Kapitel 21

Bill Baudelaire, der sie überredet hatte, mit ihm nach Vancouver zu kommen, räusperte sich, und es klang, als sei er bemüht, nicht zu lachen.

«Mrs. Quentin«, sagte er zur Allgemeinheit,»ist bereit auszusagen.«

«Und wie!«unterbrach Daffodil.

«… daß Sie ihr gedroht haben, sie wegen der Tötung eines ihrer Pferde anzuzeigen, wenn sie Ihnen nicht ihren verbliebenen Anteil an Laurentide Ice überläßt — wenn sie Ihnen den nicht schenkt.«

«Sie haben mich ausgenutzt«, sagte Daffodil wütend.»Sie haben sich eine Karte für den Zug gekauft und aus allen Poren Ihren Charme verströmt, und Ihr einziges Ziel war, sich bei Mercer Lorrimore einzuschmeicheln, damit Sie ihn verhöhnen und ihm weh tun und ihm sein Pferd wegnehmen konnten. Ich finde Sie zum Kotzen.«

«Das brauche ich mir nicht anzuhören«, sagte Filmer.

«Das tun Sie jetzt sehr wohl, verdammt noch mal. Es wird Zeit, daß Ihnen mal jemand ins Gesicht sagt, was für ein mieser, aufgeblasener Schleimpfropfen Sie sind, und Ihnen etwas von dem Haß zurückgibt, den Sie säen.«

«Ehm«, sagte Bill Baudelaire.»Wir haben hier einen gestern abgefaßten Brief von Mrs. Quentins Versicherung, der besagt, daß man sich durch eingehende Untersuchung ihres an einer Kolik gestorbenen Pferdes von der Rechtmäßigkeit ihres Versicherungsanspruches überzeugt hat. Ferner haben wir hier eine eidesstattliche Erklärung des Stallburschen Lenny Higgs, aus der hervorgeht, daß er Ihnen bei einem Ihrer ersten Besuche im Pferdewaggon von der Kolik und von den eigens numerierten

Futtermitteln für Laurentide Ice erzählt hat. Des weiteren schwört er, daß man ihn später eingeschüchtert hat, damit er zugibt, dem Pferd, das dann an der Kolik starb, auf Geheiß von Mrs. Quentin irgendein Futter verabreicht zu haben. «Er räusperte sich.»Wie Sie gehört haben, ist die Versicherungsgesellschaft überzeugt, daß das Futter, was immer es nun war, nicht den Tod des Pferdes herbeigeführt hat. Ferner sagt Lenny Higgs aus, daß der Mann, der ihn eingeschüchtert hat, indem er sagte, er würde ins Gefängnis kommen, sich dort mit Aids infizieren und sterben-, daß dieser Mann ein ehemals bei der VIA Rail angestellter Gepäckarbeiter namens Alex Mitchell McLachlan ist.«

«Was?« Zum erstenmal lag Angst in Filmers Stimme, und das war Musik für mich.

«Lenny Higgs erkennt ihn zweifelsfrei auf diesem Foto.«

Eine Pause entstand, während Bill Baudelaire es hinüberreichte.

«Der Mann ist unter dem Namen Johnson im Rennbahnbesucherabschnitt des Zuges gereist. Das Foto wurde gestern ausgiebig unter VIA-Angestellten in Toronto und Montreal herumgezeigt, und man hat ihn mehrmals als Alex McLachlan identifiziert.«

Filmer hätte jetzt reden können, doch es blieb still.

«Man hat beobachtet, wie Sie mit McLachlan sprachen.«

«Na, und ob«, unterbrach Daffodil.»Sie haben mit dem geredet… sich mit ihm gezankt — in Thunder Bay, und er gefiel mir nicht. Das auf dem Foto ist er. Ich erkenne ihn auch. Sie haben ihn benutzt, um Lenny einzuschüchtern, und mir sagten Sie, Lenny würde gegen mich aussagen, und ich ahnte ja nicht, daß Sie dem armen Jungen mit so einer furchtbaren Drohung Angst gemacht hatten. Sie sagten mir, er könne mich nicht ausstehen und werde mich frohen Herzens verleumden. «Die Ungeheuerlichkeit all dessen raubte ihr fast die Sprache.»Ich weiß nicht, wie Sie damit leben können. Ich begreife nicht, wie jemand so voller Sünde sein kann.«

In ihrer Stimme schwang die ganze alte Bedeutung des Wortes mit: eine Verfehlung gegen Gott. Es war stark, dieses Wort, dachte ich, und es hatte Filmer vollends zum Schweigen gebracht.

«Es mag gegenüber dem Vorhergehenden harmlos erscheinen«, sagte der Brigadier nach einer Pause,»aber wir wenden uns jetzt einer gänzlich anderen Angelegenheit zu. Sie wird demnächst auch den Ordnungsausschuß des Jockey Club am Portland Square beschäftigen. Ich spreche vom Besitz eines Grundstücks, das beim Katasteramt als SF90155 verzeichnet ist.«

Der Brigadier erzählte mir später, daß Filmer an dieser Stelle grau im Gesicht wurde und zu schwitzen anfing.

«Dieses Grundstück«, fuhr seine Soldatenstimme fort,»ist als der West-Hillside-Stall bei Newmarket bekannt. Ein Stall, der Ivor Horfitz gehörte und von dessen Privattrainer auf so unredliche Weise geführt wurde, daß man Ivor Horfitz auf Lebenszeit vom Rennsport — und vom Rennstallbetrieb — ausschloß. Er wurde angewiesen, West Hillside zu verkaufen, da er keinen Fuß mehr dort hinsetzen durfte, und man nahm an, er habe es getan. Aber nun möchte der neue Eigentümer seinerseits verkaufen und hat auch einen Interessenten gefunden, doch die Anwälte des Interessenten haben gründlich nachgeforscht und dabei entdeckt, daß Horfitz überhaupt nicht berechtigt gewesen war, die Stallungen zu verkaufen. Sie gehörten — und gehören auch jetzt noch — von Rechts wegen Ihnen, Mr. Filmer.«

Man hörte ein leises Stöhnen, das vielleicht von Filmer kam.

«Da dem so ist, werden wir Ihre Beziehung zu Ivor Horfitz und zu den rechtswidrigen Praktiken, die jahrelang im West-Hillside-Stall ausgeübt wurden, untersuchen müssen. Auch haben wir guten Grund anzunehmen, daß Ivor Horfitz’ Sohn

Jason weiß, daß Sie der Eigentümer des Anwesens sind und in den Stallbetrieb verwickelt waren und daß Jason dies gegenüber seinem Freund, dem Stallburschen Paul Shacklebury, geäußert hat; Paul Shacklebury wiederum war, wie Sie sich erinnern werden, der Gegenstand Ihres Prozesses wegen Anstiftung zum Mord, der Anfang dieses Jahres stattfand.«

Es war lange, lange still.

Daffodils Stimme sagte flüsternd:»Ich kapiere überhaupt nichts mehr, und Sie?«

Mercer antwortete ebenso leise:»Die haben eine Möglichkeit gefunden, ihm Rennbahnverbot auf Lebenszeit zu erteilen.«

«Ah, schön, aber das hört sich so langweilig an.«

«Nicht für ihn«, murmelte Mercer.

«Wir kehren jetzt«, sagte Bill Baudelaires Stimme lauter,»zum Rennexpreß zurück und kommen zu Ihrem Versuch, den Zug verunglücken zu lassen. «Er hüstelte.»Wollen Sie bitte eintreten, Mr. Burley?«

Ich lächelte George zu, der sich die Horfitz-Sache verständnislos und das übrige mit entsetztem Staunen angehört hatte.

«Wir sind dran«, sagte ich, zog meinen Regenmantel aus und legte ihn auf ein Büfett.»Nach Ihnen.«

Er und ich, die letzten im Anrichteraum, traten durch die Tür. Er trug seine graue Uniform und hielt die Zugführermütze in der Hand. Ich erschien in Tommys grauen Hosen, grau und weißem Hemd, dunkelgelber Weste und schmucker gestreifter Krawatte. Geschniegelt, gebügelt, gereinigt, gestriegelt: eine Huldigung an VIA Rail.

Julius Filmer sah den Zugführer und einen Kellner, von dem er, ganz mit seinen eigenen Angelegenheiten beschäftigt, kaum je Notiz genommen hatte. Der Brigadier und Bill Baudelaire sahen den Kellner zum erstenmal, und auf dem einen wie dem anderen Gesicht spiegelte sich erwachende Erkenntnis. Ich hatte ihnen mittlerweile zwar gesagt, daß ich beim Personal gearbeitet hatte, aber so ganz hatten sie noch nicht begriffen, wie perfekt die Tarnung gewesen war.

«Ach, der sind Sie!«rief Daffodil aus, die jetzt auf einem der Stühle am Konferenztisch saß.»Ich wußte draußen nicht, wo ich Sie hintun sollte.«

Mercer tätschelte ihre Hand, die auf dem Tisch lag, und lächelte mir über ihren Kopf hinweg ganz leise zu. Die drei hohen Tiere aus Vancouver nahmen mich für das, was sie sahen, da sie es nicht besser wußten.

«Würden Sie bitte vortreten?«sagte Bill Baudelaire.

George und ich gingen an dem Konferenztisch vorbei nach vorn, bis wir näher am Schreibtisch waren. Die beiden Sicherheitschefs saßen hinter dem Schreibtisch, Filmer in dem Lehnstuhl davor. Filmers Hals war steif, seine Augen waren finster, und der Schweiß lief ihm an den Schläfen herab.

«Der Zugführer George Burley«, sagte Bill Baudelaire,»hat VIA Rail gestern von drei Sabotageakten gegen den Rennexpreß berichtet. Glücklicherweise wurde in allen drei Fällen ein Unglück verhindert, doch wir glauben, daß diese gefährlichen Situationen sämtlich das Werk Alex McLachlans gewesen sind, der in Ihrem Auftrag gehandelt hat und von Ihnen bezahlt wurde.«

«Nein«, sagte Filmer dumpf.

«Unsere Ermittlungen sind noch nicht abgeschlossen«, sagte Bill Baudelaire,»aber wir wissen, daß vor drei oder vier Wochen ein Mann, der ungefähr Ihrer Beschreibung entsprach, im Büro der VIA Rail in Montreal erschien und angab, Recherchen für eine Doktorarbeit über die Gründe und Motive der Wirtschaftssabotage zu betreiben. Er bat um die Namen einiger Eisenbahnsaboteure, damit er sie befragen und herausfinden könne, was sie antrieb. Man händigte ihm eine kurze Liste von Leuten aus, die in keiner Weise mehr bei der Bahn beschäftigt sind.«

Köpfe würden rollen, hatte der VIA-Rail-Geschäftsführer gesagt. Diese Liste fand sich zwar in jedem Bahnhofsbüro des Landes, hätte aber niemals einem Außenstehenden übergeben werden dürfen.

«McLachlans Name steht auf dieser Liste«, stellte Bill Baudelaire fest.

Filmer sagte nichts. Die Erkenntnis hoffnungslosen Desasters zeigte sich in jeder Linie seines Körpers, in jeder Zuckung seines Gesichts.

«Wie schon gesagt«, fuhr Bill Baudelaire fort,»reiste McLachlan unter dem Namen Johnson im Zug. Am ersten Abend, an einem Ort namens Cartier, kuppelte er Mr. Lorrimores Privatwagen ab und ließ ihn leer und unbeleuchtet auf den Schienen stehen. Die Eisenbahnpolizei glaubt, daß er in der Nähe gewartet hat, um zu sehen, wie der nächste Zug, der regelmäßig transkontinental verkehrende Canadian, kommt und in den Wagen der Lorrimores hineinrast. In der Vergangenheit ist er immer vor Ort geblieben, um die Folgen seiner Sabotage zu beobachten: Anschläge, für die er schon Haftstrafen verbüßt hat. Als der Rennexpreß zurückkam, um den Lorrimore-Wagen aufzulesen, stieg er einfach wieder ein und reiste weiter.«

«Er sollte das nicht machen«, sagte Filmer.

«Das wissen wir. Wir wissen auch, daß Sie im Gespräch ständig Winnipeg mit Vancouver verwechselt haben. Sie wiesen McLachlan an, den Zug vor Winnipeg verunglücken zu lassen, meinten aber vor Vancouver.«

Filmer sah verblüfft drein.

«Das stimmt«, sagte Daffodil und setzte sich steil auf,»Winnipeg und Vancouver. Das hat er die ganze Zeit durcheinandergebracht.«

«In Banff«, sagte Bill Baudelaire,»hat jemand die

Verschlußschraube am Öltank für den Dampfkessel gelockert, der den Zug beheizt. Wäre das nicht entdeckt worden, hätte der Zug einen eiskalten Abend in den Rockies durchstehen müssen, ohne Heizung für Pferde und Fahrgäste. Mr. Burley, würden Sie uns aus erster Hand von diesen beiden Vorfällen erzählen?«

George berichtete von der Abkupplung und dem ausgelaufenen Öl mit einer bebenden Stimme, in der die ganze Empörung des Eisenbahners lag.

Filmer sah zusammengeschrumpft und düster aus.

«An diesem letzten Abend«, sagte Bill Baudelaire,»beschlossen Sie, Ihre Weisungen an McLachlan zurückzunehmen, und gingen nach vorn, um mit ihm zu sprechen. Sie hatten eine Auseinandersetzung mit ihm. Sie sagten ihm, er solle nichts mehr unternehmen, aber Sie hatten die Rechnung ohne McLachlan gemacht. Er ist wirklich ein ewiger Saboteur. Sie hatten seine Geistesart falsch eingeschätzt. Sie konnten ihn anstiften, aber aufhalten konnten Sie ihn nicht. Sie sind dafür verantwortlich, daß er in dem Zug saß und ihn verunglücken lassen wollte, und Sie werden sich dafür verantworten müssen.«

Filmer setzte schwach zum Protest an, doch Bill Baudelaire gab ihm keine Chance.

«Ihr Handlanger McLachlan«, sagte er,»schlug den Zugführer bewußtlos und ließ ihn gefesselt und geknebelt in dem Abteil zurück, das er unter dem Namen Johnson belegt hatte. Dann setzte McLachlan das Funkgerät außer Betrieb, indem er Flüssigkeit hineingoß. Diese Maßnahmen waren aus seiner Sicht notwendig, da er zuvor, an einem Ort namens Revel stoke, Ölwerg aus der Lagerbüchse einer Achse unter dem Pferdewaggon entfernt hatte. Zweierlei konnte dadurch geschehen: Entging dem Zugpersonal, daß sich die Achse heißlief, würde sie brechen und Schaden verursachen, möglicherweise den Zug zum Entgleisen bringen. Wurde es bemerkt, so würde der Zug anhalten, damit die Achse abgekühlt werden konnte. In beiden Fällen würde der Zugführer den Fahrdienstleiter in Vancouver per Funk verständigen, der wiederum den Zugführer des nachfolgenden Regelzuges — des Canadian — per Funk zum Anhalten auffordern würde, damit es zu keinem Zusammenstoß kam. Ist das soweit klar?«

Es war allen im Raum sonnenklar.

«Das Zugpersonal«, fuhr er fort,»entdeckte die glühende Achse, und die Lokführer hielten den Zug an. Niemand konnte den Zugführer finden, der gefesselt in Johnsons Abteil lag. Niemand konnte Vancouver verständigen, da das Funkgerät kaputt war. Dem Personal blieb nur ein Mittel, nämlich einen Mann loszuschicken, der entlang der Strecke Fackeln entzündet und so den Canadian auf die althergebrachte Weise stoppt. «Er hielt kurz inne.»Da McLachlan wußte, daß dies geschehen würde, ging er, als der Zug anhielt, selbst am Gleis entlang, bewaffnete sich mit einem Stück Holz und lauerte auf den, der mit den Fackeln kam.«

Filmer starrte finster vor sich hin, er hörte das zum erstenmal.

«McLachlan überfiel den Mann mit den Fackeln, konnte ihn aber zum Glück nicht bewußtlos schlagen. Es war dieser Mann hier, der mit den Fackeln losgeschickt wurde. «Er nickte in meine Richtung.»Es gelang ihm, die Fackeln zu entzünden und den Canadian zu stoppen. «Er hielt inne und fragte mich:»Ist das richtig?«

«Ja, Sir. «Wortwörtlich wie vereinbart, dachte ich.

Er sprach weiter:»Die Lokführer des Rennexpresses kühlten die Lagerbüchse mit Schnee und füllten sie mit Öl auf, und der Zug setzte seinen Weg fort. Der Zugführer wurde in McLachlans Abteil gefunden. McLachlan stieg diesmal nicht wieder in den Zug, und jetzt ergeht ein Haftbefehl gegen ihn. Sie, Mr. Filmer, sind gemeinsam mit McLachlan verantwortlich für das, was geschehen ist.«

«Ich sagte ihm, er solle es nicht tun. «Filmers Stimme war ein lauter Protestschrei.»Ich wollte nicht, daß er es tut.«

Seine Anwälte würden über dieses Bekenntnis entzückt sein, dachte ich.

«McLachlans Angriff war folgenschwer«, sagte Bill Baudelaire ruhig. Er nahm meine Röntgenaufnahme und den ärztlichen Befund und schwenkte sie in Filmers Richtung.»McLachlan hat diesem Besatzungsmitglied das Schulterblatt gebrochen. Das Besatzungsmitglied hat McLachlan zweifelsfrei als den Mann identifiziert, der ihn überfiel. Der Zugführer hat McLachlan zweifelsfrei als den Fahrgast identifiziert, den er als Johnson kannte. Der Zugführer hat eine Gehirnerschütterung erlitten, und auch darüber liegt uns ein ärztliches Zeugnis vor.«

Bestimmt hätte ein guter Verteidiger Lücken in der Geschichte feststellen können, doch in diesem Augenblick war Filmer hart bedrängt, verwirrt und von Schuldbewußtsein überwältigt. Er war außerstande zu analysieren, zu fragen, wie das Besatzungsmitglied McLachlan entkommen und seinen Auftrag ausführen konnte, außerstande zu überlegen, was in bezug auf die Sabotage Vermutung war und was beweisbares Faktum.

Der Anblick des schweißtriefenden Filmer war die reinste Genugtuung, die irgendeiner von uns — Mercer, Daffodil, Val Catto, Bill Baudelaire, George Burley oder ich — sich nur hätte vorstellen können, und wir bekamen sie in vollem Maße. Tut anderen, dachte ich trocken, was sie euren Freunden getan haben.

«Wir werden in allen Punkten gerichtlich gegen Sie vorgehen«, sagte der Brigadier mit feierlicher Strenge.

Filmers Selbstbeherrschung bröckelte. Wie ein Berserker fuhr er von seinem Stuhl hoch, wollte nur noch um sich schlagen, gegen seine Niederlage aufbegehren, seine Wut an jemandem auslassen, auch wenn damit nichts zu erreichen war.

Er nahm mich aufs Korn. Es konnte nicht die unbewußte Erkenntnis sein, daß ich die ganze Zeit sein eigentlicher Widersacher gewesen war; im Gegenteil — er erblickte in mir wohl den unbedeutendsten der Leute dort, denjenigen, den er am ehesten ungestraft verprügeln konnte.

Ich sah ihn auf eine Meile Entfernung kommen. Ich sah auch die Bestürzung im Gesicht des Brigadiers und deutete sie richtig.

Wenn ich mich wehrte, wie mein Instinkt es befahl, wenn ich Filmer so zurichtete, wie ich McLachlan zugerichtet und es dem Brigadier auch erzählt hatte, würde ich unsere Position schwächen.

Erst denken, dann handeln, so man Zeit hatte.

Denken konnte blitzschnell gehen. Ich hatte Zeit. Es würde ein unverhoffter Bonus für uns sein, wenn der Schaden andersherum ausfiel.

Er hatte hantelgestählte Körperkräfte. Die würden mir wirklich schaden.

Nun ja

Ich drehte meinen Kopf ein wenig zur Seite, und er erwischte mich zweimal ziemlich hart an Backe und Kinn. Krachend stürzte ich gegen die nächste Wand, was dem Schulterblatt nicht besonders guttat, und ich ließ mein Kreuz an der Wand heruntergleiten, bis ich mit angezogenen Knien am Boden saß, den Kopf an der Tapete.

Filmer war über mir, holte aus und landete zwei weitere empfindlich schwere Schläge, und ich dachte, kommt, Jungs, höchste Zeit, daß die Kavallerie antrabt, und die Kavallerie — die Mounties — in Gestalt von George Burley und Bill Baudelaire packte entgegenkommend Filmers schwingende Arme und zerrte ihn weg.

Ich blieb, wo ich war, fühlte mich leicht ramponiert, beobachtete das Geschehen.

Der Brigadier drückte einen Knopf auf dem Schreibtisch, worauf nach kurzer Zeit zwei Rennbahnwachleute erschienen, beide stämmig und einer mit einem Paar Handschellen, die er dem wütenden und baß erstaunten Filmer anlegte.

«Das können Sie nicht machen«, rief Julius Apollo.

Der Wachmann befestigte die herabhängende Hälfte der Metallfessel gemächlich an seinem eigenen dicken Handgelenk.

Eines der hohen Tiere aus Vancouver sprach jetzt zum erstenmal, mit gebieterischer Stimme.»Bringen Sie Mr. Filmer in den Wachraum und halten Sie ihn fest, bis ich runterkomme.«

Die Wachleute sagten:»Ja, Sir.«

Sie bewegten sich wie Panzer. Filmer, gedemütigt bis auf die Knochen, wurde von ihnen rausgeschleift, als wäre er ein Niemand. Er konnte einem fast leid tun… wenn man sich nicht an Paul Shacklebury und Ezra Gideon erinnert hätte, für die er auch kein Mitleid empfunden hatte.

Daffodils Augen waren weit aufgerissen. Sie kam zu mir und sah mitfühlend auf mich herunter.

«Sie armer Junge«, sagte sie entsetzt.»Nein, wie furchtbar.«

«Mr. Burley«, sagte Bill Baudelaire sanft,»wären Sie so freundlich, Mrs. Quentin für uns hinauszugeleiten? Wenn Sie sich im Flur nach rechts wenden, kommen Sie zu einer Flügeltür. Dort ist der Empfangsraum, in dem die Fahrgäste, die Besitzer aus dem Zug, sich zu Cocktails und Lunch versammeln. Würden Sie Mrs. Quentin dorthin bringen? Wir kümmern uns dann um dieses Besatzungsmitglied… jemand muß ihm ja helfen. Und wir würden uns freuen, wenn Sie auch zum Lunch bleiben könnten.«

George sagte zu mir:»Alles in Ordnung, Tommy?«, und ich sagte:»Ja, George«, worauf er erleichtert in sich hineinlachte und meinte, es sei ihm ein Vergnügen, eh? zum Lunch zu bleiben.

Er trat beiseite, um Daffodil den Vortritt durch die Tür am anderen Ende zu lassen, und als sie dort ankam, blieb sie kurz stehen und drehte sich um.

«Der arme Junge«, sagte sie noch einmal.»Julius Filmer ist ein Vieh.«

Die Männer vom Vancouver Jockey Club standen auf und murmelten mitfühlende Floskeln in meine Richtung; sagten, sie würden Filmer der Polizei übergeben und auch die Körperverletzung melden; sagten, wir würden später sicher noch als Zeugen gebraucht. Dann folgten sie Daffodil, da sie die Gastgeber der Party waren.

Als sie gegangen waren, schaltete der Brigadier das Gerät aus, das jedes Wort aufgezeichnet hatte.

«Von wegen armer Junge«, sagte er zu mir.»Sie haben sich absichtlich von ihm schlagen lassen. Ich hab’s gesehen.«

Ich quittierte seine Beobachtung mit einem etwas kläglichen Lächeln.

«Das kann doch nicht sein!«widersprach Mercer und trat näher heran.»Niemand könnte sich derart…«

«Er könnte, und er hat es getan. «Der Brigadier kam hinter seinem Schreibtisch hervor.»Schnell geschaltet. Ausgezeichnet.«

«Aber warum?«sagte Mercer.

«Um den schwer zu fassenden Mr. Filmer noch fester beim Wickel zu kriegen. «Der Brigadier blieb stehen, streckte lässig die Hand nach meiner aus und zog mich hoch.

«Stimmt das wirklich?«fragte Mercer mich ungläubig.

«M-hm. «Ich nickte und straffte mich ein wenig, bemüht, nicht zusammenzuzucken.

«Machen Sie sich keine Sorgen um ihn«, sagte der Brigadier.»Er hat schon buckelnde Mustangs geritten und Gott weiß was noch.«

Die drei standen da wie ein Triumvirat und betrachteten mich in meiner Uniform, als wäre ich von einem anderen Stern gekommen.

«Ich habe ihn in den Zug gesetzt«, sagte der Brigadier,»damit er Filmers Absichten, wie immer die nun aussahen, durchkreuzt.«

Er lächelte flüchtig.»Eine Art Wettkampf… ein Zweipferderennen.«

«Manchmal scheint es Kopf an Kopf gegangen zu sein«, sagte Mercer.

Der Brigadier dachte darüber nach.»Vielleicht. Aber unser Starter hatte dann doch die Nase vorn.«

Mercer Lorrimore und ich schauten den Rennen von einem kleineren Raum neben dem großen Saal zu, in dem der Empfang stattfand. Wir waren im Privatzimmer des Rennvereinspräsidenten, seinem Refugium, wenn er einmal ungestört mit Freunden Zusammensein wollte, und dementsprechend war es, in zartem Türkis und Gold, mit dem größten Komfort ausgestattet.

Der Präsident war enttäuscht, aber voller Verständnis dafür gewesen, daß sich Mercer so bald nach dem Tod seines Sohnes nicht imstande fühlte, an der Lunchparty teilzunehmen, und hatte ihm statt dessen diesen Raum angeboten. Mercer hatte mich gefragt, ob ich ihm Gesellschaft leisten wolle, und so tranken er und ich jetzt den Sekt des Präsidenten, schauten aus dem hochgelegenen Fenster auf die Bahn tief unter uns und redeten hauptsächlich über Filmer.

«Ich mochte ihn, wissen Sie«, sagte Mercer verwundert.

«Er kann charmant sein.«

«Bill Baudelaire versuchte mich in Winnipeg zu warnen«, sagte er,»aber ich gab nichts darauf. Ich war wirklich der

Meinung, daß sein Prozeß eine Farce gewesen und daß er unschuldig war. Er hat mir selbst davon erzählt… er sagte, er hege keine Rachegefühle gegen den Jockey Club.«

Ich lächelte.»Extreme Rachegefühle. Er hat ihnen auf den Kopf zugesagt, er würde ihnen auf internationaler Ebene Sand ins Getriebe streuen. McLachlan war eine ziemliche Ladung Sand.«

Mercer setzte sich in einen der wuchtigen Sessel. Ich blieb am Fenster stehen.

«Weshalb wurde Filmer angeklagt«, fragte er,»wenn die Beweislage so dürftig war?«

«Die Beweise waren hieb- und stichfest«, sagte ich.»Filmer ließ durch einen besonders gemeinen Angstmacher alle vier Zeugen der Anklage einschüchtern, und die Beweise waren hin. Diesmal… heute morgen… wollten wir eine Art Vorverfahren inszenieren, bei dem man den Zeugen nichts anhaben konnte, und alles aufzeichnen für den Fall, daß später jemand einen Rückzieher macht.«

Er sah mich skeptisch an.»Dachten Sie, man könnte mich einschüchtern? Ich versichere Ihnen, das kann man nicht. Nicht mehr.«

Nach einer Pause sagte ich:»Sie haben Xanthe. Ezra Gideon hatte Töchter und Enkelkinder. Eine Zeugin im Fall Paul Shacklebury sprang ab, weil man ihr erzählt hatte, was mit ihrer sechzehnjährigen Tochter passieren würde, wenn sie aussagte.«

«Guter Gott«, sagte er bestürzt.»Jetzt muß er doch wohl ins Gefängnis?«

«Auf jeden Fall bekommt er Rennbahnverbot, und das ist das, was er am allerwenigsten möchte. Er hat Paul Shacklebury umbringen lassen, um es zu verhindern. Ich glaube, im Rennsport sind wir ihn los. Im übrigen… da müssen wir wohl abwarten, was die kanadische Polizei und VIA Rail auf die Beine stellen, und wollen hoffen, daß sie McLachlan finden.«

Wenn McLachlan bloß nicht von Bären gefressen worden ist, dachte ich. (Und sie hatten ihn nicht gefressen: Er wurde eine Woche darauf wegen Werkzeugdiebstahls auf einem Abstellbahnhof in Edmonton festgenommen und später zusammen mit Filmer wegen des schweren, altbekannten Delikts der Eisenbahnsabotage verurteilt. Daß sie versucht hatten, ein Zugunglück herbeizuführen, ergab sich hauptsächlich aus der Aussage eines zeitweiligen Mitglieds des Zugpersonals in VIA-Rail-Kleidung. Die Leute von VIA Rail setzten mich rückwirkend auf ihre Personalliste und schüttelten mir die Hand. Filmer wurde inhaftiert, obwohl er sich damit verteidigte, daß er McLachlan in keinem Anklagepunkt ausdrückliche Weisungen erteilt und schließlich noch versucht habe, ihn aufzuhalten. Man wies nach, daß er vorsätzlich einen gewalttätigen Saboteur angeworben hatte; ein möglicher späterer Sinneswandel wurde als belanglos betrachtet. Filmer fand nie heraus, daß ich kein Kellner war, da seine Anwälte gar nicht auf die Idee kamen, danach zu fragen, und es nahm die Geschworenen sehr gegen ihn ein, daß er ohne jeden Anlaß vor zahlreichen Augenzeugen einen wehrlosen Bahnangestellten tätlich angegriffen hatte, obgleich er von dem gebrochenen Schulterblatt wußte. Der Brigadier verzog die ganze Zeit keine Miene.»Das hat prima funktioniert«, meinte er hinterher.»War es nicht eine Wucht, wie Daffodil Quentin sie überzeugt hat, daß der arme Junge nur deswegen brutal zusammengeschlagen worden ist, weil er verhindert hat, daß alle im Schlaf zu Tode kamen? Wunderbar. Die Sinneswandel-These wurde augenblicklich zum Witz. Danach konnten sie Filmer gar nicht schnell genug schuldig sprechen. «McLachlan seinerseits schwor, ich hätte ihn auf der Bahnstrecke beinah umgebracht. Ich sagte, er sei gestolpert und so auf die Schienen geschlagen, daß er das Bewußtsein verloren habe. McLachlan konnte keine Röntgenbilder vorweisen, und zu seiner Empörung glaubte ihm niemand.»Knochenfraktur oder nicht, dieser Kellner kämpft wie ein gottverdammter Tiger«, sagte er.»Filmer könnte ihn unmöglich verprügeln.«

Filmer hatte es aber getan. Man hatte es gesehen, und es war eine Tatsache.)

Am Dienstag des Jockey-Club-Rennexpreß-Sonderrennens in Exhibition Park, als der Prozeß noch Monate entfernt war und die Wirkung von Filmers Fäusten eine Realität statt einer Erinnerung, kam der Vereinspräsident in sein Privatzimmer, um mit Mercer und mir zu sprechen und uns zu zeigen, daß wir, wenn wir die Vorhänge auf der rechten Seite zurückzogen, in den Empfangsraum schauen konnten.

«Sie können hier nicht reinschauen«, sagte er.»Es ist ein Spionspiegel. «Er zog an Schnüren und enthüllt uns die Party.

«Ich höre, daß die Besprechung heute morgen bis auf das Ende gut gelaufen ist. «Er sah mich fragend an.»Mr. Lorrimore und Bill Baudelaire baten uns, Sie als ganz besonderen Ehrengast zu behandeln… aber sollten Sie sich nicht ausruhen?«

«Zwecklos, Sir«, sagte ich,»und ich möchte auf keinen Fall das große Rennen versäumen.«

Durch die Glaswand konnte man faszinierenderweise all die Gesichter sehen, die in den vergangenen zehn Tagen so vertraut geworden waren. Die Unwins, die Redi-Hots, die Youngs…

«Dürfte ich Sie um etwas bitten…?«: sagte ich.

«Um alles auf der Welt, laut Bill Baudelaire und Brigadier Catto.«

Ich lächelte.»Weniger ist mehr. Die junge Frau dort drüben in dem grauen Kostüm, mit den blonden geflochtenen Haaren und dem bekümmerten Gesichtsausdruck.«

«Nell Richmond«, sagte Mercer.

«Hätten Sie etwas dagegen, wenn sie eine Weile hier hereinkäme?«

«Überhaupt nicht«, sagte der Präsident, und Minuten später sprach er schon mit ihr. Er konnte ihr jedoch nicht gesagt haben, wer sie in seinem Zimmer erwartete, denn als sie hereinkam und mich sah, war sie überrascht und, wie mir schien, erfreut.

«Sie sind auf den Beinen! Daffodil sagte, der Kellner sei übel zugerichtet worden. «Die Stimme versagte ihr, und sie schluckte.

«Ich hatte Angst…«

«Daß wir nicht nach Hawaii fahren würden?«

«Oh. «Es war ein Laut irgendwo zwischen einem Lachen und einem Schluchzen.»Ich glaub, ich kann Sie nicht leiden.«

«Geben Sie sich mehr Mühe.«

«Nun…«Sie öffnete ihre Handtasche, schaute hinein, sah dann auf und erblickte all die Leute nebenan.»Ach, toll«, sagte sie zu Mercer.»So sind Sie beide bei uns, auch wenn Sie’s nicht sind. «Sie zog ein zusammengefaltetes Blatt Papier hervor und gab es mir.»Ich muß wieder raus, die Plätze für den Lunch ausklamüsern.«

Ich wollte nicht, daß sie ging. Ich sagte:»Nell…«und hörte, daß es zu nervös klang, zu sehr nach blankem körperlichem Lädiertsein, aber es ließ sich nicht mehr zurücknehmen.

Ihr Gesicht veränderte sich. Es war für sie kein Spiel mehr.

«Lesen Sie das, wenn ich gegangen bin«, sagte sie.»Und ich bin ja dort… hinter dem Glas.«

Sie ging aus dem Präsidentenzimmer ohne zurückzuschauen, und erschien bald wieder bei den anderen. Ich faltete den Zettel auseinander, hoffte, es würde keine schlechte Nachricht sein, und sah, daß es ein Telex war. Es lautete:

RICHMOND, FOUR SEASONS HOTEL, VANCOUVER. BESTÄTIGE IHRE ZWEI WOCHEN URLAUB, AB SOFORT. MERRY. VIEL SPASS.

Ich schloß die Augen.

«Ist das Verzweiflung?«sagte Mercer.

Ich schlug die Augen auf. Das Telex lautete noch genauso. Ich gab es ihm, und er las es auch.

«Ich könnte mir denken«, meinte er ironisch,»daß Val Catto sich da anpaßt.«

«Wenn nicht, quittiere ich den Dienst.«

Wir verbrachten den Nachmittag angenehm miteinander und verfolgten die Vorrennen mit dem Interesse wahrer Enthusiasten. Als die Zeit für das Jockey-Club-Rennexpreß-Sonderrennen kam, entschloß sich Mercer, trotz Sheridan beim Aufsatteln Voting Rights direkt dabeizusein; er konnte ja per Expreßaufzug hinunter- und wieder hochfahren, um sich das Rennen dann von unserem Horst aus anzuschauen.

Als er fort war und der Raum nebenan sich weitgehend geleert hatte, sah ich hinunter auf die Wimpel, die flatternden Fahnen, die Transparente und Ballons und den Rummel, mit dem Exhibition Park an Assiniboia Downs und Woodbine anknüpfte, und ich dachte an all das, was auf der Reise durch Kanada geschehen war; fragte mich, ob ich es künftig als entspannend oder als langweilig empfinden würde, im Regen auf britischen Rennbahnen herumzulatschen, fragte mich, ob ich es weiterhin tun würde; dachte, die Zeit würde mir sicher den Weg weisen, wie sie das immer getan hatte.

Ich dachte an Mrs. Baudelaire, die ich niemals kennenlernen würde, und wünschte, sie hätte dem anstehenden Rennen zuschauen können; dachte dankbar an Tante Viv.

Mercer sah zufrieden aus, als er wiederkam; auf ruhige Weise glücklicher, als habe er Geister gebannt.

«Daffodil ist unglaublich«, sagte er.»Sie hält Hof da unten, küßt Laurentide Ice, lacht, geht auf Wolken. Mit dem Start des Pferdes scheint es kein Problem zu geben, obwohl es zur Hälfte vermutlich noch Filmer gehört.«

«Es steht unter Daffodils Namen im Programm«, sagte ich.

«Stimmt. Und die Youngs… Rose und Cumber… mit Sparrowgrass, und die Leute mit Redi-Hot. Das ist wie ein Club da unten. Sie sagten, sie fänden es schön, daß ich gekommen bin.«

Echte Freude sicher, dachte ich. Die Runde war unvollständig ohne Mercer.

Aus dem großen Fernsehgerät im Präsidentenzimmer erklangen die Fanfaren, die das Hinausreiten der Teilnehmer ankündigten; man hörte den Kommentar, hörte Zuschauerlärm. Längst nicht so, wie wenn man unten beim Geschehen war, aber besser als Stille. Das Rennen wurde in ganz Kanada live übertragen und für den Rest der Welt aufgezeichnet, so daß es ein langes Geschwätz gab über das zunehmend internationale Flair des kanadischen Rennsports, nicht zu reden von dem enormen Interesse, das der Große Transkontinentale Erlebnis-und Rennexpreß überall geweckt hatte, ganz zu schweigen von dem Nutzen, den Kanada daraus ziehen konnte.

Mercer, der bereit gewesen war, eine Menge für den kanadischen Rennsport zu tun, schaute zu, wie Voting Right die Parade vor dem Rennen anführte, wobei wir das Pferd auf dem Bildschirm größer sahen als auf der Bahn tief unter uns.

«Er sieht gut aus«, sagte er zu mir.»Eigentlich hoffe ich…«Er hielt inne.»Ich glaube fast, er ist das beste von all meinen Pferden. Er wird einmal das beste sein. Aber vielleicht ist er heute noch nicht soweit. Vielleicht ist es noch zu früh. Sparrowgrass ist Favorit. Es wäre schön für die Youngs…«

Wir sahen zu, wie jetzt Sparrowgrass daherstolzierte.

«Cumber Young hat rausbekommen, daß es Filmer war, der Ezra Gideons Pferde gekauft… oder kassiert hat. Wäre Cumber heute morgen hier oben gewesen, er hätte Filmer in Stücke gerissen.«

«Und sich selbst in Schwierigkeiten gebracht«, sagte ich.

«So wie Filmer?«»Grob gesagt, ja.«

«Grob ist das richtige Wort. «Er sah mich von der Seite an, äußerte sich aber nicht weiter.

«Schauen Sie auf die Pferde«, sagte ich mild. Nicht auf die schwellenden Beulen.

Mit ironisch zuckenden Lippen wandte er seine Aufmerksamkeit wieder Redi-Hot zu, der so fit aussah, als könnte er den Boden zum Glühen bringen, und Laurentide Ice, in der Farbe seines Namens.

Neun der zehn Starter waren mit dem Zug angereist. Der zehnte war ein Pferd hier aus Vancouver, das die Unwins eigens für den Anlaß gekauft hatten. Kein so guter Kandidat wie Upper Gumtree, doch die Unwins wollten beim Höhepunkt aktiv dabeisein.

Sämtliche Besitzer und Nell, die liebe Nell, kamen, um sich das Rennen von dem verglasten Tribünenabschnitt aus anzuschauen, der unter dem Fenster des Präsidenten schräg nach außen vorsprang, so daß Mercer und ich über ihre erregten Köpfe hinweg sahen, wie die Pferde in die Startboxen geführt wurden und die blitzenden Farben herausstürmten.

«Quer durch ganz Kanada«, sagte Mercer wie zu sich selbst,»wegen der nächsten zwei Minuten.«

Quer durch ganz Kanada, dachte ich, in Kummer und Liebe und Trauer um seinen Sohn.

Voting Right schoß aus der Startmaschine und brachte sich weit an die Spitze.

Mercer stöhnte leise:»Er läuft davon.«

Laurentide Ice und Sparrowgrass, die nächsten, hatten es nicht eilig, gingen aber eine gute Pace, Kopf an Kopf, kein Zentimeter dazwischen. Hinter ihnen kamen fünf oder sechs in einer dichten Gruppe, mit Redi-Hot als Schlußlicht.

In leierndem Ton las der Fernsehsprecher die Zeit für die erste von Voting Right zurückgelegte Viertelmeile ab.

«Zu schnell«, stöhnte Mercer.

Bei der halben Meile lag Voting Right immer noch in Front, ging immer noch ein hohes Tempo, führte mit vollen zwanzig Längen.

«Das ist aussichtslos«, sagte Mercer.»Auf der Einlaufgeraden geht er ein. So ist er noch nie geritten worden.«

«Haben Sie das mit dem Jockey nicht abgesprochen?«

«Ich habe ihm nur Glück gewünscht. Er kennt das Pferd.«

«Vielleicht hat die Zugfahrt es beflügelt«, meinte ich respektlos.

«Da fährt man so weit…«sagte Mercer, ohne meine Bemerkung zu beachten.»Nun ja, so ist das im Rennsport.«

«Bis jetzt ist er noch nicht eingegangen«, hob ich hervor.

Voting Right lag weit in Führung, lief die Gegengerade sehr viel schneller, als der Rennexpreß durch die Rockies gefahren war, und er wußte nicht, daß er es zu schnell anging, er lief einfach drauflos.

Die Jockeys auf Sparrowgrass, Laurentide Ice, Redi-Hot und den anderen warteten mit ihrem Angriff auf die Spitze, bis sie den Schlußbogen genommen und sich über die Bahn verteilt hatten, um ungehindert einzulaufen.

Jetzt schmolz Laurentide Ice dahin, wie Mrs. Baudelaire es vorausgesagt hatte, Redi-Hot legte einen Spurt ein, und Sparrowgrass machte sich endlich entschlossen an Voting Right heran.

«Er wird verlieren«, sagte Mercer verzweifelt.

Es sah so aus. Man konnte es nicht sicher sagen, aber seine Zeit war zu schnell.

Voting Right lief immer weiter. Sparrowgrass kämpfte hart bis zum Schluß, doch es war Voting Right, wie von Mrs. Baudelaire vorausgesagt, Voting Right, der die Nase vorn hatte, der locker in Bahnrekordzeit durchs Ziel ging; das beste Pferd, das Mercer je besitzen würde, gerettet vor dem Zugriff Filmers.

Sheridan ruhte in ewigem Frieden, und wer wollte sagen, daß Mercer nicht recht hatte, daß der Sohn auf seine impulsive Art nicht gestorben war, um seinem Vater diesen Augenblick zu schenken.

Mercer wandte sich zu mir, sprachlos, überfließend von nicht in Worte zu fassender Bewegung, wollte lachen, wollte weinen, wie alle Besitzer, wenn ein Wunschtraum in Erfüllung ging. Der Glanz in seinen Augen war auf der ganzen Welt der gleiche: die Liebe zum pfeilschnellen Vollblut, das vollkommene Glück, ein großes Rennen zu gewinnen.

Er fand seine Sprache wieder. Blickte mich mit erwachendem Humor und sehr viel Einsicht an.

«Danke«, sagte er.

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