Kapitel 3

Ich wandte sofort, aber ruhig den Blick ab und sah etwas später wieder hm.

Filmer unterhielt sich noch mit dem Buchmacher. Ich schob mich durch das Gedränge hinter mir nach oben, bis ich etwa fünf Reihen höher war und umgeben von anderen Rennbahnbesuchern.

Filmer blickte nicht zu der Stelle zurück, an der ich gestanden hatte. Er blickte nicht suchend umher, um zu sehen, wo ich geblieben war.

Mein klopfendes Herz beruhigte sich ein wenig. Der Blickkontakt war zufällig — mußte ein Zufall gewesen sein. Dennoch furchtbar unangenehm, gerade jetzt.

Ich hatte nicht erwartet, daß er in Nottingham sein würde, und nicht nach ihm Ausschau gehalten. Zwei seiner Pferde sollten zwar laufen, aber Filmer selbst kam nie zu den Midlandbahnen von Nottingham, Leicester oder Wolverhampton. Wie in so vielem anderen, hatte er auch bei Rennbahnen bestimmte Vorlieben: immer ein Gewohnheitstier.

Ich verzichtete darauf, seine Schritte genau zu überwachen, denn das war nicht nötig. Vor dem nächsten Rennen würde er unten am Führring sein, um zu sehen, wie sein Pferd herumgeführt wurde, und dort konnte ich ihn wieder einholen. Ich sah nur zu, wie er die Wette klarmachte und davonging, um wegen des anstehenden Rennens die Tribüne hinaufzusteigen; allem Anschein nach war er allein, und auch das war ungewöhnlich, meistens stand die Freundin oder der männliche Begleiter unterwürfig in Bereitschaft.

Das Rennen begann, und ich verfolgte es interessiert. Der geschwätzige Lehrling selbst ritt zwar nicht mit, doch der Stall,der ihn beschäftigte, hatte einen Starter. Der Starter trat als dritter Favorit an und wurde Drittletzter. Ich warf einen Blick auf Collie Goodboy und sah ihn lächeln. Ein häufiger, trauriger, betrügerischer Vorgang, der dem Rennsport nicht guttat.

Filmer lief die Tribüne hinunter und strebte den Sattelboxen zu, um, wie er es immer tat, die letzten Vorbereitungen für den Lauf seines Pferdes zu überwachen. Ich zockelte vorsichtshalber hinter ihm her, aber er ging tatsächlich dorthin. Von da zum Führring, von da zu demselben Buchmacher wie vorher, um eine Wette anzulegen, von da zur Tribüne, um sein Pferd laufen zu sehen. Von da zum Absattelplatz für den Zweiten.

Filmer nahm die Niederlage gelassen hm und beglückwünschte wie immer demonstrativ den siegreichen Besitzer, in diesem Fall eine beleibte Dame mittleren Alters, die errötete und sich offenbar geschmeichelt fühlte.

Filmer verließ den Absattelplatz mit einem selbstzufriedenen Grinsen und sah sich gleich darauf einem jungen Mann gegenüber, der ihm einen Aktenkoffer in die Hand zu drücken versuchte.

Julius Apollos Miene schlug schneller von Selbstgefälligkeit in Wut um als Shergar das Derby gewann, hätte Paul Shacklebury sagen können. Filmer wies die Tasche zurück und fauchte den Überbringer regelrecht an, wobei sein schwarzes Haupt vorstieß wie eine zubeißende Kobra. Der junge Mann mit dem Aktenkoffer wich übernervös zurück und lief erschreckt davon, und Filmer, der sich wieder in die Gewalt bekam, schaute erst einmal vage in Richtung der Stewards und der Presseleute, um festzustellen, ob sie etwas bemerkt hatten. Da keiner von ihnen diesen Eindruck erweckte, atmete er sichtlich erleichtert auf — und zu mir hatte er gar nicht hergesehen.

Ich folgte dem abgeschmetterten jungen Mann, der den Aktenkoffer noch im Arm hielt. Er ging schnurstracks zur Herrentoilette, verbrachte dort längere Zeit und kam blaß wieder zum Vorschein. Filmers Wirkung auf die Eingeweide von Leuten, sinnierte ich, hätte jedes Abführmittel beschämt.

Der verstörte Jüngling mit dem Aktenkoffer begab sich sodann nervös zum Ausgang, vor dem ein dünner, älterer Mann ihn ungeduldig erwartete. Als der dünne Mann sah, daß der Aktenkoffer noch im Besitz des nervösen jungen Mannes war, schaute er fast so wütend drein wie Filmer, und es kam zu einer heftigen Auseinandersetzung, die sich anhand der lebhaften Hackgesten als Donnerwetter deuten ließ, auch wenn man die Worte nicht verstand.

Der Dünne stieß den Nervösen mehrere Male vor die Brust. Der Nervöse ließ die Schultern hängen. Der Dünne wandte sich ab und marschierte hinaus auf den Parkplatz.

Der Nervöse ging mit dem Aktenkoffer wieder durch das Tor zurück und in die nächste Bar, und ich mußte lange bei den paar Gästen dort herumhängen, bevor wieder etwas geschah. Die dünn gesäte Kundschaft sah auf den Monitor; der nervöse Mann trat von einem Fuß auf den anderen, schwitzte und hatte ein wachsames Auge auf die Leute, die draußen im Freien vorübergingen. Dann, einige Zeit nachdem Filmers zweiter Starter es probiert und (dem Fernsehkommentar zufolge) verloren hatte, kam Filmer selbst vorbei, zerriß die Wettscheine und sah nicht eben erfreut aus.

Der nervöse Mann schoß von seiner Wartestellung gleich beim Eingang der schützenden Bar nach draußen und bot den Aktenkoffer erneut an — und diesmal nahm ihn Filmer, obschon er dabei äußerst gereizt wirkte und wieder scharfe Blicke um sich warf. Er sah nichts, was ihn beunruhigt hätte. Er ging ja nach dem fünften der sechs Rennen, und alle Vertreter der Obrigkeit hatten noch zu tun. Er packte den Griff der Tasche und schritt zielbewußt hinaus zu seinem Wagen.

Der nervöse Mann scharrte noch ein wenig mit den Füßen, dann folgte er Filmer zum Tor hinaus, auf den Parkplatz. Ich hängte mich wieder dran und sah sie beide noch zu ihren Fahrzeugen streben, wenngleich in verschiedenen Richtungen. Ich folgte dem Nervösen, nicht Filmer, und sah ihn auf der Beifahrerseite eines Autos einsteigen, in dem bereits der anscheinend immer noch verstimmte Dünne saß. Sie fuhren nicht gleich los, und ich hatte Zeit, in Ruhe hinter ihrem Wagen vorbei zu meinem zu gehen, der wie immer in der Nähe der Ausfahrt stand, um eine rasche Verfolgung zu gewährleisten. Ich merkte mir ihr Kennzeichen, falls ich sie später verlieren sollte; und als ich mich auf der Straße bequem hinter ihnen einordnete, rief ich Millington an.

Ich berichtete ihm von dem Aktenkoffer und las ihm das Kennzeichen vor, das noch in Sichtweite war.

«Der Wagen fährt allerdings nach Norden«, sagte ich.»Wie weit soll ich dranbleiben?«

«Wann geht morgen Ihr Flug?«

«Um Mittag, von Heathrow. Ich muß aber erst noch zu Hause mein Zeug und meinen Paß holen.«

Er dachte einen Augenblick nach.»Am besten entscheiden Sie selbst. Wenn er die Autobahn nach Schottland nimmt… na ja, dann lassen Sie’s.«

«In Ordnung.«

«Sehr interessant«, sagte Millington,»daß er nicht öffentlich dabei gesehen werden wollte, wie er die Tasche annimmt.«

«Sehr.«

«Irgendwas Besonderes an ihr?«

«Soweit ich sehen konnte«, sagte ich,»war sie schwarzglänzend, wahrscheinlich aus Krokodilleder, mit goldenen Verschlüssen.«

«Soso«, meinte Millington vage.»Ich rufe Sie zurück, wenn ich was über die Nummer habe.«

Der Wagen des dünnen Mannes peilte unfehlbar die Autobahn in Richtung Schottland an. Ich beschloß mindestens dranzubleiben, bis Millington zurückrief, und das tat er beeindruckend schnell: Mein Hase sei zugelassen auf I. J. Horfitz, wohnhaft in Doncaster, die und die Anschrift.

«Gut«, sagte ich.»Ich fahre nach Doncaster. «Etwas mehr als eine Stunde hin, dachte ich, und reichlich Zeit für die Rückfahrt.

«Kommt Ihnen der Name Horfitz bekannt vor?«fragte Millington.

«Nie gehört«, erklärte ich.»Und kennen Sie übrigens diesen hoffnungsvollen jungen Lehrling von Pete Shaw? Der blöde Heini hat einem Typen, der auf der Rennbahn neu ist und für Collie Goodboy Buch macht, was ins Ohr geflüstert. Collie Goodboy war über die Nachricht erbaut.«

«Wissen Sie, worum es ging?«

«Pete Shaw hatte einen Starter im zweiten Rennen, dritter Favorit, wurde fast Letzter. Der Lehrling wußte Bescheid, obwohl er ihn nicht geritten hat.«

«Ha!«sagte Millington.»Dann werde ich dem ganzen Verein mal einen heiligen Schrecken einjagen — Pete Shaw, dem Besitzer, dem Jockey, dem Lehrling und Collie Goodboy. Denen huste ich was. Fotos«, schickte er hinterher,»haben Sie wohl nicht geschossen? Wir haben keine faktischen Beweise?«

«Nicht direkt. Ich habe eine Aufnahme von dem Lehrling im Gespräch mit Collies Schreiber gemacht, aber sie drehten mir den Rücken zu. Eine von Collies Schreiber mit Collie. Eine von Collies Tafel mit den großzügigen Quoten.«

«Besser als nichts«, meinte er abwägend.»Da kriegen die schon einen ordentlichen Schreck. Die Unschuldigen werden stinkwütend sein und die Schuldigen an die Luft setzen, wie sie es meistens tun. Selbst aufräumen. Uns die Arbeit abnehmen. Und diesen dummen Lehrling behalten wir ab jetzt im Auge. Rufen Sie mich an, wenn Sie nach Doncaster kommen.«»Okay. Und ich hab noch ein paar andere Fotos gemacht. Eins von dem nervösen jungen Mann mit der Aktentasche, eins von ihm mit dem dünnen Mann… ehm… I. J. Horfitz wohl, nehme ich an, und eins von Filmer mit der Tasche, nur bin ich nicht sicher, ob das so deutlich ist. Ich hatte kaum Zeit und war ziemlich weit weg und benutzte die Feuerzeugkamera, die fällt nicht so auf.«

«Alles klar. Den Film brauchen wir, bevor Sie fahren. Ehm… äh… am besten rufen Sie mich an, wenn Sie auf dem Rückweg sind, bis dahin überlege ich mir, wo wir uns heute abend treffen können. Okay?«

«Ja«, sagte ich.»Okay.«

«Dieser Horfitz, wie hat der ausgesehen?«

«Dünn, ziemlich alt, Brille, dunkler Mantel und schwarzer Trilby. Eher für eine Beerdigung gekleidet als für ein Rennen.«

Millington brummte, als könne er das unterbringen.

«Kennen Sie ihn?«fragte ich.

«Es war vor Ihrer Zeit. Aber ich kenne ihn, ja. Ivor Horfitz. Er ist es bestimmt. Wir haben ihn vor fünf Jahren für immer von der Rennbahn verwiesen.«

«Weshalb?«

«Das ist eine lange Geschichte. Erzähl ich Ihnen später. Und ich glaube, Sie brauchen doch nicht extra nach Doncaster zu fahren. Den finden wir schon, wenn es sein muß. Wenden Sie an der nächsten Ausfahrt und kommen Sie zurück nach London — ich treffe Sie in der Kneipe an der Victoria. Nicht im Schnellimbiß; in der Kneipe.«

«Ja, ist gut. Dann bis in… ehm, zweieinhalb Stunden, wenn’s glattgeht.«

Zweieinhalb Stunden später war Bier- und Schweinefleischpastetenzeit in der dunklen hinteren Ecke einer lauten Bar, Millingtons bevorzugter Umgebung.

Ich gab ihm den belichteten, aber unentwickelten Film, und mit der Bemerkung» Augen in meinem Hinterkopf «steckte er ihn sichtlich befriedigt ein.

«Wer ist Horfitz?«Ich stillte den Durst der langen Fahrt mit einem Viertelliter vom Faß.»Wußten Sie, daß er Filmer kennt?«

«Nein«, sagte er, die zweite Frage zuerst beantwortend.»Und Filmer würde nicht mit ihm gesehen werden wollen, nicht mal um ein paar Ecken.«

«Sie meinen also«, sagte ich langsam,»daß auch der Bote, der nervöse junge Mann, den Stewards vom Sehen bekannt ist… wahrscheinlich auch Ihnen selbst… Wäre es nämlich ein ganz Unbekannter, warum sollte Filmer dann so heftig darauf reagieren, daß man ihn mit ihm sieht; daß man sieht, wie er etwas von ihm entgegennimmt?«

Millington warf mir einen Seitenblick zu.»Sie haben einiges gelernt, seit Sie angefangen haben, was?«Er klopfte auf die Tasche, die den Film enthielt.»Wird sich zeigen, ob wir ihn kennen. Wie hat er ausgesehen?«

«Ziemlich dick, ziemlich doof. Verschwitzt. Unglücklich. Ein Wurm zwischen zwei Falken.«

Millington schüttelte den Kopf.»Könnte irgend jemand sein.«

«Was hat Horfitz gemacht?«fragte ich.

Millington biß in die Schweinefleischpastete und ließ sich Zeit, ehe er schließlich um entweichende Teigkrümel herum antwortete.

«Er besaß einen kleinen Stall mit Pferden in Newmarket und beschäftigte einen eigenen Trainer dafür, der natürlich auf ihn hörte. Sehr erfolgreicher Stall in bescheidenem Maßstab. Erstaunliche Ausbeute, aber manche Besitzer haben eben immer Glück. Dann kriegte der Trainer kalte Füße, weil er dachte, wir wären ihm draufgekommen; ein Irrtum seinerseits, wir hatten ihn nie für einen Schurken gehalten. Jedenfalls hat er geplaudert, mit der Begründung, das Ganze koste ihn zuviel Nerven. Er sagte, sämtliche Pferde in dem Stall seien so gut wie austauschbar. Sie liefen in jedem Rennen, das sie nach seiner und Horfitz’ Meinung gewinnen könnten. Dreijährige in Zweijährigen-Rennen, Pferde, die schon gesiegt hatten, in Maidenrennen; wie es gerade kam. Horfitz kaufte und verkaufte ständig Pferde, so daß der Hof von Woche zu Woche anders aussah, und die Stallburschen wechselten über Nacht, was ja ohnehin oft der Fall ist. Sie stellten alle möglichen verschiedenen Jockeys an. Keiner merkte was. Horfitz hatte ein paar hübsch hoch zahlende Sieger, aber kein Buchmacher schrie Betrug. Es war eben ein kleiner, altmodischer Stall. Nie in den Zeitungen. Weil sie nicht an großen, nur an kleinen Rennen teilnahmen, auf Plätzen, wo die Presse nicht hinkommt, aber da kann man beim Wetten genausoviel gewinnen wie woanders auch. Es lief also ganz im stillen ab, doch wir fanden raus, daß Horfitz buchstäblich Hunderttausende verdient hatte, nicht allein durch Wetten, sondern durch den Verkauf seiner Sieger. Bloß verkaufte er immer die Pferde, die wirklich zu dem Namen im Rennprogramm gehörten, nicht diejenigen, die effektiv gestartet waren. Die behielt er und ließ sie wieder laufen, verkaufte dann die Pferde, unter deren Namen sie gelaufen waren, und so weiter und so fort. Dreister kleiner Schwindel, das Ganze.«

«Ja«, stimmte ich zu und empfand eine gewisse Ehrfurcht vor der Energie und Organisation, die in das Unternehmen eingeflossen waren.

«Als der Trainer ab sprang, stellten wir mit seiner Hilfe also ein paar Fallen auf und überraschten Horfitz sozusagen mit heruntergelassenen Hosen. Er wurde lebenslang gesperrt und schwor, seinen Trainer dafür umzubringen, was er bis jetzt noch nicht getan hat. Der Trainer wurde für drei Jahre gesperrt und ernstlich verwarnt, hat seine Lizenz aber vor zwei Jahren zurückbekommen. Gehörte zur Abmachung. Er ist also in kleinem Umfang wieder im Geschäft, aber wir nehmen seine

Starter einzeln unter die Lupe und prüfen ihre Pässe vor jedem Lauf. Wir haben die Paßkontrollen per Stichprobe überall verschärft, wie Sie wissen.«

Ich nickte.

Dann fiel Millington buchstäblich die Kinnlade herunter.

Ich betrachtete das klassische Anzeichen von Verblüffung und fragte:»Was ist los?«

«Gott«, sagte er.»Hält man das für möglich? Das ist ja ein Ding. Paul Shacklebury, der ermordete Stallbursche, hat bei Horfitz’ altem Trainer gearbeitet.«

Ich seilte mich ab, während er bei einem weiteren Halben mit gedankenvoll gefurchter Stirn darüber grübelte, was es bedeuten mochte, daß Horfitz’ alter Trainer einen Stallburschen beschäftigt hatte, der ermordet wurde, weil er zuviel über Filmer wußte. Was hatte Paul Shacklebury gewußt, fragte Millington rhetorisch zum hundertsten Mal. Und mehr auf die Gegenwart bezogen, was war in der Aktentasche, und warum hatte Horfitz sie Filmer gegeben?

«Halten Sie sich an den schwitzenden Boten«, empfahl ich im Aufstehen.»Vielleicht packt er genauso aus wie der Trainer. Man kann nie wissen.«

«Mag sein«, sagte Millington.»Und, Tor… passen Sie in dem Zug auf sich auf.«

Er konnte zuzeiten ganz menschlich sein, fand ich.

Ich flog am nächsten Tag nach Ottawa und unterlag in Heathrow der Versuchung, meinen Hoch-die-Knie-Touristenflugschein gegen ein Streck-dich-lang-Ticket erster Klasse umzutauschen. Außerdem bat ich den Taxifahrer, der mich von Ottawas Flughafen in die Stadt brachte, mir ein anständiges Hotel zu suchen. Er warf rasch einen Blick auf meine Kleidung und den neuen Koffer und meinte, das Four Seasons wäre sicher geeignet.

Es war. Sie gaben mir eine freundliche kleine Suite, und ich rief sofort die Nummer an, die man mir für Bill Baudelaire genannt hatte. Zu meiner gelinden Überraschung meldete er sich beim ersten Klingeln selbst und sagte, ja, er habe ein Telex erhalten mit der Bestätigung, daß ich unterwegs sei. Er hatte eine Baßstimme mit viel Timbre, selbst über die Leitung, und sprach mit weichem kanadischem Akzent.

Er erkundigte sich, wo ich in einer Stunde sein würde, und sagte, er komme dann vorbei, um mich über die vorliegende Sache zu informieren, und ich schloß aus seinen vorsichtigen Sätzen, daß er nicht allein war und keinen Mithörer wollte. Ganz wie daheim, dachte ich behaglich, packte ein paar Sachen aus, duschte die Reise weg und wartete auf das, was kam.

Draußen verwandelte das intensiver werdende Orange der Herbstsonne die grünen Kupferdächer der betürmten steinernen Regierungsgebäude vorübergehend in schimmerndes Gold, und ich überlegte, während ich aus dem Fenster sah, daß mir diese anmutige Stadt auch früher schon sehr gefallen hatte. Ich war erfüllt von einer heiteren Gelassenheit und Ruhe, an die ich in den Tagen, die vor mir lagen, einige Male zurückdenken würde.

Bill Baudelaire kam, als der Himmel dunkel geworden war und ich das Licht angemacht hatte, und er schaute sich mit spöttisch hochgezogenen Augenbrauen in der Suite um.

«Freut mich, daß der alte Val Sie einquartiert hat, wie es einem reichen jungen Besitzer zukommt.«

Ich lächelte und klärte ihn nicht auf. Er hatte mir die Hand gegeben, als ich ihn einließ, und mich schnell und scharf von oben bis unten gemustert, wie Leute es tun, die gewohnt sind, Fremde auf einen Blick abzuschätzen, und keine Hemmungen haben, das auch zu zeigen.

Ich sah einen Mann von unvorteilhaftem Äußeren, aber spürbarem Charme, einen stämmigen Mann, viel jünger als der Brigadier, so um die Vierzig vielleicht, mit rötlichen Haaren, hellblauen Augen und blasser, von Aknenarben bedeckter Haut. Einmal gesehen, dachte ich, schwer zu vergessen.

Er trug einen dunkelgrauen Straßenanzug, ein cremefarbenes Hemd und einen roten Schlips, der sich mit seinen Haaren nicht vertrug, und ich fragte mich, ob er farbenblind war oder einfach den Effekt gut fand.

Er ging geradewegs durch den Salon, setzte sich in den Sessel, der am nächsten beim Telefon stand, und griff zum Hörer.

«Zimmerservice?«sagte er.»Schicken Sie bitte so bald wie möglich eine Flasche Wodka rauf und, ehm…«Einladend hob er die Brauen in meine Richtung.

«Wein«, sagte ich.»Roten. Am liebsten Bordeaux.«

Bill Baudelaire wiederholte meinen Wunsch, fügte ein Preislimit hinzu und legte auf.

«Sie können die Getränke auf Ihre Spesenrechnung setzen, ich zeichne sie dann ab«, sagte er.»Sie machen doch eine Spesenabrechnung?«

«In England schon.«

«Dann legen Sie hier auch eine an. Wie zahlen Sie die Hotelrechnungen?«

«Mit Kreditkarte. Meiner eigenen.«

«Ist das üblich? Na, egal. Geben Sie mir die Rechnungen, wenn Sie sie bezahlt haben, zusammen mit Ihrer Spesenabrechnung, und Val und ich kümmern uns darum.«

«Danke«, sagte ich. Val würde einen Anfall bekommen — aber nein, wenn ich es mir recht überlegte, wohl doch nicht. Er würde mir den vereinbarten Etat zahlen; Gerechtigkeit mußte sein.

«Nehmen Sie Platz«, sagte Bill Baudelaire, und ich setzte mich ihm gegenüber, ebenfalls in einen Sessel, und schlug die Beine übereinander. Da es mir in dem zentral geheizten Zimmer warm war, trug ich keine Jacke. Er betrachtete mich eine Weile und legte scheinbar unschlüssig die Stirn in Falten.

«Wie alt sind Sie?«fragte er unvermittelt.

«Neunundzwanzig.«

«Val sagte, Sie hätten Erfahrung. «Es war nicht direkt eine Frage, auch kein Infragestellen.

«Ich arbeite seit drei Jahren für ihn.«

«Er sagte, Sie würden in der Rolle überzeugen… und das stimmt. «Er klang jedoch eher verwundert als erfreut.»Sie wirken so elegant… das habe ich wohl nicht erwartet.«

Ich sagte:»Wenn Sie mich auf den billigeren Plätzen einer Rennbahn sähen, würden Sie meinen, ich sei dort geboren.«

Sein Gesicht erhellte sich zu einem Lächeln.»Na gut. Das soll mir recht sein. Also, ich habe Ihnen einen ganzen Stoß Unterlagen mitgebracht. «Er blickte auf den dicken Umschlag, den er neben das Telefon auf den Tisch gelegt hatte.»Einzelheiten über den Zug und einige der Leute, die damit reisen, und Einzelheiten über die Pferde und wie für sie alles geregelt ist. Es handelt sich ja um ein gewaltiges Unternehmen. Alle haben hart daran gearbeitet. Es ist unbedingt notwendig, daß sein gutes, gediegenes, makelloses Image von Anfang bis Ende gewahrt bleibt. Wir hoffen auf verstärkte weltweite Beachtung des kanadischen Rennsports. Natürlich sind wir mit dem Queen’s Plate im Juni oder Juli weltweit in den Schlagzeilen, aber wir möchten mehr ausländische Pferde anziehen. Unser Programm bekannter machen. Kanada ist ein großes Land. Wir möchten unser Ansehen im Bereich des internationalen Rennsports maximieren.«

«Ja«, sagte ich.»Verstehe ich schon. «Ich zögerte.»Haben Sie eine PR-Agentur hinzugezogen?«

«Was? Wieso fragen Sie? Ja, wir haben eine Agentur beauftragt. Spielt das eine Rolle?«

«Eigentlich nicht. Haben die einen Vertreter in dem Zug?«

«Um negative Zwischenfälle herunterzuspielen? Nein, es sei

denn…«Er brach ab und lauschte auf das, was er gesagt hatte.

«Verdammt, ich benutze schon deren Jargon. Da muß ich aufpassen. Man plappert so leicht nach, was sie sagen.«

Ein Klopfen an der Tür kündigte die Getränke an, serviert von einem überaus höflichen, langsamen Kellner, der wußte, wo in dem zimmereigenen Kühlschrank Eis und Mineralwasser zu finden waren. Der Kellner entkorkte den Wein in aller Gemächlichkeit, und Bill Baudelaire sagte mit unterdrückter Ungeduld, einschenken würden wir selbst. Als der schildkrötenhafte Kellner gegangen war, bedeutete er mir, mich zu bedienen, und goß für sich selber einen kräftigen Schuß Wodka in ein Glas voller Eiswürfel.

Er hatte dem Brigadier vorgeschlagen, ich sollte mich zuerst hier in Ottawa mit ihm treffen, da er in der Stadt Geschäfte zu erledigen hatte, die keinen Aufschub duldeten. Außerdem meinten sie beide, so bliebe es eher geheim, da alle, die normal mit dem Zug reisten, sich in Toronto versammeln würden.

«Sie und ich«, sagte Bill Baudelaire,»fliegen morgen abend mit verschiedenen Maschinen nach Toronto. Bis dahin haben Sie Zeit, das Material, das ich Ihnen gebracht habe, zu studieren und alle auftauchenden Fragen mit mir zu klären. Ich schlage vor, ich schaue morgen um zwei zu einer letzten Besprechung noch mal hier bei Ihnen vorbei.«

«Kann ich mich auch später noch relativ leicht mit Ihnen in Verbindung setzen?«fragte ich.»Das wäre mir lieb.«

«Ja, genau. Ich selbst fahre, wie Sie wissen, nicht mit dem Zug, aber ich werde in Winnipeg bei den dortigen Rennen sein und auch in Vancouver. Und natürlich in Toronto. Ich habe Ihnen alles skizziert. Sie finden es in dem Paket. Wir können eigentlich erst richtig darüber sprechen, wenn Sie das gelesen haben.«

«In Ordnung.«

«Es gibt aber noch eine unerfreuliche Neuigkeit, die da nicht drinsteht, weil ich sie zu spät erfahren habe. Anscheinend hat Julius Filmer einen Anteil an einem der Pferde gekauft, die mit dem Zug fahren. Die Teilhaberschaft ist heute eingetragen worden, und man hat mich eben erst telefonisch darüber informiert. Die Rennsportkommission von Ontario ist sehr besorgt, aber wir können da im Grunde nichts machen. Es wurden keine Vorschriften verletzt. Wer wegen eines Delikts wie Brandstiftung, Betrug oder illegalem Glücksspiel vorbestraft ist, dem wird der Besitz von Rennpferden nicht gestattet, aber Filmer ist ja nicht vorbestraft.«

«Welches Pferd?«

«Welches Pferd? Laurentide Ice. Ziemlich brauchbar. Das können Sie darin nachlesen. «Er nickte zu dem Päckchen hin.»Das Problem ist, wir haben festgelegt, daß nur Besitzer in den Pferdewaggon gehen dürfen, um sich die Pferde anzusehen. Wir konnten nicht zulassen, daß jeder dort herumtrampelt, sowohl aus Sicherheitsgründen als auch, um eine Beunruhigung der Tiere zu vermeiden. Wir dachten, wenn Filmer im Zug sitzt, wäre unser einziger Trost, daß er keinen Zugang zum Pferdewaggon hat, und den hat er jetzt.«

«Unangenehm.«

«Äußerst ärgerlich. «Mit der unterdrückten Heftigkeit seiner Enttäuschung schenkte er sich nach.»Warum Herrgott noch mal konnte dieser verdammte Gauner seine Rotznase da nicht raushalten? Mit dem gibt’ s nur Ärger. Das wissen wir alle. Er hat doch was vor. Er wird das Ganze verderben. Das hat er praktisch angekündigt. «Er musterte mich und schüttelte den Kopf.»Nichts für ungut, aber wie wollen Sie ihn daran hindern?«

«Kommt darauf an, was verhindert werden muß.«

Sein Gesicht erhellte sich plötzlich wieder zu einem Lächeln.

«Ja, in Ordnung, warten wir’s ab. Val sagte, Ihnen entgeht nichts. Hoffentlich hat er recht.«

Er ging nach einiger Zeit, und mit viel Interesse öffnete ich das Päckchen und fand es von vorn bis hinten faszinierend.

«Der Große Transkontinentale Erlebnis- und Rennexpreß«, so sein Name in flammendem Rot auf der goldenen Titelseite des Bildprospekts, hatte tatsächlich einen enormen organisatorischen Aufwand erfordert. Kurz gesagt bot das Unternehmen den Rennpferdbesitzern der Welt die Gelegenheit, ein Pferd in Toronto laufen zu lassen, mit dem Zug nach Winnipeg zu fahren und dort ein Pferd laufen zu lassen, zwei Nächte in einem Hotel hoch oben in den Rockies zu verbringen und per Zug weiterzufahren nach Vancouver, wo sie erneut ein Pferd laufen lassen konnten. Es gab Platz für elf Pferde im Zug und für achtundvierzig menschliche VIP-Reisende.

In Toronto, Winnipeg und Vancouver würde man in erstklassigen Hotels übernachten. Der Transport vom Zug zu den Hotels, von dort zu den Rennen und zurück zum Zug war auf Wunsch ebenfalls inbegriffen. Die gesamte Reise würde dauern vom Lunch auf der Rennbahn von Toronto am Sonnabend bis zum Ende des Sonderrenntags in Vancouver zehn Tage später.

In dem Zug gab es Sonderschlafwagen, einen Sonderspeisewagen, zwei eigene Küchenmeister und guten Wein in Fülle. Besitzer privater Eisenbahnwagen konnten, wie früher schon, deren Ankopplung an den Zug beantragen.

Jeder erdenkliche Luxus würde, wenn vorab angefordert, zur Verfügung stehen, und ferner sollte zur Unterhaltung während der Fahrt, im Zug und auf den Zwischenstationen, ein fesselndes Kriminalrätsel inszeniert werden, das zu lösen die Reisenden herzlich eingeladen waren.

Bei dieser letzten Information zuckte ich ein wenig zusammen: Filmer zu überwachen würde so schon schwierig sein, auch ohne daß um ihn herum ein künstliches Chaos losbrach. Er selber war Rätsel genug.

Sonderrennen, las ich, sollten das gewohnte Veranstaltungsprogramm der Rennbahnen Woodbine in Toronto, Assiniboia Downs in Winnipeg und Exhibition Park in Vancouver bereichern. Man hatte alles getan, um diese Rennen für das zahlende Publikum möglichst attraktiv zu machen, während den Besitzern herrliche Geldpreise winkten. Die Besitzer der Pferde wie auch alle anderen Passagiere würden auf sämtlichen Rennbahnen bevorzugt behandelt, Lunch mit den Vereinspräsidenten inklusive.

Es war nicht damit zu rechnen, daß Besitzer die Pferde im Zug innerhalb so kurzer Zeit dreimal an den Start schicken wollten. Jedem Besitzer stand es frei, ein Pferd nur einmal laufen zu lassen. Jedem Besitzer (und jedem anderen Passagier des Zuges) stand es frei, für die Teilnahme an den Sonderrennen noch andere Pferde auf dem Luft- oder Landweg nach Toronto, Winnipeg oder Vancouver zu bringen. Die Reise sollte eine unbeschwerte Vergnügungstour für die Gäste sein, zur Feier des Rennsports in Kanada.

Kleiner gedruckt folgte nach all diesen Trompetenstößen die Information, daß Unterbringungsmöglichkeiten für einen Pfleger pro Pferd bestanden. Besitzer, die Platz für zusätzliches Personal wünschten, sollten dies bitte rechtzeitig angeben. Pfleger und sonstige Stallangestellte hatten ihren eigenen Schlaf- und Speisewagen und separate Unterhaltung.

Für die im Zug reisenden Pferde waren in Toronto, Winnipeg und Vancouver Stallplätze reserviert, und sie konnten an allen drei Orten normal arbeiten. Während des Aufenthalts der Gäste in den Bergen würden die Pferde in Calgary untergebracht und trainiert werden. Die gute Betreuung der Pferde war oberstes Gebot, und sollten seine Dienste zwischen den fahrplanmäßigen Stationen nötig sein, würde unverzüglich ein Tierarzt per Hubschrauber zum Zug geflogen werden.

Das nächste im Paket war eine mit Bleistift geschriebene Notiz von Bill Baudelaire:

Alle elf Pferdeplätze waren schon vierzehn Tage nach der ersten großen Anzeige gebucht.

Alle achtundvierzig VIP-Passagierplätze waren innerhalb eines Monats gebucht.

Wir haben zig Nennungen für die Sonderrennen.

Das wird ein großer Erfolg!

Danach kam eine Liste der elf Pferde, mit letzter Form, sowie eine Liste ihrer Besitzer, mit Staatsangehörigkeit. Drei Besitzer aus England (Filmer eingeschlossen), einer aus Australien, drei aus den Vereinigten Staaten und fünf aus Kanada (Filmers Teilhaber eingeschlossen).

Die Besitzer hatten mit Ehegatten, Familien und Freunden siebenundzwanzig der achtundvierzig Passagierplätze gebucht.

Vier von den einundzwanzig übrigen Plätzen waren ebenfalls noch von bekannten kanadischen Besitzern belegt (erkennbar an dem Stern hinter ihrem Namen), und am unteren Rand dieser Passagierliste hatte Bill Baudelaire angemerkt:»Ausgezeichnete Reaktion auf den Appell an unsere Besitzer, das Projekt zu unterstützen!«

Es standen keine Trainer auf der Passagierliste, und später erfuhr ich denn auch, daß die Trainer wie üblich mit dem Flugzeug nach Winnipeg und Vancouver kamen, vermutlich weil die Bahnreise zu zeitraubend und zu kostspielig war.

Das nächste im Paket war ein Bündel Prospekte von den drei Rennbahnen, der kanadischen Eisenbahngesellschaft und den vier Hotels, lauter glänzende Heftchen, die die jeweiligen Vorzüge anpriesen. Schließlich kam noch eine dicke Kunstdruckbroschüre, zusammengestellt von den Reiseveranstaltern, die das Ganze auf die Schiene bringen sollten — eine Aufgabe, die ihre Kräfte wohl nicht überstieg, da sie offenbar auch Safaris durch die Wüste, Reisen zum Nord-und zum Südpol und Fahrten nach überall organisierten, wo es irgend jemand hinzog.

Sie inszenierten auch Krimis zur Unterhaltung; abends und an Wochenenden, ambulant wie stationär. Sie waren Fachleute mit viel Erfahrung.

Für den Großen Transkontinentalen Erlebnis- und

Rennexpreß, hieß es, hatten sie etwas ganz Besonderes vorbereitet.

«Einen Krimi, der Ihnen unter die Haut geht. Ein phantastisches Erlebnis. Die Story entwickelt sich rings um Sie herum. Hinweise tauchen auf. SEIEN SIE AUF DER HUT.«

Na toll, dachte ich ironisch. Aber sie waren noch nicht fertig. Sie setzten noch eins drauf.

«ACHTUNG! VIELE LEUTE SIND NICHT, WAS SIE SCHEINEN.«

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