Kapitel 12

«Es hat nichts mit seinem Geburtstag zu tun, auch nicht mit seinen Telefonnummern, alten oder neuen Adressen, noch seinen Bankkonten, noch seiner Sozialversicherung.«

Mrs. Baudelaires helle Stimme klang mir im Ohr, als sie am Mittwoch morgen die schlechte Neuigkeit durchgab.

«Val Catto arbeitet jetzt an den Kreditkartennummern Ihrer Zielperson«, sagte sie.»Und er wüßte gern, warum er all diese Recherchen betreibt. Er sagt, er hat auch die Personaldaten der geschiedenen Frau Ihrer Zielperson durchgeschaut, und nirgends sieht er eins-fünf-eins, mit oder ohne drei unbekannten Stellen davor.«

Ich seufzte hörbar, enttäuscht.

«Wie wichtig ist das denn?«fragte sie.

«Läßt sich unmöglich sagen. Es könnte für die Katz sein, es könnte all unsere Probleme lösen. Niete oder Volltreffer, oder irgendwas dazwischen. Würden Sie dem Brigadier bitte ausrichten, daß eins-fünf-eins die Kombination für das rechtsseitige Schloß eines schwarzen Kroko-Aktenkoffers ist. Links haben wir drei Unbekannte.«

«Du meine Güte«, sagte sie.

«Könnten Sie ihm mitteilen, daß ich für seine Anweisungen dankbar wäre?«

«Könnte ich, junger Mann. Warum stehlen Sie den

Aktenkoffer nicht einfach und lassen sich Zeit?«

Ich lachte.»Daran habe ich schon gedacht, aber ich tu’s lieber nicht. Jedenfalls noch nicht. Wenn die Zahlen irgendwie logisch sind, ist es so am sichersten.«

«Val wäre es vermutlich lieber, wenn Sie nicht verhaftet würden.«

Oder vielleicht ermordet, dachte ich.

«Ich nehme an«, stimmte ich zu,»daß eine Verhaftung mich meinen Job kosten würde.«

«Sie wären nicht mehr unsichtbar?«

«Ganz recht.«

«Und ich fürchte«, sagte sie,»ich habe noch eine unangenehme Nachricht für Sie.«

«Was denn?«fragte ich.

«Bill sagt, die Wasserproben, die Sie ihm geschickt haben, waren nichts weiter als — Wasser.«

«Das ist eigentlich eine gute Nachricht.«

«So? Na, wie schön.«

Ich überlegte.»Ich glaube, ich rufe Sie heute abend noch mal an, bevor wir Winnipeg verlassen.«

«Ja, bitte«, stimmte sie zu.»Je weiter Sie nach Westen fahren, desto größer wird der Zeitunterschied, und desto länger dauert es mit den Antworten von Val Catto.«

«M-hm.«

Mrs. Baudelaire konnte den Brigadier nicht anrufen, wenn es bei ihm oder bei ihr gerade mitten in der Nacht war. Toronto, wo sie wohnte, lag fünf Stunden hinter London zurück, Winnipeg sechs, Vancouver acht. Zur Frühstückszeit in Vancouver traten Londons Büroangestellte die Heimfahrt an. Verwirrend für Brieftauben.

«Viel Glück«, sagte sie.»Bis demnächst.«

Inzwischen war ich ihre plötzlichen Abgänge gewohnt. Ich legte den Hörer auf, da ich nur Stille in der Leitung vernahm, und hätte gern gewußt, wie sie aussah und wie krank sie war. Ich würde nach Toronto zurückfahren, dachte ich, und sie besuchen.

Wieder flitzte ich per Bus zur Rennbahn und stellte fest, daß Assiniboia Downs über Nacht den ganzen Werberummel von Woodbine aufgefahren hatte, einschließlich T-Shirt-Ständen, Wimpeln und» Unterstützt den kanadischen Rennsport«-beschärpten Busen.

Den größten Teil des Nachmittags hielt ich erneut Ausschau nach dem Hageren und kam endlich zu dem Schluß, daß er, was immer er in dem Zug wollte, jedenfalls nicht aus übermäßigem Interesse am Rennsport mitfuhr. Die Rennbahnbesucher aus dem Zug waren im ganzen leicht zu erkennen, da sie alle mit großen rotweißen Rosetten ausgestattet zu sein schienen, auf denen in Gold die Aufschrift» Rennexpreß-Passagier «prangte. Und wie sich herausstellte, waren die Rosetten nicht auf die Leute vom vorderen Teil des Zuges beschränkt, denn als ich Zak traf, trug der auch eine und sagte mir, es habe jeder eine bekommen, die Besitzer eingeschlossen, wo sei also meine?

Ich hätte nichts davon gewußt, sagte ich. Pech, sagte er, denn mit Rosette gebe es Eintritt, Rennprogramm und Essen gratis. Sie seien ein Geschenk der Rennbahn. Neil müßte noch eine für mich haben, meinte er.

Ich fragte ihn, wie die Krimiszene diesen Morgen gelaufen sei, da Neil mir ja geschildert hatte, was am Tag zuvor geschehen war.

«Erheblich besser ohne dieses Miststück Sheridan.«

«War er nicht da?«

«Ich bat Neil, seinem Vater zu sagen, wenn Sheridan zum Frühstück käme, würden wir unsere Szene nicht spielen, und das hat gewirkt. Kein Sheridan. «Er grinste.»Überhaupt kein Lorrimore, genau gesagt. «Er blickte sich um.»Aber sie sind alle hier, einschließlich Sheridan. Sie stiegen gerade aus einer überlangen Limousine, als wir mit unserem Privatbus anrollten. Da haben wir auch die Rosetten gekriegt — im Bus. Wie sind Sie denn hergekommen?«

«Mit einem öffentlichen Bus.«

«Wirklich Pech.«

Seine Batterien liefen mit halber Kraft, weder voll aufgeladen noch leer. Ohne das konturenbetonende Make-up, das er im Zug ständig trug, wirkte sein Gesicht unter den Wuschellocken jünger: David Flynn war auf der Rennbahn, nicht Zak.

«Sind alle Schauspieler hier?«fragte ich.

«Aber sicher. Wir müssen doch wissen, was heute hier abgeht. Müssen mit den Besitzern heute abend darüber reden können. Vergessen Sie nicht, es ist schließlich ein Rennsportkrimi.«

Ich nahm an, in gewisser Hinsicht hatte ich das vergessen. Der wahre Krimi, mit dem ich befaßt war, neigte dazu, die Dichtung zu verdrängen.

«Auf wen setzen Sie in unserem Rennen?«fragte er.»Ich glaube, daß Premiere gewinnt. Und Sie?«

«Upper Gumtree«, sagte ich.

«Angeblich schläft der halb«, wandte er ein.

«Er hat ein hübsches Gesicht.«

Er sah mich von der Seite an.»Sie sind verrückt, wissen Sie das?«

«Ich bin nur toll bei Nordnordwest.«

«Wenn der Wind südlich ist«, sagte er prompt,»kann ich einen Kirchturm von einem Leuchtenpfahl unterscheiden. «Er lachte.

«Einen Schauspieler, der nicht hofft, den Hamlet zu spielen, gibt es nicht.«

«Haben Sie schon mal?«

«Nur in der Schule. Aber einmal gelernt, nie vergessen. Soll ich Ihnen mein >Sein oder Nichtsein< aufsagen?«

«Nein.«

«Sie machen mich fertig. Bis heute abend.«

Er entfernte sich mit mittlerem Schwung, und später sah ich ihn noch einmal, wie er Donnas Schultern umfaßt hielt, was (soviel ich wußte) nicht in seinem Manuskript stand.

Die meisten Besitzer kamen vom Vereinshaus herunter, um sich das Aufsatteln der Teilnehmer am Jockey Club Rennexpreß-Sonderrennen anzusehen, und die Leichtherzigeren von ihnen trugen durchweg die Rosetten.

Filmer nicht; es war nichts Heiteres an ihm. Daffodil hingegen hatte sich ihre an den Ausschnitt geheftet, und ab und zu hüpfte das Rot, Weiß und Gold unter den langhaarigen Chinchillas hervor. Mrs. Young trug ihre offen am Revers. Die von Mr. Young war nicht zu sehen.

Die Unwins, rosettengeschmückt, zeigten ungehemmte Freude an Upper Gumtree, der tatsächlich ein hübsches Gesicht hatte und nicht unannehmbar schläfrig war. Upper Gumtrees Trainer war nicht aus Australien angereist und auch nicht sein gewohnter Jockey; man hatte kanadischen Ersatz besorgt. Die Unwins strahlten und tätschelten alles in Reichweite, das Pferd eingeschlossen, und Mr. Unwin mit seinem tollen australischen Akzent konnte man» Sohn «zu seinem Jockey sagen hören, obwohl der Reiter wesentlich älter aussah als der Besitzer.

In der Box nebenan ging es sehr viel ruhiger zu. Mercer Lorrimore, ohne Familienanhang, unterhielt sich freundlich mit seinem von Toronto herübergekommenen Trainer und schüttelte seinem Jockey die Hand, demselben, der in Woodbine für ihn geritten war. Premiere, der Favorit, benahm sich wie ein Pferd, um das man sein Leben lang Theater gemacht hatte; fast schon, sinnierte ich, so arrogant wie Sheridan.

Die Besitzer von Flokati legten ein Mavis-und-Walter-Bricknell-artiges Verhalten an den Tag, flatterten in einer nervösen Unrast umher, die, wenn sie noch lange anhielt, auf das Pferd übergreifen mußte. Ihr inkompetent wirkender Trainer versuchte die Besitzer davon abzuhalten, daß sie die Nummerndecke glattstrichen, die Stirnlocke über dem Kopfband zurechtzupften, am Sattel zerrten und bei jeder unbedachten Bewegung ihre großen Rosetten dem Pferd unter die beleidigten Nüstern stießen. Ein Überfall eigentlich. Armes Ehepaar Flokati; das Pferd zu besitzen schien eine Qual, keine Freude zu sein.

Mr. und Mrs. Young hatten wie Mercer Lorrimore ihre beiden Winnipeg-Starter auf dem Straßenweg bringen lassen. Als — alte Hasen im Besitzerspiel schauten sie mit ruhigem Interesse zu, wie ihr Duo, Soluble und Slipperclub, bereitgemacht wurde, wobei Mrs. Young gewohnt liebenswürdig mit dem einen Jockey sprach und Mr. Young eher sachlich mit dem anderen.

Daffodil Quentins Starter, Pampering, war zusammen mit fünf anderen Pferden, die Passagieren aus dem Zug gehörten, eingeflogen worden, und all diese Leute schlenderten mit Rosetten und fast permanent lächelnden Gesichtern umher. Dies war schließlich einer der Höhepunkte ihrer Reise, der Zweck des Spektakels. Ich erfuhr auch, daß die Rennsportkommission von Manitoba ihnen früher am Tag einen Champagnerempfang bereitet hatte, danach ein vorzügliches Mittagessen, und daß jedem als Andenken ein gerahmtes Gruppenfoto von allen an der Reise beteiligten Besitzern beschert worden war. Hier und jetzt, dachte ich, lebten sie in der Erinnerung daran.

Fernsehkameras in Mengen zeichneten alles für die Abendnachrichten auf und auch für die zweistündige Galasendung zur Unterstützung des kanadischen Rennsports, die, wie auf Plakaten überall zu lesen stand, landesweit ausgestrahlt werden sollte, wenn die dritte Veranstaltung in Vancouver beendet war.

Die Starter von Winnipeg kamen unter Hornfanfaren und Beifall von den Rängen aufs Geläuf und wurden von Ponys zur Startmaschine begleitet.

Mercer Lorrimores Farben, Rot und Weiß wie die Rosette, die er im Interesse des kanadischen Rennsports bereitwillig angesteckt hatte, nahmen die Außenbox ein. Daffodils Hellblau und Dunkelgrün war ganz innen. Upper Gumtree, der Orange und Schwarz trug, startete genau in der Mitte der Elferreihe und ging aus der Box heraus an die Spitze einer pfeilähnlichen Formation.

Ich schaute von einem Platz hoch oben auf der Tribüne zu, noch über der Vereinsetage, in die sich die Besitzer als schnatternde Schar zurückbegeben hatten, um das Rennen zu verfolgen. Durch meine Fernglaskamera konnte ich die Farben auf der Bahn unten im kalten Sonnenlicht klar und deutlich erkennen, so daß das Rennen leicht zu überblicken war.

Die Pfeilformation löste sich bald zu einer Zickzacklinie auf, Premiere außen, Pampering innen, Upper Gumtree immer noch in Front. Das Pärchen der Youngs, durch den Startplatz getrennt, kam dennoch zusammen und lief den ganzen Weg Seite an Seite wie Zwillinge. Flokati, in Pink, hängte sich an die Rails, als brauchte er sie zum Steuern, und vier andere Starter schlossen ihn ein.

Als sie zum erstenmal an der Tribüne vorbeigingen, lag Upper Gumtree von den Unwins immer noch in Führung, Premiere aber fast gleichauf; innen riß Pampering seinem Jockey die Arme aus. Das gesamte Elferfeld tat sein Bestes für die Ehre Kanadas, fegte geschlossen um den Bogen und ging die Gegengerade hinunter wie zusammengeschweißt, und noch im Schlußbogen hatte es den Anschein, daß es so, als ein kompaktes Knäuel, einlaufen könnte.

Sie teilten sich auf der Geraden, eine Gruppe zog zu weit nach außen, das Rot und Weiß von Premiere sprengte nach vorn, dicht gefolgt von dem Pärchen der Youngs, und Upper Gumtree brach dramatisch durch eine Lücke, um weit vor Pampering an die Rails zu gehen.

Die Zuschauer tobten. Das Geld war auf Premiere. Das Gebrüll hätte man bis Montreal hören können. Die kanadischen Rennsportbehörden erlebten erneut ein Rennexpreß-

Sonderrennen mit einem phantastischen, glänzenden Finish… und Mercer, der gute Miene dazu machte, wurde wieder Zweiter.

Es waren die Unwins, die im Taumel der Begeisterung Upper Gumtree zum Absattelplatz für den Sieger führten. Die Unwins aus Australien, die alles, was nah genug war (einschließlich des Pferdes), umarmten und küßten. Die Unwins, die fotografiert wurden, einer links, einer rechts von ihrem schnaufenden Sieger, um dessen Schultern jetzt eine lange, prächtige Blütendecke lag. Die Unwins, die den Ehrenpreis, den Scheck und die Reden entgegennahmen vom Präsidenten des Rennvereins und den hohen Tieren des Jockey Club; ihre Erinnerungen an den Tag würden die süßesten sein.

Ich freute mich für sie, ließ das Fernglas sinken, durch das ich sogar die Tränen auf Mrs. Unwins Wangen hatte sehen können, und dort unter mir, vor der Tribüne, stand der Mann mit dem hageren Gesicht und blickte zu den Vereinsfenstern hinauf.

Fast zitternd vor Hast nahm ich das Fernglas wieder hoch, fand ihn, ging auf Autofokus, drückte den Auslöser, hörte das leise Klicken der Blende: hatte ihn im Kasten.

Es war meine einzige Chance gewesen. Noch ehe der Film weitergerollt war, hatte er die Augen gesenkt und weggeschaut, so daß ich nur seine Stirn und sein graues Haar sehen konnte; und innerhalb von zwei Sekunden war er auf die Tribüne zumarschiert, heraus aus meinem Blickfeld.

Ich ahnte nicht, wie lange er dort gestanden hatte. Ich war zu sehr durch die Freude der Unwins abgelenkt gewesen. So schnell ich konnte, ging ich die Tribüne hinunter, und das war viel zu langsam, da alle anderen dasselbe machten.

Zurück auf ebener Erde, konnte ich den Hageren nirgends entdecken. Die Massen waren in Bewegung, versperrten überall die Sicht. Das Sonderrennen war der Höhepunkt gewesen, und es stand zwar noch ein Rennen auf dem Programm, doch schien das niemand sonderlich zu interessieren. Jede Menge rotweiße Rosetten, Baseballmützen, T-Shirts und Luftballons waren auf dem Weg zum Ausgang.

Die Unwins mit Gefolge verschwanden im Eingang der Vereinstribüne, zweifellos zu weiterem Champagner und Zeitungsinterviews, und wahrscheinlich waren alle anderen Besitzer auch dort drinnen. Wenn der Hagere zu den Vereinsfenstern hochgeschaut hatte in der Hoffnung, Filmer zu sehen — oder von Filmer gesehen zu werden —, dann kam Filmer vielleicht runter, um mit ihm zu reden, und ich kriegte sie gemeinsam vor die Linse, was sich eines Tages als nützlich erweisen könnte. Wartete ich einfach, würde es vielleicht passieren.

Ich wartete einfach.

Filmer kam schließlich herunter, aber mit Daffodil. Der Hagere trat nicht an sie heran. Sie stiegen in ihren chauffeurgesteuerten Schlitten und wurden Gott weiß wohin kutschiert, und ich dachte frustriert an die Zeit und wie wenig davon in Winnipeg noch blieb. Es war schon fast sechs; heute abend würde ich nirgends einen offenen Fotoschnelldienst finden, und ich mußte zurück ins Sheraton, meine Tasche abholen und um halb acht oder wenig später wieder im Zug sein.

Ich zog mich in die Toilette zurück, nahm den Film aus der Kamera und schrieb eine kurze Notiz dazu. Dann rollte ich Film und Notiz in ein Papierhandtuch ein und ging hinaus, um Bill Baudelaire zu suchen; da Filmer uns nicht sehen würde, konnte ich ihn auf dem Gelände wohl ruhig einmal ansprechen. Ich hatte ihn den ganzen Nachmittag hin und wieder von weitem gesehen, aber jetzt, wo ich ihn brauchte, war sein rotes Haar nirgends in Sicht.

Zak kam mit Donna herüber und bot mir an, in ihrem Bus mit in die Stadt zurückzufahren, und genau in diesem Moment sah ich nicht Bill Baudelaire selbst, aber jemanden, der zu den

Besitzern gehen könnte, wo Tommy nicht zugelassen war.

«Wann fährt der Bus?«fragte ich Zak schnell, schon einen Sprung weg von ihm.

«In zwanzig Minuten… vom Vorplatz. Es ist ein Transparent dran.«

«Dann komme ich hin. Danke.«

Ich legte im Eilschritt eine ziemliche Strecke zurück, ohne direkt zu laufen, und holte die wohlgeformte Rückansicht eines dunkelhaarigen Mädchens ein, das einen roten Mantel mit einem breiten weißen, goldbeschlagenen Gürtel trug.

«Nancy?«sagte ich hinter ihr.

Sie drehte sich überrascht um und sah mich fragend an.

«Ehm…«sagte ich,»du hast gestern eine Erfrischung für Bill Baudelaires Tochter bei mir abgeholt.«

«Ach ja. «Sie erkannte mich verspätet.

«Weißt du zufällig, wo ich ihn jetzt finden könnte?«

«Er ist oben im Verein und stößt mit den Siegern an.«

«Könntest du… könntest du vielleicht noch mal was bei ihm abgeben?«

Sie zog die sommersprossige Teenagernase kraus.»Ich bin grad erst runter, um frische Luft zu schnappen. «Sie seufzte.»Ach, na gut. Er würde wahrscheinlich wollen, daß ich’s mache, wenn Sie drum bitten. Sieht aus, als ob er Sie in Ordnung findet. Was soll ich ihm denn diesmal bringen?«

Ich gab ihr das Papierhandtuch-Päckchen.

«Weisung?«fragte sie.

«Es liegt ein Brief bei.«

«Echte Mantel-und-Degen-Affäre.«

«Herzlichen Dank auch, und… ehm, gib es ihm unauffällig.«

«Was ist denn drin?«fragte sie.

«Ein Film mit Fotos von den heutigen Rennen.«

Sie wußte nicht recht, ob sie enttäuscht sein sollte.

«Verlier es nicht«, sagte ich.

Das gefiel ihr offenbar schon besser, und sie grinste mich über die Schulter an und spazierte zum Tribüneneingang. Ich hoffte, sie würde oben keine große Schau mit der Übergabe abziehen, beschloß aber für alle Fälle, mich nirgends aufzuhalten, wo sie mich sehen und den Besitzern zeigen könnte. Also ging ich zum vorderen Ausgang hinaus, fand den Schauspielerbus mit dem Erlebnis-und-Rennexpreß-Transparent und mischte mich unter die darin versammelte Truppe.

Im großen ganzen hatten die Schauspieler zwar auf Premiere gesetzt (was sonst?), waren aber zufrieden, weil man sie des längeren fürs Fernsehen interviewt hatte. Viele Rennbegeisterte von Winnipeg, berichtete Zak, hatten gefragt, wie sie in den Zug kommen könnten.»Ich muß sagen«, meinte er gähnend,»die ganze Reklame dafür hat wirklich eingeschlagen.«

In der Bekanntheit und dem Erfolg, dachte ich, lag die Gefahr. Je mehr Augen in Kanada, Australien und England auf den Zug gerichtet waren, um so mehr könnte Filmer darauf aus sein, ihn in Mißkredit zu bringen. Könnte… könnte. Ich wachte über einen wandernden Schatten; wollte etwas verhindern, das vielleicht gar nicht geschah, suchte nach der Absicht, um ihrer Verwirklichung zuvorzukommen.

Als der Bus mich an einer günstigen Ecke in der Stadt absetzte, ging ich zu Fuß zum Sheraton und sprach dort von einer Telefonzelle aus mit Mrs. Baudelaire.

«Bill rief mich vor zehn Minuten von der Rennbahn an«, sagte sie.»Sie hätten ihm einen Film geschickt und nicht angegeben, wo die Fotos hin sollen.«

«Ruft er Sie noch mal an?«fragte ich.

«Ja, ich sagte ihm, ich würde Sie bald sprechen.«»Gut, also der Film enthält nur eine Aufnahme. Sonst ist er leer. Richten Sie Bill bitte aus, daß der Mann auf dem Foto der Verbündete unserer Zielperson ist. Sein Verbündeter im Zug. Würden Sie fragen, ob Bill ihn kennt? Fragen Sie, ob ihn irgend jemand kennt. Und falls etwas über ihn bekannt ist, was mich weiterbringen könnte, soll er Sie bitte informieren, damit ich es von Ihnen erfahre.«

«Himmel«, sagte sie.»Das muß ich erst mal klarziehen. «Sie unterbrach sich, schrieb.»Im wesentlichen, wer er ist, was er macht und ob Ihnen das, was er macht, weiterhelfen kann.«

«Ja«, sagte ich.

«Und möchten Sie einen Abzug von dem Foto?«

«Ja, bitte. Fragen Sie, ob es sich einrichten läßt, daß der Abzug bis morgen abend oder übermorgen früh im Chateau Lake Louise bei Nell Richmond ist.«

«Schwierig«, bemerkte sie.»Die Post ist unmöglich.«

«Nun, vielleicht könnte morgen früh jemand nach Calgary fliegen«, schlug ich vor.»Eventuell sogar unseren Zug dort abpassen. Wir kommen um zwanzig vor eins an und fahren weiter um halb zwei. Wahrscheinlich ist die Zeit zu knapp, aber wenn’s doch geht, soll Bill das Kuvert an den Zugführer, George Burley, adressieren. Ich gebe George Bescheid.«

«Mein lieber junger Mann«, sagte sie,»lassen Sie mich das alles mal aufschreiben.«

Ich wartete, während sie es tat.

«Also«, sagte sie.»Entweder George Burley im Zug oder Nell Richmond im Chateau Lake Louise.«

«Richtig. Ich rufe Sie bald wieder an.«

«Nicht auflegen«, sagte sie.»Ich habe eine Nachricht von Val Catto für Sie.«

«Ah, gut.«

«Er sagte… und das ist jetzt O-Ton… >Gestohlenes

Beweismaterial ist vor Gericht nicht verwendbar, aber in Erfahrung gebrachte Fakten lassen sich überprüfenc. «Das belustigte Verständnis klang hell aus ihrer Stimme.»Womit er sagen will, schauen Sie mal rein, aber Finger weg.«

«Ja.«

«Und er sagte, Sie sollen an sein Motto denken.«

«Okay.«

«Was ist sein Motto?«fragte sie neugierig, wollte es offensichtlich gern wissen.

«Erst denken, dann handeln, so man Zeit hat.«

«Hübsch«, meinte sie befriedigt.»Er bat mich, Ihnen mitzuteilen, daß er schwer an den unbekannten Zahlen arbeitet und daß Sie sich nicht der Gefahr einer Verhaftung aussetzen sollen.«

«In Ordnung.«

«Rufen Sie mich morgen von Calgary an«, sagte sie.»Dann ist in England schon Abend. Val hat einen ganzen Tag für die Zahlen gehabt.«

«Sie sind fabelhaft.«

«Und ich werde Ihnen sagen, wann Sie Ihre Fotos kriegen.«

Es klickte, und weg war sie, und ich vermochte kaum zu glauben, daß ich jemals an ihr als Schaltstelle gezweifelt hatte.

Der Zug war vom Abstellgleis hereingekommen und stand warm und pulsierend auf dem Bahnhof, die Lok wieder angefügt, Pferde und Pfleger an Bord, Eis und frische Lebensmittel aufgeladen.

Es war, als sähe ich einen alten Freund wieder, vertraut und geradezu gemütlich. Ich zog mir in meinem Abteil Tommys Uniform an und ging zum Speisewagen durch, wo Emil, Oliver und Cathy mich beiläufig begrüßten wie einen, der klar zur Mannschaft gehört. Wir legten sofort die rosa Tischtücher auf und stellten frische Blumen in die Vasen, und Angus mit seiner großen weißen Mütze, der inmitten von Dampfschwaden» Sweet Bonny Boat «pfiff, verwandte sein Können auf weißen Reis und Kammmuschelfleisch in Parmesansauce, während Simone ziemlich verbissen Salat schnitt.

Die Fahrgäste kehrten lange vor acht Uhr in gehobener Stimmung zurück, Mercer begleitet von einem Gepäckträger, der eine Kiste edelsten Schampus herbeikarrte, eigens zum Anstoßen auf den Erfolg der Unwins. Die Unwins selbst — und es war unmöglich, ihnen ihre große Stunde zu mißgönnen — sagten immer wieder, es sei toll, einfach toll, daß tatsächlich ein Pferd aus dem Zug eines der Rennen gewonnen habe, dadurch lohne sich die Sache erst so richtig, und die ganze in den Speisewagen wandernde Gesellschaft stimmte in echter Partylaune zu und klatschte Beifall.

Filmer, sah ich mit Interesse, während ich Gläser verteilte, lächelte charmant nach allen Seiten, obwohl ihm wahrscheinlich doch nichts so unlieb war wie der Riesenerfolg, als der das Zugunternehmen sich erwies.

Daffodil hatte ein funkelndes purpurrotes Kleid angezogen und zeigte sich nicht verstimmt über den fünften Platz von Pampering. Sie war wie gewohnt freundlich zu der frostigeren Bambi, die in hellem Türkis und Perlen erschienen war.

Mercer kam zu Emil und sorgte sich, daß der Sekt nicht kühl genug sei, doch Emil versicherte ihm, er habe alle zwölf Flaschen zwischen den zahlreichen Plastiktüten mit Eiswürfeln gelagert; bis der Zug abfuhr, würden sie genau richtig sein.

Die Youngs, deren Slipperclub den dritten Platz belegt hatte, wurden von den überglücklichen Unwins umarmt und eingeladen, sich an ihren Tisch zu setzen, so daß die armen Flokatis bei anderen Trost suchen mußten, deren Hoffnungen auch im letzten Bogen erloschen waren. Sheridan Lorrimore erzählte einem gutmütig-geduldigen Ehepaar haarklein von seinen Eishockey-Großtaten, und Xanthe, schmollend und beleidigt, weil Mrs. Young sie vorübergehend im Stich gelassen hatte, war neben Giles-dem-Mörder gelandet, der, wenn ich mich nicht sehr täuschte, im wirklichen Leben Jungen bevorzugte.

Der Expreß verließ Winnipeg pünktlich um zwanzig nach acht, und ich setzte meine ganze Energie und Aufmerksamkeit daran, ein guter, normaler Kellner zu sein, auch wenn ich mir der unheilvollen Gestalt, die nach vorn zu am dritten Tisch vor der Küche direkt am Gang saß, ständig bewußt war. Ich begegnete nie Filmers Blicken und glaube nicht, daß er besondere Notiz von mir nahm, doch mit der Zeit wurden wir alle — Emil, Oliver, Cathy und ich — den Fahrgästen zwangsläufig vertrauter. Mehrere von ihnen erkundigten sich, ob wir zum Pferderennen gegangen waren (wir waren alle dort gewesen) und ob wir auf den Sieger gesetzt hatten (nein, hatten wir nicht). Zum Glück hatte Mercer sich mit Emil darüber unterhalten und fand es unnötig, mich auch noch zu fragen, so daß ich mit meinem englischen Akzent nicht allzuviel an seinem Tisch zu reden brauchte.

Die Partystimmung hielt sich während des ganzen Abendessens, begleitete auch eine kurze szenische Einlage von Zak, der erklärte, daß der Mountie in Winnipeg geblieben sei, um vom Boden aus zu ermitteln, und stieg danach noch mächtig an, als man im Aussichtswagen wieder lachend auf unsicheren Beinen tanzte.

Nell, die in dem weniger engen schwarzen Rock, den sie diesmal zu ihrer tadellos sitzenden weißen Seidenbluse trug, nicht ganz so förmlich wirkte, lief umher und sagte mir im Vorübergehen, daß Cumber und Rose im Chateau Lake Louise eine ähnliche Party geben wollten.

«Wer?«fragte ich.

«Cumber und Rose. Mr. und Mrs. Young.«

«Oh.«

«Ich war heute die meiste Zeit mit ihnen zusammen. «Sie lächelte kurz und ging weiter. Kein Klemmbrett, fiel mir auf.

Cumber und Rose, dachte ich beim Einsammeln der Aschenbecher. So, so. Rose paßte sehr gut zu Mrs. Young. Cumber klang nach Kummer und hatte wohl auch etwas für sich, obgleich Mr. Young kein Trauerkloß war; ein bißchen schwerblütig vielleicht, aber nicht schwunglos.

Mercer und Bambi luden Filmer und Daffodil wieder in ihren Privatwagen ein, doch war es diesmal Oliver, der sie mit einer Schüssel Eis versorgte. Mercer kam nach einiger Zeit zurück, um auch die Unwins und die Youngs zu holen, und überall ging das fröhliche Treiben unbekümmert weiter.

Nach Mitternacht sagte Nell, sie werde schlafen gehen, und ich begleitete sie durch den Zug zu ihrem Abteil, fast direkt gegenüber meinem. Sie blieb in der Tür stehen.

«Es läuft gut, finden Sie nicht?«sagte sie.

«Großartig. «Das meinte ich ernst.»Sie haben hart dafür gearbeitet.«

Wir schauten uns an, sie in geschäftsmäßigem Schwarzweiß, ich in meiner gelben Weste.

«Was sind Sie wirklich?«sagte sie.

«Neunundzwanzig.«

Ihre Mundwinkel zuckten.»Eines Tages knacke ich Ihre Abwehr schon noch.«

«Ihre ist schon halb hin.«

«Wie meinen Sie das?«

Ich schlug die Arme vor meine Brust.»Kein Klemmbrett«, sagte ich.

«Ach… na ja… heute abend brauchte ich das nicht.«

Sie war nicht gerade verlegen. Ihre Augen lachten.

«Das dürfen Sie nicht«, sagte sie.

«Was darf ich nicht?«

«Mir einen Kuß geben.«

Ich hatte es gewollt. Sie hatte es mir genau angesehen.

«Wenn Sie mit in meine Klause kommen, darf ich es«, sagte ich.

Sie schüttelte lächelnd den Kopf.»Ich verspiele doch nicht meine Glaubwürdigkeit hier im Zug, indem ich zulasse, daß man mich aus dem Schlafzimmer eines Angestellten kommen sieht.«

«Auf dem Gang zu reden ist fast genauso schlimm.«

«Stimmt«, sagte sie nickend.»Gute Nacht also.«

Ich sagte betrübt:»Gute Nacht«, und sie trat abrupt in ihr eigenes Reich und schloß die Tür.

Mit einem Seufzer ging ich ein paar Schritte weiter zu Georges Dienstabteil und fand ihn wie erwartet komplett angezogen, halb eingenickt, vor einer leeren Kaffeetasse und noch nicht ganz ausgefüllten, beiseitegeschobenen Formularen.

«Kommen Sie rein«, sagte er, augenblicklich hellwach.»Nehmen Sie Platz. Wie läuft’s?«

«So weit, so gut.«

Ich setzte mich auf das Örtchen und sagte ihm, daß die Wasserproben aus dem Pferdewaggon reines, unverfälschtes H2O gewesen waren.

«Das wird die Drachenlady aber freuen, eh?«sagte er.

«Waren Sie beim Pferderennen?«fragte ich.

«Nein, ich hab Verwandte in Winnipeg, die habe ich besucht. Und heute hab ich vorwiegend geschlafen, da ich wegen der Haltestellen die ganze Nacht aufbleibe. «Er wußte aber, daß Upper Gumtree gesiegt hatte.»Sie sollten mal die Party sehen, die im vorderen Aussichtswagen läuft. Sämtliche Pfleger sind betrunken. Die stocknüchterne Drachenlady kriegt sich nicht mehr ein, eh? weil sie versucht haben, dem Pferd einen Eimer

Bier zu geben. Im Dayniter singen sie aus vollem Hals Goldrauschlieder, und es ist ein Wunder, daß sie den Zug nicht vom Gleis gefegt haben bei dem Krach und der Alkoholzufuhr.«

«Es wäre wohl nicht so einfach, den Zug vom Gleis zu fegen?«sagte ich nachdenklich.

«Einfach?«sagte George.»Und ob es das ist. Man braucht nur zu schnell in die Kurve zu gehen.«

«Nun… mal angenommen, ein Fahrgast wollte verhindern, daß der Zug heil, froh und glücklich nach Vancouver kommt — was könnte der machen?«

Er sah mich ungerührt mit klaren Augen an.»Außer daß er den Pferden das Wasser vergiftet? Er könnte sich den Krimi zum Vorbild nehmen, würde ich sagen. Eine Leiche aus dem Zug werfen. Dann wären die Parties schnell zu Ende. «Er kicherte.»Man könnte jemanden von der Stoney-Creek-B rücke schmeißen — das ist eine hohe Bogenbrücke, die am Rogerpaß liegt. Langer Weg bis runter in die Schlucht. Hundert Meter und noch ein bißchen mehr. Bringt ihn der Sturz nicht um, würden es die Bären tun.«

«Bären!«rief ich aus.

Er strahlte.»Grizzlybären, eh? Die Rocky Mountains sind kein zahmer Hinterhof. Sie sind rauhe Natur. Die Bären auch. Die töten Menschen ohne weiteres. «Er legte den Kopf schräg.»Man könnte auch jemanden in den Connaught-Tunnel werfen. Der Tunnel ist fünf Meilen lang und unbeleuchtet. Da lebt eine Gattung von blinden Mäusen drin, die das Korn frißt, das aus den Getreidezügen fällt.«

«Niedlich«, meinte ich.

«Unter dem Boden Ihres Speisewagens liegt ein Weinkeller«, sagte er mit wachsendem Genuß.»Man hat beschlossen, ihn auf dieser Tour nicht zu benutzen, weil die Fahrgäste gestört werden könnten, wenn man ihn öffnet. Er ist groß genug, um eine Leiche drin zu verstecken.«

Seine Phantasie war noch beängstigender als meine, stellte ich fest.

«Eine im Weinkeller versteckte Leiche«, sagte ich höflich,»könnte allerdings die Passagiere stören.«

Er lachte.»Oder was ist, wenn da einer lebendig und gefesselt drinliegt und sich in Qualen windet?«

«Sich die Lunge aus dem Hals schreit?«

«Er ist geknebelt.«

«Falls wir jemanden vermissen«, versprach ich,»werden wir dort nachsehen. «Ich stand auf und schickte mich an zu gehen.

«Wo genau am Rogerpaß liegt die Stoney-Creek-Brücke?«fragte ich, in der Tür innehaltend.

Seine Augen glitzerten, die Tränensäcke kräuselten sich vor Vergnügen.»Ungefähr hundert Meilen hinter Lake Louise. Hoch oben in den Bergen. Aber keine Sorge, eh? Sie fahren da im Dunkeln drüber.«

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