Kapitel 4

«Wie kann man denn in einem Zug ein Stück aufführen?«fragte ich Bill Baudelaire am nächsten Tag.»Ich hätte nicht gedacht, daß das geht.«

«Krimis sind sehr beliebt in Kanada. Sehr in Mode«, sagte er,»und sie führen nicht direkt ein Stück auf. Einige der Passagiere werden Schauspieler sein, werden die Handlung in Gang setzen. Ich war neulich auf einer Dinnerparty. einer Krimi-DinnerParty. und ein paar von den Gästen waren Schauspieler, und ehe wir wußten, wie uns geschah, waren wir alle in eine Folge von Ereignissen verwickelt, die ebensogut hätten real sein können. Ganz erstaunlich. Ich war dort, weil meine Frau hinwollte. Ich dachte, das wäre überhaupt nichts für mich, aber es hat Spaß gemacht.«

«Einige der Passagiere…«wiederholte ich langsam.»Wissen Sie, welche?«

«Nein«, sagte er fröhlicher, als mir lieb war.»Das gehört doch zum allgemeinen Vergnügen dazu, daß man versucht, die Schauspieler herauszufinden.«

Es gefiel mir immer weniger.

«Und natürlich können die Schauspieler sich auch in der anderen Reisegruppe versteckt halten, bis ihr Auftritt kommt.«

«Was für eine andere Reisegruppe?«sagte ich verständnislos.

«Die Rennplatzbesucher. «Er sah mir ins Gesicht.»Steht davon nichts in dem Paket?«

«Nein.«

«Aha. «Er überlegte kurz.»Nun, die Eisenbahngesellschaft sagte, um die Fahrt wirtschaftlich tragbar zu machen, sollten wir unsere Gruppe an den regulären Zug anschließen, der täglich von Toronto nach Vancouver abgeht und The Canadian heißt.

Das wollten wir nicht, denn es hätte bedeutet, daß der Zug nicht zwei Tage in Winnipeg und in den Bergen stehenbleiben kann; wir hätten die Wagen zwar abkuppeln und auf ein Nebengleis stellen können, doch daraus hätten sich Sicherheitsprobleme ergeben. Ein Sonderzug für uns allein aber erwies sich als ungemein teuer, fast unbezahlbar. Also haben wir für eine zusätzliche Tour geworben… eine Tour für Rennbahnbesucher… und jetzt haben wir unseren eigenen Zug. Aber er ist um drei Schlafwagen und einen Speisewagen erweitert worden, und dazu kommen noch ein oder zwei Dayniter, je nachdem, wie viele Karten sie schließlich verkaufen. Wir fanden eine ungeheure Resonanz bei Leuten, die nicht zahlen wollten, was die Besitzer zahlen, und doch gern eine Urlaubsreise machen möchten, die sie quer durch Kanada zu den Pferderennen führt. Sie kaufen Fahrkarten zum Normaltarif und sorgen an den Stationen selbst für ihre Unterkunft… und diese Gruppe bezeichnen wir aus Zweckmäßigkeitsgründen als Rennbahnbesucher.«

Ich seufzte. Wahrscheinlich gab das alles einen Sinn.»Was ist ein Dayniter?«sagte ich.

«Ein Wagen mit Liegesitzen, ohne Betten.«

«Und wie viele Leute fahren insgesamt mit?«

«Schwer zu sagen. Achtundvierzig Besitzer zunächst mal… wir nennen sie Besitzer, um sie von den Rennbahnbesuchern zu unterscheiden. und die Pfleger. Dann die Schauspieler und die Leute von der Reiseagentur. Dann das Zugpersonal — Stewards, Kellner, Küchenmeister und so fort. Mit all den Rennbahnbesuchern… nun, vielleicht so zweihundert Leute insgesamt. Das werden wir erst bei der Abfahrt wissen. Und auch dann wohl nur, wenn wir nachzählen.«

Ich konnte unter zweihundert Menschen leichter untertauchen als unter achtundvierzig, dachte ich. Vielleicht war es nicht allzu schlimm. Dennoch würden die Besitzer nach Schauspielern

Ausschau halten… nach Leuten, die nicht waren, was sie zu sein schienen.

«Sie wollten wissen, wie wir Kontakt halten können«, sagte Bill Baudelaire.

«Ja.«

«Das habe ich mit etlichen von unserem Jockey Club besprochen, und wir meinen, da müssen Sie uns schon von den Haltestellen aus anrufen.«

Ich sagte mit einiger Bestürzung:»Wie viele Leute von Ihrem Jockey Club wissen denn, daß ich mit dem Zug fahre?«

Er sah überrascht drein.»Im Direktionsbüro weiß wahrscheinlich jeder, daß wir einen Mann mitschicken. Sie wissen nicht genau, wen. Nicht mit Namen. Noch nicht. Ich wollte Sie erst kennenlernen und für gut befinden. Sie wissen nicht und werden auch nicht erfahren, wie Sie aussehen.«

«Würden Sie bitte niemandem meinen Namen nennen«, sagte ich.

Er war halb verblüfft, halb gekränkt.»Die Mitglieder unseres Jockey Club sind doch verständige Menschen. Diskret.«

«Informationen sickern durch«, sagte ich.

Er sah mich grübelnd an, während er die Eiswürfel in seinem Wodka klirren ließ.»Meinen Sie das im Ernst?«

«Allerdings.«

Seine Stirn furchte sich.»Es ist leider möglich, daß ich ein oder zwei Leuten Ihren Namen gesagt habe. Ich werde ihnen aber einschärfen, ihn nicht weiterzugeben.«

Viel mehr ließ sich wohl kaum noch machen. Vielleicht war ich allzu besessen von dem Wunsch der Geheimhaltung. Trotzdem.

«Ich möchte lieber nicht im Jockey Club direkt anrufen«, sagte ich.»Könnte ich nicht irgendwo Nachrichten hinterlassen, wo nur Sie sie bekommen? Zum Beispiel bei Ihnen zu Hause?«

Ein beinah jungenhaftes Grinsen überzog sein Gesicht.»Ich habe drei junge Töchter und eine sehr beschäftigte Frau. Der Hörer liegt fast nie auf der Gabel. «Er überlegte kurz, schrieb dann eine Nummer auf einen kleinen Notizblock und gab mir das Blatt.

«Nehmen Sie die«, sagte er.»Es ist die Nummer meiner Mutter. Sie ist immer da. Es geht ihr nicht gut, und sie liegt meistens im Bett. Aber sie hat einen klaren Kopf. Sie ist fix. Und weil sie krank ist, wird sie immer gleich zu mir durchgestellt, wenn sie im Büro anruft, oder man sagt ihr, wo sie mich findet. Jede Mitteilung, die Sie ihr zukommen lassen, wird mich nach kürzester Zeit persönlich erreichen. Geht das so?«

«Ja, ausgezeichnet«, sagte ich und behielt meine Zweifel für mich. Brieftauben, dachte ich, wären vielleicht besser.

«Sonst noch etwas?«fragte er.

«Ja… meinen Sie, Sie könnten den Besitzer von Laurentide Ice mal fragen, warum er einen halben Anteil an Filmer verkauft hat?«

«Es ist eine Sie. Ich werde mich erkundigen. «Er schien da Bedenken zu haben, äußerte sie aber nicht.»Ist das alles?«sagte er.

«Meine Fahrkarte?«

«Ach ja. Sie liegt beim Veranstalter, Merry & Co. Die tüfteln noch aus, wer wo schlafen soll, da Sie ja hinzukommen. Denen werden wir natürlich Ihren Namen sagen müssen, aber bis jetzt haben wir nur gesagt, daß wir unbedingt noch eine Fahrkarte brauchen, egal wie, auch wenn es unmöglich scheint. Ihre Fahrkarte wird am Sonntag morgen in der Union Station in Toronto sein, und dort können Sie sie abholen. Da holen alle Besitzer sie ab.«

«In Ordnung.«

Er erhob sich zum Gehen.»Also… bon voyage«, sagte er und fügte nach einer kurzen Pause hinzu:»Vielleicht versucht er ja gar nichts.«

«Hoffentlich nicht.«

Er nickte, schüttelte mir die Hand, trank den Rest seines Wodkas auf einen Zug und ließ mich mit meinen Gedanken allein.

Der erste davon war, wenn ich vorhatte, einen ganzen Kontinent mit der Bahn zu durchqueren, könnte ich die Reise ebensogut auf die Art antreten, wie ich sie fortsetzen wollte. Falls ein Zug von Ottawa nach Toronto ging, würde ich damit fahren, anstatt zu fliegen.

Es ging tatsächlich ein Zug, bestätigte das Hotel. Abfahrt 17 Uhr 50, Ankunft vier Stunden später. Abendessen an Bord.

Ottawa hatte seinen zentral gelegenen Bahnhof sozusagen unter den Teppich gekehrt, als ob Eisenbahnen, wie die unteren Gesellschaftsklassen, nicht zu sehen sein sollten, und mehrere Meilen außerhalb der Stadt in denkbar ungünstiger Lage einen großen neuen Bahnhof gebaut. Der Bahnhof selbst erwies sich jedoch als Augenweide, ein riesiges, hohes Zelt aus Glas zwischen Bäumen, in das sich die Nachmittagssonne ergoß und schräge Schatten auf den glänzend schwarzen Boden warf.

Die Leute, die auf den Zug warteten, hatten ihr Gepäck in einer Reihe abgestellt und sich auf die Bänke entlang den Glaswänden gesetzt, eine sehr vernünftige Regelung, wie ich fand, und so stellte ich meinen Koffer ans Ende der Schlange und suchte mir auch einen Platz. Filmer hin, Filmer her, dachte ich, bis jetzt fühlte ich mich ausgesprochen wohl.

Das Essen im Zug wurde serviert wie in Flugzeugen. Mehrere Stewards in Hemdsärmeln und dunkelgelben Westen schoben zuerst einen Wagen mit Getränken, dann einen mit Speisen durch den Mittelgang und bedienten im Vorübergehen links und rechts. Ich schaute ihnen eine Zeitlang müßig zu, und als sie an mir vorbei waren, konnte ich mich nicht mehr an ihre Gesichter erinnern. Ich trank französischen Wein, während es über der vorbeifliegenden Landschaft dämmerte, aß nach Einbruch der Dunkelheit ein Dinner, wie es wenige Fluglinien anboten, und dachte über Chamäleons nach; in Toronto nahm ich dann ein Taxi und stieg wieder in einem Hotel der Four-Seasons-Kette ab, wie ich es Bill Baudelaire gesagt hatte.

Am Morgen, einige hundert Gedanken später, folgte ich der Wegbeschreibung des Hotelportiers und ging zu Fuß zum Büro der Reiseveranstalter, Merry & Co, deren Prospekt ich bereits kannte.

Der Eingang in Straßenhöhe war nicht imponierend, das Gebäude wirkte klein, um so geräumiger aber das hell erleuchtete Innere, mit hellem Teppichboden, hellem Holz und einem Flair von absoluter Ruhe. Es gab ein paar Grünpflanzen, ein oder zwei Sofas und jede Menge Schreibtische, hinter denen leise, bedächtige Telefongespräche geführt wurden. Alle Telefonierenden saßen zur Mitte des riesigen Raums hin und blickten nach vorn, nicht auf die Wände.

Ich ging zu dem Schreibtisch eines zielbewußt aussehenden Mannes mit Bart, der nicht gerade am Telefon sprach, sondern sich die Fingernägel reinigte.

«Kann ich helfen?«fragte er knapp.

Ich sagte, ich wolle zu dem, der den Rennexpreß organisiere.

«Ah ja. Da drüben. Drittnächster Tisch.«

Ich dankte ihm. Der drittnächste Tisch da drüben war nicht besetzt.

«Sie kommt gleich wieder«, tröstete der übernächste Tisch.

«Nehmen Sie ruhig Platz.«

Vor den Schreibtischen standen Sessel, vermutlich für die Kundschaft. Bequeme Sessel zum Verwöhnen der Kunden, dachte ich flüchtig, als ich mich hinsetzte.

Auf dem verlassenen Schreibtisch stand eine Plastikkarte mit

Prägedruck, die den Namen seiner Inhaberin verkündete: Nell. Eine ruhige Stimme hinter mir sagte leise:»Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«, und ich stand höflich auf und sagte:

«Ja, bitte.«

Sie hatte blondes Haar, graue Augen, ein irgendwie frisches, mit Sommersprossen besprenkeltes Gesicht, aber sie war nicht so jung, wie es auf den ersten Blick aussah, dachte ich, sonst wäre sie achtzehn gewesen.

«Ich komme wegen des Zuges«, sagte ich.

«Ja. Könnten Sie sich vielleicht auf fünf Minuten beschränken? Da ist noch so viel zu regeln. «Sie ging um ihren Schreibtisch herum, setzte sich und sah auf einen Berg von Listen nieder.

«Mein Name ist Tor Kelsey«, begann ich.

Ihr Kopf fuhr hoch.»Wirklich? Der Jockey Club hat uns Ihren Namen heute morgen mitgeteilt. Also, wir haben Sie reingenommen, weil Bill Baudelaire sagte, sonst würde er die ganze Veranstaltung abblasen. «Die kühlen grauen Augen taxierten mich nicht gerade so, als ob der, den sie vor sich sah, das Theater nicht wert wäre, aber es ging in die Richtung.»Der Speisewagen ist das Problem«, sagte sie.»Der hat nur achtundvierzig Plätze. Alle müssen gleichzeitig zu Tisch sein, weil der Krimi vor und nach den Mahlzeiten aufgeführt wird, und auf zwei oder drei von diesen Plätzen sitzen Schauspieler. So war es jedenfalls vorgesehen, nur ist für die jetzt auch kein Platz mehr, weil mein Boß zu viele Karten an Nachzügler verkauft hat, und Sie sind genau Nummer neunundvierzig. «Sie hielt kurz inne.»Das ist wohl unsere Sorge, nicht Ihre. Wir haben Ihnen ein Einbettabteil reserviert, und Bill Baudelaire sagt, wir möchten Ihnen bitte jeden Wunsch erfüllen. Wir fragten ihn, was für Wünsche Sie haben könnten, und er wußte es nicht. Hilft einem wie verrückt. Wissen Sie selbst, was Sie wollen?«»Ich wüßte gern, wer die Schauspieler sind und welche Handlung ihr Stück hat.«

«Nein, das geht nicht. Das verdirbt Ihnen doch den Spaß. Wir verraten den Reisenden nie was.«

«Hat Bill Baudelaire Ihnen gesagt«, fragte ich,»warum er mich unbedingt in dem Zug haben wollte?«

«Eigentlich nicht. «Sie krauste ein wenig die Stirn.»Ich habe nicht weiter darüber nachgedacht, muß mich ja um so viel anderes kümmern. Er hat einfach darauf bestanden, daß wir Sie mitnehmen, und da der Jockey Club unser Kunde ist, richten wir uns nach ihm.«

«Fahren Sie auch mit dem Zug?«fragte ich.

«Ja. Es muß jemand von der Firma dabeisein, um die Krisen zu beheben.«

«Und wie gut können Sie ein Geheimnis bewahren?«

«Ich bewahre jeden Morgen vor dem Frühstück schon ein halbes Dutzend.«

Ihr Telefon klingelte leise, und sie meldete sich mit leiser Stimme, fügte ihr Murmeln dem anderen Gemurmel im Raum hinzu. Mir wurde klar, daß die Stille eine gezielte Politik war, denn sonst hätten sie alle aus vollem Hals schreien müssen und von dem, was ihre Anrufer sagten, kein Wort verstanden.

«Ja«, sagte sie gerade.»Vor zehn in Mimico. Vier Dutzend, ja. Packen Sie sie in den Sonderspeisewagen. Gut. Prima. «Sie legte den Hörer auf und sagte ohne Übergang zu mir:»Was für ein Geheimnis soll denn gewahrt bleiben?«

«Daß der Jockey Club mich engagiert hat. um Krisen abzuwenden.«

«Oh. «Es war ein gedehnter Laut des Verstehens.»In Ordnung, bleibt geheim. «Sie dachte kurz nach.»Die Schauspieler proben gerade hier in der Nähe. Da ich heute sowieso noch zu ihnen muß, kann das genausogut gleich

passieren. Was soll ich ihnen sagen?«

«Am liebsten, daß Ihre Firma mich als Störungssucher in den Zug setzt, weil eine ganze Zugladung von Rennsportfreunden eine unbeständige Masse ist, die nur einen Vorwand sucht, um zu explodieren. Sagen Sie, es sei für alle Fälle.«

«Das ist es ja auch«, sagte sie.

«Na gut. Und ich möchte auch Ihr Problem mit dem neunundvierzigsten Platz lösen. Ich möchte als Kellner in dem Zug mitfahren.«

Sie sah nicht erstaunt drein, sondern nickte.»Ja, okay. Gute Idee. Wir setzen ziemlich oft einen Schauspieler als Kellner ein, aber auf dieser Tour zum Glück nicht. Die Eisenbahngesellschaft ist sehr hilfsbereit, wenn man sie bittet. Ich mach das schon. Also kommen Sie, es gibt noch so viel zu tun.«

Sie bewegte sich schnell, ohne daß es so aussah, und bald darauf flitzten wir in ihrem kleinen blauen Wagen um irgendwelche Ecken und hielten mit einem Ruck vor der Garage eines großen Hauses an.

Die Probe, wenn man es so nennen konnte, fand in der Garage selber statt, die kein Auto beherbergte, sondern einen großen Tapeziertisch, einen Haufen Klappstühle, einen tragbaren Gasofen und etwa zehn in Grüppchen herumstehende Männer und Frauen.

Nell stellte mich vor, ohne meinen Namen zu nennen.»Wir nehmen ihn mit, weil er im Zug die Augen und Ohren der Firma sein soll. Alles, was Ihrer Meinung nach Ärger geben könnte, sagen Sie bitte ihm oder mir. Er fährt als Bedienung mit, das heißt, er kann sich überall im Zug frei bewegen, ohne daß Fragen gestellt werden. Okay? Sagen Sie den zahlenden Passagieren nicht, daß er zu uns gehört.«

Sie schüttelten die Köpfe. Den Passagieren den wahren Sachverhalt vorzuenthalten, war ihr tägliches Brot.

«Okay«, sagte Nell zu mir.»Ich lasse Sie hier. Rufen Sie mich nachher an. «Sie legte einen großen Umschlag, den sie mitgebracht hatte, auf den Tisch, winkte den Schauspielern zu und verschwand, und einer von ihnen, ein Mann etwa in meinem Alter, mit einem Wuschelkopf aus dichten hellbraunen Locken, kam zu mir, gab mir die Hand und sagte:»Sie ist die Beste vom Fach. Ich heiße übrigens David Flynn, aber sagen Sie Zak zu mir. So heiße ich in dem Krimi.

Von jetzt an nennen wir uns alle bei den Krimi-Namen, damit uns vor den Passagieren kein Fehler unterläuft. Sie kriegen besser auch einen Rollennamen. Wie wär's mit… ehm, Tommy?«

«Soll mir recht sein.«

«Gut, alle mal herhören, das ist Tommy, ein Kellner.«

Sie nickten lächelnd, und alle wurden mir der Reihe nach unter den Namen vorgestellt, die sie im Zug benutzen würden.

«Mavis und Walter Bricknell, Pferdebesitzer. «Sie waren mittleren Alters, gekleidet wie die anderen in Jeans und Freizeitpullovern.»Sie sind auch im wirklichen Leben verheiratet.«

David/Zak schritt die Reihe zügig ab, ein enorm selbstbewußter Mensch, der keine Zeit verschwendete.»Ricky. ein Pfleger in dem Krimi, nur daß er mit den Rennbahnbesuchern reist, nicht mit den Stallangestellten. Seine Krimirolle endet in Winnipeg, wo er dann aussteigt. Das ist Raoul, Galopprenntrainer für die Bricknells und ihr Gast im Zug. Ben hier ist ein alter Pfleger, der ein paar Rennen geritten hat. «Ben grinste aus einem schmalen, zerfurchten Gesicht, wie es der Rolle entsprach.»Das ist Giles: Fallen Sie nicht auf sein gutes Aussehen rein, er ist unser Mörder. Dies ist Angelica, die Sie nicht allzuoft sehen werden, da sie das erste Opfer ist. Und Pierre, ein zwanghafter Spieler, ist verliebt in Donna, die Tochter der Bricknells, und das hier ist Donna. Und als letztes

James Winterbourne, der ist ein hohes Tier im Ontario Jockey Club. «Ich glaube nicht, daß ich zusammengezuckt bin. Die große Nummer im Ontario Jockey Club trug einen Dreitagebart und einen roten Filzhut, den er förmlich vor mir abnahm.»Leider, leider«, sagte er,»fahre ich nicht mit. Mein Part endet damit, daß ich den Zug offiziell absegne. Pech gehabt.«

David/Zak sagte zu mir:»Wir gehen jetzt die erste Szene durch. Jeder weiß, was zu tun ist. Hier ist die Union Station. Der Treffpunkt für die Passagiere. Alle sind da. Los, Leute, auf geht’s.«

Mavis und Walter sagten:»Wir plaudern mit anderen Fahrgästen über die Reise.«

Pierre und Donna sagten:»Wir streiten uns halblaut.«

Giles sagte:»Ich bin nett zu den Passagieren.«

Angelica:»Ich suche jemand namens Steve. Ich frage die Passagiere, ob sie ihn gesehen haben. Er soll mitfahren, ist aber nicht aufgetaucht.«

Raoul sagte:»Meine unwürdige Person mischt sich in den Streit zwischen Pierre und Donna ein, weil ich sie auseinanderbringen möchte, damit ich sie selbst heiraten kann. Wegen dem Geld ihres Vaters natürlich.«

Pierre sagte:»Worauf ich erbost hinweise.«

Donna:»Was mir nicht gefällt, und ich bin den Tränen nahe.«

Ben:»Ich bitte Raoul um etwas Kohle, bekomme aber nichts. Ich sage einer Menge Leuten, was für ein Geizkragen er ist, wo ich doch all die Jahre für ihn gearbeitet habe. Die Reisenden sollen mich lästig finden. Ich sage ihnen, daß ich im Rennbahnbesucherabschnitt des Zuges sitze.«

James Winterbourne sagte:»Ich bitte um Aufmerksamkeit und teile allen mit, daß wir Pferde, Pfleger, Rennbahnbesucher und die verehrten Besitzer samt Freunden im Zug haben. Ich hoffe, alle werden sich bestens amüsieren bei dieser historischen

Neuinszenierung und so weiter und so fort zum Ruhme des kanadischen Rennsports.«

Ricky sagte:»Ich treffe ein. Jemand vom Bahnhofspersonal — nämlich Jimmy (der jetzt nicht hier ist) in Eisenbahneruniform — versucht mich aufzuhalten, aber ich renne zu den Passagieren, blutüberströmt, und brülle, irgendwelche Banditen hätten versucht, ein Pferd aus dem Zug zu entführen, aber ich hätte geschrieen, und die Wartungsmonteure auf dem Rangierbahnhof hätten sie verjagt. Ich bin der Meinung, die Besitzer sollten das wissen.«

Zak sagte:»Jimmy rennt los, um mich zu holen, und ich trabe an und erkläre allen, daß kein Grund zur Beunruhigung besteht; sämtliche Pferde sind im Zug und in Sicherheit, aber damit auch künftig jemand nach dem Rechten sieht, werde ich selbst im Zug mitfahren. Ich bin der höchste Sicherheitsbeamte der Eisenbahn. «Er blickte in die Runde.»Alles klar soweit? Dann beruhigt James Winterbourne die Gesellschaft und bittet sie, auf Bahnsteig 6, Gleis 7 in den Zug zu steigen. Ich werde mich Sonntag früh vergewissern, ob das noch stimmt, aber bis jetzt ist es so abgemacht.«

Die Bricknells sagten:»Wir fragen Sie, welches Pferd man da entführen wollte, aber das wissen Sie nicht. Wir suchen Ricky, um ihn zu fragen. Er ist zwar nicht unser Stallbursche, aber wir sind eben ängstliche Leute.«

«Gut«, sagte Zak.»Wir steigen also alle ein. Das wird gut eine halbe Stunde dauern. Ricky wird auf dem Bahnsteig, direkt vor unseren Augen, von Nell verbunden. Der Zug fährt um zwölf ab. Bald darauf versammeln sich alle zum Sekttrinken im Speiseraum. Wir bringen dann die zweite Szene kurz vor dem Lunch.«

Sie gingen auch die zweite Szene durch, die kürzer war und hauptsächlich Zak als den Mann am Ruder aufbaute. Außerdem kam Ricky an und sagte, er wisse nicht, auf welches Pferd es die

Pferdediebe abgesehen hatten. Maskiert und knüppelschwingend seien sie in den Pferdewagen eingedrungen… er, Ricky, sei allein da draußen auf der Verladestation gewesen, alle anderen Pfleger hätten sich bereits zum Cafe im Hauptbahnhof bringen lassen.

Die Bricknells zitterten vor Aufregung. Angelica war außer sich, weil Steve nicht aufgetaucht war. Wen interessierte schon ein Pferd? Wo war Steve?

Wer war Steve? fragte Zak. Angelica sagte, er sei ihr Geschäftsführer. Was für ein Geschäft? fragte Zak. Das geht Sie nichts an, versetzte Angelica scharf.

«Gut«, sagte Zak,»inzwischen ist auch dem begriffsstutzigsten Fahrgast klargeworden, daß all das erfunden ist. Sie werden lächeln. Dann gibt’s den Lunch. Am Nachmittag können sich alle entspannen. Unsere nächste Szene läuft während der Getränke vor dem Dinner. Das ist die, die wir einstudiert haben, bevor Nell kam. So. Da wir das eine oder andere unterwegs vielleicht noch ändern müssen, machen wir die restlichen Schlußproben in einem Schlafwagenabteil, wir proben jeweils einen Tag.«

Die anderen hielten das für vernünftig und begannen ihre Mäntel anzuziehen.

«Haben Sie kein Manuskript?«fragte ich Zak.

«Keinen festen Text, der zu lernen wäre, falls Sie das meinen. Nein. Wir wissen, was wir in jeder Szene rüberbringen müssen, und wir improvisieren. Wenn wir einen Krimi planen, bekommen die Darsteller ein kurzes Szenario, dem sie entnehmen können, was passiert und was sie im wesentlichen für Leute sind; dazu erfinden sie dann selbst eine Lebensgeschichte, damit sie, falls ein Passagier im Gespräch Fragen stellt, die Antworten parat haben. Ich würde Ihnen empfehlen, das auch zu tun. Denken Sie sich eine Herkunft, eine Kindheit aus… möglichst nah an der Realität, das ist immer am leichtesten.«

«Danke für den Tip«, sagte ich.»Würden Sie mir Ihre Pläne täglich mitteilen und mir auch sofort Bescheid sagen, wenn irgend etwas Merkwürdiges passiert, womit Sie nicht gerechnet haben? Selbst Kleinigkeiten, meine ich.«

«Natürlich. Bitten Sie auch Nell darum. Sie kennt die Handlung. Und es gibt einige Darsteller, die heute nicht dabei waren, weil sie erst später auf der Reise eingesetzt werden. Sie stehen auf der Passagierliste. Nell wird sie Ihnen zeigen.«

Er unterdrückte ein Gähnen und wirkte plötzlich sehr müde, ganz im Gegensatz zu zwei Minuten vorher, und ich vermutete, er gehörte zu den Leuten, die ihre Energie an- und abstellen können wie einen Wasserhahn. Einer von Tante Vivs besten Freunden war ein älterer Schauspieler gewesen, der manchmal zum Theater tappte wie ein müder alter Rentner und dann mit so elektrisierender Kraft auf die Bühne trat, daß sich dem Publikum die Haare sträubten.

David Flynn, der mir anbot, mich in die Stadt mitzunehmen, bewegte sich jetzt mit einer Mattigkeit, die man bei Zak niemals erlebt hätte. Er ergriff Nells großen Briefumschlag, öffnete ihn und verteilte seinen Inhalt an die anderen: Gepäckanhänger mit der Aufschrift» Merry & Co «und fotokopierte» Informationen und Ratschläge für die Reisenden«.

Requisiten, nahm ich an. Ich fragte ihn, ob er in die Richtung von Merry & Co müsse, und er sagte, er werde mich dort vorbeifahren, und das tat er auch.

«Machen Sie das ständig?«fragte ich unterwegs.

«Meinen Sie schauspielern? Oder Krimis?«

«Beides.«

«Alles, was mir angeboten wird«, sagte er freiheraus.»Bühnenstücke. Werbung. Kleine Rollen in TV-Serien. Aber vorwiegend mache ich Krimis, da sie jetzt so beliebt sind, und fast immer für Merry & Co. Ich stimme die Handlung jeweils auf den Rahmen ab. Vorige Woche wurde ich für eine Ärztetagung engagiert, also gaben wir einen Medizinerkrimi. Jetzt ist es gerade Rennsport. Nächste Woche muß ich mir was ausdenken für die Wochenendzugfahrt eines Anglervereins nach Halifax. Ich habe ganz schön zu tun. Es bringt genug Geld. Es macht Spaß. Es ist nicht Stratford-upon-Avon.«

«Wie sehen das die anderen Schauspieler?«fragte ich.»Die in der Garage.«

«Ganz ähnlich. Es ist Arbeit. Sie mögen die Bahnfahrten, auch wenn es bedeutet, daß wir unterwegs bei allen Szenen gegen den Räderlärm anbrüllen müssen, weil die Speisewagen so lang sind. Überhaupt keine bühnengerechte Form. Wir setzen nicht immer die gleichen Darsteller ein, das hängt von den Charakteren ab, aber alle sind freundlich, wir nehmen nie einen, mit dem nicht auszukommen ist. Toleranz und Großzügigkeit sind unerläßlich, wenn unsere Art der Improvisation gelingen soll.«

«Ich hatte keine Ahnung, daß Kriminalspiele so ein blühendes Gewerbe sind.«

Er lächelte mich ein wenig von der Seite an.»In England gibt’s die auch viel heutzutage.«

«Hm…«sagte ich, als er vor dem Büro von Merry & Co anhielt.»Wie englisch höre ich mich für Sie an?«

«Sehr. Ein gebildeter Engländer in einem teuren Anzug.«

«Nun, ursprünglich war geplant, daß ich als wohlhabender Besitzer mit dem Zug reise. Was würden Sie von meinem Akzent halten, wenn ich die dunkelgelbe Weste eines Kellners anhätte?«

«Herbstgold nennt sich die Farbe«, sagte er nachdenklich.»Ihr Akzent würde mir vielleicht nicht besonders auffallen. Immerhin gibt es Tausende von englischen Einwanderern hier im Land. Es wird schon gehen, glaube ich.«

Ich dankte ihm fürs Mitnehmen und stieg aus. Er gähnte und verwandelte es in ein Lachen, doch ich schätzte, die Müdigkeit war echt.»Bis Sonntag, Tommy«, sagte er, worauf ich trocken erwiderte:»Klar, Zak. «Er fuhr lächelnd davon, und ich ging in das Büro von Merry & Co, wo statt der Ruhe jetzt eine laute, hektische Aktivität an mehreren Telefonen herrschte.

«Wie können denn fünfundzwanzig Radfahrern gleichzeitig die Reifen platzen?«

«Bis Nuits-St-Georges kommen die heute nicht mehr.«

«Was für Hotels gibt’s denn sonst noch?«

«Wo kriegen wir in Frankreich fünfzig neue Reifen verschiedener Fabrikate her? Sie haben sie total zerfetzt, sagen sie.«

«Sabotage. Das muß Sabotage gewesen sein.«

«Sie sind über eine Viehschranke mit Eisendornen gefahren.«

Nell saß an ihrem Schreibtisch und telefonierte, die eine Hand auf ihr freies Ohr gepreßt, um den Lärm auszublenden.

«Warum sind die Strohköpfe denn nicht abgestiegen und haben ihre Räder getragen?«

«Keiner hat ihnen was gesagt. Die Schranke war neu. Wo liegt Nuits-St-Georges? Können wir die Räder nicht von einem Bus abholen lassen? Mit welchem Busunternehmen arbeiten wir in dem Teil Frankreichs?«

«Warum kümmert sich unsere französische Filiale nicht um das alles?«

Ich setzte mich in Nells Kundensessel und wartete. Das Stimmengewirr ebbte ab; die Krise war gelöst. Irgendwo in Burgund würden die Radfahrer auf stabileren Rädern zu ihrem Abendbrot befördert werden, und am Morgen würde man neue Reifen beschaffen.

Nell legte ihren Hörer auf.

«Sie organisieren Fahrradtouren?«sagte ich.

«Klar. Und Touren auf den Everest. Nicht ich persönlich, ich mache Krimi-Reisen. Brauchen Sie etwas?«

«Anweisungen.«

«Ah ja. Ich habe mit VIA gesprochen. Kein Problem. «VIA Rail, so hatte ich herausgefunden, war die Gesellschaft, die Kanadas Personenzüge unterhielt, was nicht etwa hieß, daß ihr auch die Schienen und die Bahnhöfe gehörten. Nichts war einfach bei der Eisenbahn.

«VIA«, sagte Nell,»erwartet, daß Sie sich morgen früh um zehn in der Union Station einfinden, damit Ihnen Ihre Dienstkleidung angepaßt werden kann. Hier steht, an wen Sie sich wenden müssen. «Sie gab mir einen Zettel.»Die Serviceleute für diese Reise sind handverlesen und werden Ihnen sagen, was zu tun ist, wenn Sie sie Sonntag früh auf dem Bahnhof treffen. Sie steigen mit ihnen zusammen in den Zug.«

«Um welche Zeit?«fragte ich.

«Der Zug kommt kurz nach elf auf dem Bahnhof an. Die Köche und das Personal steigen wenig später ein. Die Passagiere steigen um halb zwölf ein, nach dem Empfang auf dem Bahnhof. Der Zug fährt um zwölf ab. Das sind fünfunddreißig Minuten vor dem täglich verkehrenden Zug, dem Canadian, der uns bis Winnipeg auf den Fersen bleiben wird.«

«Und die Pferde kommen, wenn ich recht verstehe, vorweg an einer Verladestelle in den Zug.«

«Ja, in Mimico, etwa sechs Meilen entfernt. Da werden die Wartungs- und Reinigungsarbeiten besorgt und die Züge zusammengestellt. Dort wird alles eingeladen. Essen, Sekt, Blumen, alles, was für die Besitzer bestimmt ist.«

«Und die Stallangestellten?«

«Nein, die nicht. Die fährt ein Bus zum Bahnhof, wenn sie die Pferde untergebracht haben. Und vielleicht sollten Sie wissen, daß der Zug noch einen Neuzugang bekommen hat, eine Kusine unseres Chefs namens Leslie Brown, die als Futtermeister mitfährt, um die Pferde und Pfleger zu beaufsichtigen und in dem Bereich Ordnung zu halten.«

«Welchem Bereich?«

«Hinter der Lok. Anscheinend vertragen Pferde das Reisen dort besser. Da schwankt es nicht.«

Während sie sprach, sortierte sie Postkarten — Postkarten mit Namen und Daten darauf.

«Haben Sie einen Plan von dem Zug?«fragte ich.

Sie blickte kurz hoch und sagte zwar nicht direkt, daß ich eine unheimliche Nervensäge sei, sah aber so aus, als dächte sie genau das. Dennoch wühlte sie einen Stoß Papiere durch, zog schließlich ein einzelnes Blatt hervor und schob es mir über den Schreibtisch zu.

«Hier steht, was wir verlangt haben und was man uns zugesagt hat, aber die Leute in Mimico disponieren manchmal um«, sagte sie.

Ich ergriff das Blatt und sah, daß es eine einspaltig geschriebene Übersicht war.

«Haben Sie eine Aufstellung, wer wo schläft?«fragte ich.

Als Antwort sah sie den gleichen Stoß noch einmal durch und gab mir zwei zusammengeheftete Blätter. Ich schaute zuerst, wie man das so tut, nach meinem eigenen Namen; und fand ihn.

Sie hatte mir ein Abteil — ein Einbettabteil — gegeben, das direkt neben Filmers lag.

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