu finden.

«Stört es Sie, wenn ich mich hersetze?«sagte sie.»Es ist ein langer Weg. Ich habe müde Beine.«

«Nein, natürlich nicht. «Ich stand auf und wischte den restlichen Teil der Bank für sie trocken.

«Danke. «Sie lümmelte sich nach Teenagerart hin, und ich nahm meinen Platz wieder ein, mit einem Meter Abstand zwischen uns.

Sie zog die Stirne kraus.»Hab ich Sie nicht schon mal gesehen?«fragte sie.»Sind Sie aus dem Zug?«

«Ja, Miss«, sagte ich, denn es zu leugnen war zwecklos, da sie mich bald wieder im Speisewagen sehen und mich erkennen würde.»Ich gehöre zum Personal.«

«Oh. «Sie schickte sich unwillkürlich an aufzustehen, beschloß dann im nächsten Moment aus Müdigkeit, es doch nicht zu tun, und entspannte sich.»Sind Sie«, sagte sie gedehnt, auf Distanz bleibend,»einer von den Kellnern?«

«Ja, Miss Lorrimore.«

«Derjenige, der mir sagte, ich müsse die Cola bezahlen?«

«Ja, tut mir leid.«

Sie zuckte die Achseln und sah auf den See runter.»Wahrscheinlich«, sagte sie in ungehaltenem Ton,»ist das ja alles ziemlich doll, aber im Grunde langweilt es mich.«

Sie hatte dichtes, nahezu glattes kastanienbraunes Haar, das ihr in einer Welle über die Schultern fiel, und sie hatte feine helle Haut und wunderbare Augenbrauen. Sie würde einmal schön sein, dachte ich, außer wenn sie zuließ, daß der mürrische Zug um den Mund ihr nicht nur das Gesicht, sondern das ganze

Leben verdarb.

«Manchmal wünschte ich, ich wäre arm wie Sie«, sagte sie.

«Dann wäre alles einfach. «Sie warf mir einen Blick zu.»Wahrscheinlich halten Sie mich für verrückt, daß ich das sage. «Sie hielt inne.»Meine Mutter würde sagen, ich sollte sowieso nicht mit Ihnen reden.«

Ich tat, als wollte ich aufstehen.»Ich gehe, wenn Sie möchten«, sagte ich höflich.

«Nein, bleiben Sie. «Sie war unerwartet heftig und staunte sogar selbst darüber.»Ich meine… sonst ist doch keiner da, mit dem man reden kann. Ich meine… na ja.«

«Ich verstehe schon«, sagte ich.

«Ja?«Sie war verlegen.»Ich wollte eigentlich auch mit dem Bus fahren. Meine Eltern glauben, ich sei in dem Bus. Ich wollte mit Rose… Mrs. Young… und mit Mr. Young los. Aber er. «Sie verstummte, doch das kindliche Verlangen zu reden war wieder sehr stark bei ihr und fegte ihre Zurückhaltung über Bord.»Er ist nie so nett zu mir wie sie. Ich glaube, er hat mich satt. Cumber, ist das nicht ein blöder Name? Cumberland eigentlich. Das ist eine Gegend in England, wo seine Eltern die Flitterwochen verbracht haben, sagt Rose. Albert Cumberland Young heißt er. Rose fing an, ihn Cumber zu nennen, als sie sich kennenlernten, weil sie fand, das klinge gemütlicher, aber der ist überhaupt nicht gemütlich, wissen Sie, der ist steif und zugeknöpft. «Sie brach ab und blickte zum Chateau hinunter.»Warum gehen die ganzen Japaner zusammen auf Hochzeitsreise?«

«Ich weiß es nicht.«

«Vielleicht nennen sie ihre Kinder alle Lake Louise.«

«Sie könnten es schlechter treffen.«

«Wie heißen Sie denn?«fragte sie.

«Tommy, Miss Lorrimore.«

Dazu äußerte sie sich nicht. Sie fühlte sich nur halb wohl in meiner Gesellschaft, war sich zu sehr meiner Stellung bewußt. Vor allen Dingen aber wollte sie reden.

«Kennen Sie meinen Bruder Sheridan?«sagte sie.

Ich nickte.

«Das Dumme bei Sheridan ist, daß wir zu reich sind. Er glaubt, er ist allen anderen überlegen, weil er mehr Geld hat. «Sie schwieg.»Was halten Sie davon?«Es war teils eine Herausforderung, teils eine verzweifelte Frage, und ich antwortete ihr aufrichtig.

«Ich glaube, es ist sehr schwierig, sehr reich zu sein, wenn man sehr jung ist.«

«Wirklich?«Sie war erstaunt.»Aber das wünscht sich doch jeder.«

«Wenn man alles haben kann, vergißt man, wie es ist, etwas entbehren zu müssen. Und wenn man alles bekommt, lernt man nie sparen.«

Das tat sie mit einer Handbewegung ab.»Sparen ist sinnlos. Meine Großmutter hat mir Millionen vermacht. Und Sheridan auch. Wahrscheinlich finden Sie das furchtbar. Er glaubt, er hat’s verdient. Er glaubt, er kann sich alles erlauben, weil er reich ist.«

«Sie könnten das Geld weggeben«, sagte ich,»wenn Sie es furchtbar finden.«

«Würden Sie das tun?«

Ich sagte bedauernd:»Nein.«

«Na bitte.«

«Ich würde einen Teil weggeben.«

«Ich habe Treuhänder, und die erlauben mir das nicht.«

Ich lächelte schwach. Ich hatte Clement Cornborough gehabt. Treuhänder, so hatte er mich einmal streng belehrt, waren dazu da, Vermögen zu bewahren und zu mehren, nicht aber, um zuzulassen, daß es verpulvert wurde; und er werde einem Fünfzehnjährigen nicht erlauben, eine Farm für ausgediente Rennpferde zu finanzieren.

«Wieso glauben Sie, daß Reichsein schwer ist?«wollte sie wissen.»Es ist leicht.«

«Sie sagten doch gerade, das Leben wäre einfach, wenn Sie arm wären«, erwiderte ich neutral.

«Ja, schon. Das meinte ich wohl nicht ernst. Oder nicht so ganz. Ich weiß nicht, ob ich das ernst gemeint habe. Warum ist es schwierig, reich zu sein?«

«Zuviel Versuchung. Zuviel Schädliches, was man sich leisten kann.«

«Meinen Sie Drogen?«

«Alles mögliche. Zu viele Paar Schuhe. Selbstüberhebung.«

Sie zog ihre Füße auf die Bank, schlang die Arme um ihre Knie und sah mich darüber hinweg an.»Diese Unterhaltung wird mir keiner abnehmen. «Sie schwieg.»Wären Sie gern reich?«

Es war eine unbeantwortbare Frage. Ausweichend sagte ich wahrheitsgemäß:»Ich würde nicht gern verhungern.«

«Mein Vater meint«, erklärte sie,»man ist nicht besser, weil man reicher ist, sondern reicher, weil man besser ist.«

«Hübsch.«

«Er sagt dauernd solche Sachen. Manchmal verstehe ich sie nicht.«

«Ihr Bruder Sheridan«, sagte ich vorsichtig,»scheint nicht sehr glücklich zu sein.«

«Glücklich!«Sie war geringschätzig.»Der ist doch nie zufrieden. Den hab ich fast in seinem ganzen Leben noch nicht froh und glücklich gesehen. Außer, daß er manchmal über Leute lacht. «Sie war unschlüssig.»Wenn er lacht, muß er wohl auch froh sein. In Wirklichkeit verachtet er sie aber — deshalb lacht er. Ich wünschte, ich könnte Sheridan gern haben. Ich wünschte, ich hätte einen tollen Bruder, der sich um mich kümmert und mit mir rumzieht. Das würde Spaß machen. Aber mit Sheridan geht das natürlich nicht, da gibt es bloß Ärger. Er ist fürchterlich auf dieser Reise. Viel schlimmer als sonst. Ich meine, es ist doch peinlich mit ihm.«

Sie runzelte die Stirn, mochte ihre Gedanken nicht.

«Irgend jemand sagte«, tippte ich an, ohne mein starkes Interesse durchblicken zu lassen,»er habe in England ein bißchen Ärger gehabt.«

«Ein bißchen Ärger? Ich dürfte es Ihnen nicht sagen, aber er hätte ins Gefängnis gehört, nur daß sie nicht auf einer Anklage bestanden haben. Ich glaube, mein Vater hat sie mit Geld abgefunden… und das ist jedenfalls der Grund, weshalb Sheridan im Augenblick tut, was meine Eltern sagen — sie haben gedroht, ihn vor Gericht stellen zu lassen, wenn er auch nur piep sagt.«

«Könnte er noch vor Gericht gestellt werden?«fragte ich ohne Nachdruck.

«Was ist Verjährung?«

«Eine Frist«, sagte ich,»nach der man für eine bestimmte Straftat nicht mehr belangt werden kann.«

«In England?«

«Ja.«

«Sie sind Engländer, nicht wahr?«fragte sie.

«Ja.«

«Er sagte: >Sparen Sie sich die Worte. Verjährung läuft nicht.««

«Wer sagte das?«

«Ein Rechtsanwalt, glaube ich. Was hat er damit gemeint? Soll das heißen, Sheridan ist… ist…«»Verwundbar?«

Sie nickte.»Für… immer?«

«Vielleicht für lange Zeit.«

«Zwanzig Jahre?«Ein unvorstellbarer Zeitraum, besagte ihr Tonfall.

«Es müßte schon sehr schlimm gewesen sein.«

«Ich weiß nicht, was er getan hat«, sagte sie verzweifelt.»Ich weiß nur, daß es diesen Sommer verdorben hat. Absolut verdorben. Und eigentlich müßte ich jetzt in der Schule sein, aber sie haben mich mit auf die Reise genommen, weil sie mich nicht allein im Haus lassen wollten. Na ja, nicht ganz allein, aber allein bis auf die Dienstboten. Und zwar deshalb nicht, weil meine Kusine Susan Lorrimore, die ist siebzehn, im Sommer mit dem Sohn ihres Chauffeurs abgehauen ist, und dann haben die geheiratet, und es gab einen Aufstand in der Familie. Dabei kann ich verstehen, warum sie’s getan hat — dauernd haben sie sie in dem Riesenhaus allein gelassen und sind nach Europa getourt; sie ist fast vergangen vor Langeweile, und überhaupt scheint der Chauffeurssohn blitzgescheit und süß zu sein, und sie hat mir eine Karte geschrieben, daß sie rein gar nichts bereut. Meine Mutter hat eine Heidenangst, jetzt würde ich auch abhauen mit irgend so einem.«

Sie unterbrach sich jäh, blickte mich ein wenig verstört an und sprang auf.

«Ich hab’s vergessen«, sagte sie.»Ich hab nicht mehr dran gedacht, daß Sie ein.«

«Ist schon gut«, sagte ich, ebenfalls aufstehend.»Wirklich.«

«Wahrscheinlich rede ich zuviel. «Sie war besorgt und unsicher.»Sie werden doch nicht.«

«Nein. Kein Wort.«

«Cumber riet mir, meine Zunge im Zaum zu halten«, sagte sie verärgert.»Er weiß ja nicht, wie es ist, wenn man in einem

Mausoleum lebt, wo jeder den anderen finster ansieht und Daddy krampfhaft lächelt. «Sie schluckte.»Was würden Sie tun«, wollte sie wissen,»wenn Sie an meiner Stelle wären?«

«Ihren Vater zum Lachen bringen.«

Sie war verwirrt.»Meinen Sie. ihm Freude machen?«

«Er braucht Ihre Liebe«, sagte ich. Ich deutete auf den Weg zurück zum Chateau.»Wenn Sie vorgehen wollen — ich komme dann nach.«

«Gehen Sie doch mit mir.«

«Nein. Besser nicht.«

In einem Wirrwarr von Gefühlen, zu dessen Klärung ich wenig beigetragen hatte, brach sie auf, schaute sich noch zweimal um, bis sie in einer Wegbiegung verschwand, und ich setzte mich, obwohl mir jetzt kalt wurde, wieder auf die Bank, dachte über das nach, was sie erzählt hatte, und war dankbar wie eh und je für Tante Viv.

Mit Xanthe war nicht viel verkehrt, dachte ich. Einsam, bekümmert, zuwendungsbedürftig, noch fremd in der Welt der Erwachsenen, sehnte sie sich in erster Linie nach genau dem gleichen, was sich Mercer selbst wünschte — eine freundliche Familiengemeinschaft. Es war ihr nicht eingefallen, ihre Eltern vor den Kopf zu stoßen, indem sie sich an einen Kellner kuschelte; ganz im Gegenteil. Sie hatte mich ihre Distanz spüren lassen, war jedoch keineswegs falsch oder unaufrichtig zu mir gewesen. Ich hätte nichts gegen eine jüngere Schwester wie sie einzuwenden gehabt, mit der ich herumziehen und etwas Lustiges hätte unternehmen können. Ich hoffte, sie würde lernen, in Frieden mit ihrem Geld zu leben, und dachte, daß vielleicht ein Monat Dienst an anderen Leuten, bei einem guten Team wie Emil, Oliver und Cathy, die beste Erziehung wäre, die sie bekommen könnte.

Nach einer Weile suchte ich das ganze Schloß und seine Gärten mit dem Fernglas ab, konnte Filmer aber nicht entdecken, was nicht weiter verwunderlich war. Schließlich brach ich auf, machte einen Umweg hinauf zum Fuß des Gletschers und stapfte den rissigen, verharschten, gräulich braungrünen Rand des Eisflusses entlang.

Laurentide Ice, so hatte ein kundiger Fahrgast zu Beginn der Reise gesagt, sei der Name einer der letzten gewaltigen polaren Eisdecken, die vor zwanzigtausend Jahren den größten Teil Kanadas überzogen hatten. Worauf Daffodil nickend erklärte, ihr Mann habe das Pferd so genannt, weil er sich für Vorgeschichte interessierte, und sie wolle ihr nächstes Pferd Cordilleran Ice nennen, nach der Eiskappe, die die Rockies überzogen hatte. Ihrem Mann würde das gefallen haben, meinte sie. Womöglich stand ich gerade auf vorgeschichtlichem kordillerischem Eis, dachte ich, aber wenn Gletscher sich schneller bewegten als die Geschichte, vielleicht auch nicht. Jedenfalls verloren die Belange Julius Apollos aus dieser Sicht etwas an Bedeutung.

Zurück im Chateau, ging ich nach oben und entwarf eine neue Szene für das Manuskript, und kaum hatte ich sie fertig, klopfte auch schon Zak an, um danach zu fragen. Wir gingen in sein Zimmer, wo sich die Darsteller bereits für die Probe versammelt hatten, und ich blickte in die siebenköpfige Runde und fragte, ob uns noch Bettler Ben zu Diensten stand, der nicht im Raum war. Nein, sagte Zak; er sei nach Toronto zurückgekehrt. Spielte es eine Rolle?

«Eigentlich nicht. Er hätte als Bote auftreten können, aber ich nehme an, das läßt sich umgehen.«

Sie nickten.

«Gut«, sagte Zak, auf seine Uhr schauend.»In zweieinhalb Stunden sind wir auf der Bühne. Was fangen wir an?«

«Als erstes«, sagte ich,»kriegt. Raoul sich mit Pierre in die Wolle. Raoul ist sauer, weil man ihn als Angelicas Mann entlarvt hat, und er sagt, er weiß definitiv, daß Pierre Tausende

Dollar Spielschulden hat, die er nicht bezahlen kann, und er weiß auch, wem Pierre sie schuldet, und er sagt, der Mann sei dafür bekannt, daß er Leute, die nicht zahlen, zusammendrischt.«

Raoul und Pierre nickten.»Da bringe ich ein paar Einzelheiten rein«, sagte Raoul.»Ich werde sagen, daß die Schulden aus illegalen Pferdewetten stammen und daß ich davon gehört habe, weil es um die Pferde der Bricknells ging, okay?«

«Ja, okay. Dann hält Raoul Pierre vor, seine einzige Chance, das Geld zusammenzukriegen, sei, daß er Donna heirate, und Walter Bricknell sagt, wenn Donna so blöd ist, Pierre zu heiraten, bekommt sie keinen roten Heller von ihm. Unter gar keinen Umständen wird er Pierres Schulden bezahlen.«

Alle nickten.

«An dem Punkt kommt Mavis Bricknell schreiend in den Salon und sagt, daß ihr ganzer schöner Schmuck gestohlen worden ist.«

Sie setzten sich steil auf. Mavis lachte und klatschte in die Hände.»Wer hat ihn gestohlen?«sagte sie.

«Alles zu seiner Zeit«, lächelte ich.»Raoul beschuldigt Pierre, Pierre beschuldigt Raoul, und sie fangen an, sich herumzuschubsen, lassen ihren ganzen gegenseitigen Haß raus. Schließlich schreitet Zak ein, trennt sie und sagt, sie werden jetzt alle losziehen und sowohl Pierres als auch Raouls Zimmer nach dem Schmuck durchsuchen. Zak, Raoul, Pierre und Mavis gehen ab.«

Sie nickten.

«Bleiben also«, sagte ich,»Donna, Walter Bricknell und Giles noch im Salon. Donna und Walter streiten sich wieder wegen Pierre, Donna unterdrückt ein paar Tränen, und dann kommt Giles aus dem Publikum, um Donna beizuspringen, und sagt, sie hat etwas Schlimmes erlebt, seiner Meinung nach sollten sich jetzt alle mal ein bißchen vertragen.«

Giles sagte:»Gut, okay. Auf geht’s.«

«Dann«, sagte ich,»kommen Zak und die anderen zurück. Sie haben den Schmuck nicht gefunden. Giles fängt an, auch Mavis zu trösten. Mavis sagt, sie hat nur für ihre Schmucksammlung gelebt, jedes einzelne Stück davon hat sie geliebt. Sie ist außer sich. Das zeigt sie auch.«

«Herrlich«, sagte Mavis.

«Walter«, fuhr ich fort,»sagt, er kann Schmuck nichts abgewinnen. Sein Schmuck sind seine Pferde. Er lebt nur für seine Pferde. Er setzt noch eins drauf und sagt, wenn er nicht zum Pferderennen gehen und seine Pferde laufen sehen könnte, wäre er lieber tot. Er würde sich umbringen, wenn er keine Pferde haben könnte.«

Walter runzelte die Stirn, nickte aber eifrig. Er hatte bisher keine besondere Rolle gespielt; jetzt bekam auch er eine große Szene, so schwierig es sein mochte, sie überzeugend zu bringen.

«Dann sagt Walter, daß Raoul ihm die Freude an seinen Pferden vergällt und allen die Reise vermiest, und kündigt ihm offiziell als seinem Trainer. Raoul protestiert und sagt, er hat den Rausschmiß nicht verdient. Walter sagt, daß Raoul wahrscheinlich ein Mörder und ein Juwelendieb ist und ihn mit seinen Pferden hereingelegt hat. Rasend geht Raoul auf Walter los. Zak reißt ihn zurück und bittet alle, sich zu beruhigen. Er sagt, er wird die Durchsuchung sämtlicher Zimmer veranlassen, damit der Schmuck sich vielleicht doch noch findet, und er wird den Hoteldetektiv hinzuziehen und nötigenfalls die Polizei einschalten. Alle machen ein Gesicht, als ob sie die Polizei nicht dabeihaben wollen. Ende der Szene.«

Ich wartete auf ihre kritischen Einwände und Änderungsvorschläge, doch es kamen nur sehr wenige. Ich gab meinen Entwurf Zak, der ihn mit den betreffenden Schauspielern Schritt für Schritt noch einmal durchging, und alle begannen leise vor sich hm zu sprechen, während sie sich ihren Text ausdachten.

«Und was passiert morgen?«fragte Zak schließlich.»Wie lösen wir das Ganze?«

«Das hab ich noch nicht zu Papier gebracht«, sagte ich.

«Aber Sie haben’s im Kopf? Könnten Sie es heute abend schreiben?«

Ich nickte zweimal.

«Gut«, sagte er.»Am besten treffen wir uns morgen nach dem Frühstück alle wieder hier. Wir werden gründlich proben müssen, vielleicht zwei oder auch drei Durchläufe, um sicherzugehen, daß alles sitzt. Die losen Fäden verknüpfen und ähnliches. Denkt auch alle dran, daß wir morgen wieder im Speisewagen sind. Wenig Platz für Raufereien und so weiter, also packt heute abend die volle Action rein.«

«Morgen wird auf Pierre geschossen«, sagte ich.

«Ach du Schreck«, sagte Pierre.

«Aber es ist nicht tödlich. Sie können weiterreden.«

«Noch besser.«

«Allerdings werden Sie etwas Blut brauchen.«

«Prima«, sagte Pierre.»Wieviel?«

«Tja…«Ich lachte.»Ich überlasse es Ihrer Entscheidung, wo die Kugel hingeht und welche Mengen Blut man den Reisenden zumuten kann, nur ist es gut, wenn Sie hinterher noch am Leben sind.«

Sie wollten wissen, was ich sonst noch auf Lager hatte, doch das mochte ich ihnen nicht erzählen. Wüßten sie erst Bescheid, sagte ich, würden sie sich vielleicht verplappern, und sie wandten ein, dafür seien sie viel zu professionell. Aber ich traute ihren improvisierenden Zungen nicht so ganz, und sie zuckten die Achseln und gaben bereitwillig nach.

Ich sah mir die Probe an, die recht gut zu laufen schien, doch sie war gar nichts, versicherte Zak mir hinterher, gegen die Live-Vorstellung zur Cocktailstunde.

Er kam wie am vorhergehenden Abend wieder um elf in mein Zimmer und trank erschöpft den wohlverdienten Whisky.

«Die zwei da, Raoul und Pierre, die haben sich wirklich rangeschmissen«, sagte er.»Sie haben beide nämlich auf der Schauspielschule Bühnenkampf und Schaunummern gelernt. Sie hatten die Prügelszene vorher ausgearbeitet, und es ging unheimlich rund. Durch die ganze Örtlichkeit. Ein Jammer, das abzubrechen. Die Hälfte der Passagiere hat ihre Getränke verschüttet, als Raoul und Pierre sich vor ihren Füßen am Boden gewälzt und verdroschen haben, und wir mußten allen gratis nachschenken. «Er lachte.

«Die gute Mavis hat einen auf große Tragödie gemacht, als sie von dem Schmuckdiebstahl berichtete, und später noch gewaltig auf die Tränendrüsen gedrückt, weil doch all die schönen Erinnerungen, die sie mit dem Schmuck verband, jetzt auch verblassen würden. Brachte das halbe Publikum zum Weinen. Fabelhaft. Dann kriegte auch Walter seinen Auftritt ganz gut hin, wenn man bedenkt, daß er sich bei mir beklagt hat, kein halbwegs normaler Mensch würde sich umbringen, bloß weil er keine Pferde hat, die an Rennen teilnehmen können. Und hinterher, stellen Sie sich vor, fragte mich einer von den Fahrgästen, wo wir das herhätten, daß einer sich umbringt, weil er keine Pferde laufen lassen kann.«

«Was haben Sie ihm gesagt?«fragte ich mit plötzlicher Besorgnis.

«Ich sagte, ich hätte es aus der Luft gegriffen. «Er sah, wie ich mich ein wenig entspannte, und fragte:»Wie sind Sie denn darauf gekommen?«

«Vor nicht allzu langer Zeit hörte ich von jemand, der genau das getan hat.«

«Verrückt.«

«M-hm. «Ich hielt inne.»Wer hat Sie gefragt?«

«Weiß ich nicht mehr. «Er dachte nach.»Könnte sein, daß es Mr. Young war.«

Das konnte allerdings sein, dachte ich. Ezra Gideon war sein Freund.

Es konnte auch Filmer gewesen sein. Ezra Gideon war sein Opfer.

«Sind Sie sicher?«fragte ich.

Er überlegte noch einmal.»Ja — Mr. Young. Er saß da mit seiner entzückenden Frau, und er stand auf und kam durch den Saal, um zu fragen.«

Ich trank Wein und sagte im Plauderton:»Hat sonst noch jemand reagiert?«

Zaks Aufmerksamkeit, niemals tief schlummernd, erwachte zu einer intuitiven Erkenntnis.

«Wittere ich da«, sagte er,»einen Hauch von Hamlet?«

«Wie meinen Sie das?«fragte ich, obwohl ich genau wußte, was er meinte.

«Das Schauspiel sei die Schlinge, in die den König sein Gewissen bringe? Richtig? War es das, was Sie vorhatten?«

«In milder Form.«

«Und morgen?«

«Morgen auch«, gab ich zu.

Er sagte grübelnd:»Sie bringen doch keinen von uns in Schwierigkeiten? Nicht, daß man uns einen Beleidigungsprozeß anhängt oder so was?«

«Ich gebe Ihnen mein Wort darauf.«

«Vielleicht sollte ich Sie das Manuskript für morgen nicht schreiben lassen.«

«Sie müssen tun, was Sie für das Beste halten. «Ich nahm das fertige Manuskript vom Tisch neben mir und reckte mich vor, um es ihm zu geben.»Lesen Sie’s erst mal, dann entscheiden Sie.«

«Okay.«

Er setzte sein Glas ab und begann zu lesen. Er las bis zum Ende und hob schließlich ein lächelndes Gesicht.

«Das ist toll«, sagte er.»All meine ursprünglichen Ideen, überlagert von Ihren.«

«Gut. «Ich war erleichtert, daß es ihm gefiel, und fand ihn großzügig.

«Wo klingt da Hamlet an?«

«Bei dem, der nicht weislich liebt, sondern zu sehr.«

«Das ist Othello.«

«Pardon.«

Er dachte nach.»Mir kommt es ja ganz harmlos vor, aber…«

«Ich will nichts weiter«, sagte ich,»als bestimmten Leuten die Augen öffnen. Sie warnen vor dem Weg, den sie beschreiten. Ich kann nicht gut hingehen und es ihnen auf den Kopf zu sagen, oder? Von Tommy würden sie den Rat nicht annehmen. Sie würden ihn wahrscheinlich von keinem annehmen. Aber wenn sie etwas gespielt sehen… daraus können sie lernen.«

«Wie Hamlets Mutter.«

«Ja.«

Er trank einen Schluck Whisky.»Wen möchten Sie warnen und wovor?«

«Das sage ich Ihnen lieber nicht, dann trifft Sie auch keine Schuld.«

«Wozu sind Sie eigentlich wirklich im Zug?«fragte er stirnrunzelnd.

«Das wissen Sie doch. Um alle bei Laune zu halten und den Bösen einen Strich durch die Rechnung zu machen.«

«Und dabei hilft diese Szene?«»Ich hoffe es.«

«Na schön. «Er entschloß sich.»Ich habe nichts dagegen, den Bösen ins Handwerk zu pfuschen. Wir werden unser Bestes tun.«

Plötzlich grinste er.»Der Hamlet-Aspekt wird den anderen gefallen.«

Ich erschrak.»Nein… bitte sagen Sie ihnen nichts davon.«

«Warum denn nicht?«

«Die Fahrgäste sollen denken, jede Ähnlichkeit zwischen der Handlung und ihrem eigenen Leben sei rein zufällig. Ich möchte nicht, daß ihnen die Schauspieler hinterher sagen, daß alles beabsichtigt war.«

Er lächelte schief.»Also doch üble Nachrede?«

«Nein. Da besteht keine Gefahr. Es ist nur… sie sollen nicht herausbekommen, daß ich es bin, der so viel über sie weiß. Falls jemand die Schauspieler fragt, woher die Handlung stammt, wäre es mir viel lieber, sie würden sagen, von Ihnen.«

«Damit ich in der Scheiße lande?«Er sagte es aber gutgelaunt.

«Sie sind doch über jeden Verdacht erhaben. «Ich lächelte schwach.»Abgesehen von zu vereitelnden Schurkenstreichen heißt Erfolg für mich, daß ich bis zum Schluß hinter Tommy verborgen bleibe und aus dem Zug steige, ohne enttarnt worden zu sein.«

«Sind Sie eine Art Agent?«

«Ein Sicherheitsbeamter, sonst nichts.«

«Kann ich Sie in mein nächstes Stück reinbringen? Meinen nächsten Eisenbahnkrimi?«

«Bitte sehr.«

Er lachte, gähnte, stellte sein Glas hin und stand auf.

«Also, Sportsfreund, wer immer Sie auch sind«, sagte er,»es war lehrreich, Sie kennenzulernen.«

Nell rief früh um sieben in meinem Zimmer an.»Sind Sie wach?«sagte sie.

«Hellwach.«

«Heute nacht hat es wieder geschneit. Die Berge sind weiß.«

«Ich kann sie sehen«, sagte ich,»von meinem Bett aus.«

«Schlafen Sie bei offenen Vorhängen?«

«Immer. Sie auch?«

«Ja.«

«Sind Sie angezogen?«fragte ich.

«Ja. Womit hat das denn was zu tun?«

«Mit Abwehrbereitschaft, auch am Telefon.«

«Ich hasse Sie.«

«Man kann nicht alles haben.«

«Hören Sie zu«, sagte sie streng, ein Lachen unterdrückend.

«Mal vernünftig jetzt. Ich wollte fragen, ob Sie heute nachmittag, wenn die Reise weitergeht, wieder zum Bahnhof laufen oder mit dem Personalbus runterfahren möchten.«

Ich überlegte.»Mit dem Bus, denke ich.«

«Okay. Dieser Bus fährt um 15 Uhr 35 vor dem Gesindehaus ab. Nehmen Sie Ihre Tasche mit.«

«In Ordnung. Danke.«

«Der ganze Zug mit Pferden, Rennbahnbesuchern und allem trifft von Banff kommend um 16 Uhr 15 auf dem Bahnhof Lake Louise ein. So haben die Fahrgäste reichlich Zeit, einzusteigen und wieder ihre Abteile zu belegen, und können in Ruhe mit dem Auspacken anfangen, bevor wir Lake Louise um Punkt 16 Uhr 35 verlassen. Da der reguläre Zug — der Canadian — wieder hinter uns ist und Lake Louise um 17 Uhr 10 verläßt, müssen alle beizeiten an Bord sein, damit wir pünktlich abfahren können.«

«Versteht sich.«»Das alles werde ich den Fahrgästen beim Frühstück erzählen und auch, daß wir um halb sechs im Speisewagen Sekt und Appetithappen für jedermann servieren, und um sechs gibt’s die Auflösung des Krimis und danach Cocktails für den, der mag, und dann das Galabankett. Anschließend kommen die Schauspieler zu Fotoaufnahmen und Diskussionen beim Cognac wieder. Das hört sich alles teuflisch an.«

Ich lachte.»Es wird wie am Schnürchen laufen.«

«Wenn ich damit fertig bin, gehe ich ins Kloster.«

«Da wüßte ich aber Besseres.«

«Was denn zum Beispiel?«

«Hawaii?«

Es war plötzlich still in der Leitung. Dann sagte sie:»Ich muß zurück an meinen Schreibtisch…«

«Den Schreibtisch könnten wir mitnehmen.«

Sie kicherte.»Ich hör mich mal nach den Frachtmöglichkeiten um.«

«Also abgemacht?«

«Nein… ich weiß nicht… Ich gebe Ihnen in Vancouver Bescheid.«

«Vancouver«, sagte ich,»ist morgen früh.«

«Dann eben nach den Rennen.«

«Und vor dem Klipper?«

«Geben Sie jemals auf?«

«Das kommt auf die Signale an«, sagte ich.

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