Kapitel 10

Der Teufel soll sie holen, dachte ich grimmig. Dreimal verfluchter Bockmist und mehrere andere Wörter ähnlichen Inhalts.

Ich beobachtete durch Georges Fenster, wie Filmer sich große Mühe gab, ihr lächelnd entgegenzugehen und die Aufmerksamkeit von dem hageren Mann abzulenken, der zum Bahnhof zurückkehrte.

Vor Winnipeg, vor Vancouver. Julius Apollo hatte es wieder einmal durcheinandergebracht.»Sie sagten, vor Winnipeg, und ich hab’s getan, und ich will mein Geld. «Heftige Worte, voller Drohung.

Was vor Winnipeg? Was hatte er getan?

Ja, was nur?

Es konnte nicht der Wagen der Lorrimores gewesen sein, dachte ich. Filmer hatte kein Interesse und keine Anspannung gezeigt, war offensichtlich unbeteiligt gewesen. Andererseits konnte er natürlich ruhig bleiben, wenn er erwartet hatte, daß erst vor Vancouver etwas geschah. Er hatte nicht damit gerechnet, daß vor einer der beiden Städte der Wagen der Lorrimores abgekuppelt werden würde, da war ich mir sicher. Statt dessen hatte er seine Bekanntschaft mit Mercer gepflegt, Fäden gesponnen, die abrupt zerrissen wären, hätten die Lorrimores die Gesellschaft verlassen, und das würden sie augenblicklich getan haben, wäre der Canadian in ihr rollendes Zuhause hineingeprescht.

Wenn es sich nicht um den Wagen der Lorrimores drehte, was war dann noch passiert? Was war vor Winnipeg geschehen, das nach Filmers Plan vor Vancouver geschehen sollte? Womit hatte der hagere Mann sich bereits sein Geld verdient?

Da kann man nur raten, dachte ich.

Er konnte jemand bestohlen, einen Stallburschen bestochen, ein Pferd gedopt haben…

Ein Pferd gedopt, das in Winnipeg lief, statt eines, das in Vancouver laufen sollte?

Ihren zornigen Stimmen nach war der Irrtum verheerend gewesen.

Nur Flokati und Upper Gumtree sollten in Winnipeg starten. Laurentide Ice trat in Vancouver gegen Voting Right und Sparrowgrass an… Konnte Filmer so dumm gewesen sein, außer den Städten auch noch die Namen der Pferde zu verwechseln? Nein.

Sackgasse. Und doch… irgend etwas hatte der Hagere getan.

Seufzend sah ich die Youngs am Fenster vorbeigehen, vermutlich unterwegs zum Pferdewaggon. Wenig später folgten die Unwins. Am liebsten hätte ich mich gleich vom Zustand der Pferde überzeugt, doch ich nahm an, wenn mit einem von ihnen etwas nicht stimmte, würde ich es bald genug erfahren.

Ich wünschte, ich hätte ein Foto von dem Hageren schießen können, aber ich war mehr aufs Zuhören erpicht gewesen.

Hatte er etwas mit den Pferden oder um sie herum angestellt, dachte ich, dann mußte er mit uns im Zug gefahren sein. Er war nicht erst in Thunder Bay zu uns gestoßen. War er im Zug gewesen und mit den anderen Rennplatzbesuchern zum Bahnhof gegangen, konnte Filmer ihn durchs Fenster gesehen haben. und sein bloßer Anblick hatte diese Versteifung der Nackenmuskeln bewirkt… und wenn Filmer ihn, wofür auch immer, noch nicht bezahlt hatte, dann würde er wieder in den Zug kommen.

Ich verließ Georges Büro und ging zwei Türen weiter zu meinem Abteil, um meine Fernglas-Telekamera aus Tommys Reisetasche hervorzukramen, und setzte mich und wartete am

Fenster auf die Rückkehr des Hageren.

Nicht er, sondern Filmer und Daffodil erschienen nach einer Weile in meinem Blickfeld; sie steuerten schräg auf die Bahnhofsgebäude zu, und schon bald danach kam unter viel Gebimmel und Pfeifsignalen eine riesige knallgelbe Diesellok ächzend und knirschend an meinem Fenster vorbei, die Lok des Canadian, der mit einem Schwanz von langen silbernen Wagen aus gewelltem Aluminium das Gleis neben dem Rennexpreß hinaufrollte und genau längsseits anhielt.

Statt eines hübschen freien Kamerablicks auf den Bahnhof hatte ich jetzt das schwarze, nichtssagende Abteilfenster von jemand anders vor mir.

Verdammt und zugenäht, dachte ich. Ich stopfte das Fernglas wieder in die Reisetasche und schlenderte ohne jeden vernünftigen Plan zurück in Richtung Speisewagen. Wenn ich so weitermachte, würden sich die schlimmsten Befürchtungen von Bill Baudelaire, dem Brigadier und vor allem von John Millington bewahrheiten.»Ich sagte euch ja, wir hätten einen Expolizisten schicken sollen…«Ich konnte seine Stimme direkt hören.

Als ich Julius Apollos Tür erreichte, fiel mir ein, daß der Canadian die ganzen fünfundzwanzig Minuten seines fahrplanmäßigen Aufenthalts dort stehenbleiben würde, wo er stand. Fünfundzwanzig Minuten — sagen wir, noch zweiundzwanzig — würde Filmer drüben im Bahnhof bleiben. Er würde nicht vorn oder hinten um den langgezogenen Canadian herumlaufen, um in sein Abteil zu kommen.

Oder?

Nein, würde er nicht. Warum sollte er? Er war doch gerade erst rübergegangen. Ich hatte zwanzig Minuten Zeit zu sehen, was sich mit seinen Kombinationsschlössern tun ließ.

Bei längerem Nachdenken hätte ich vielleicht nicht den Nerv gehabt, aber ich stieß einfach seine Tür auf, sah mich im Gang nach Beobachtern um (keine), trat in das Abteil und sperrte mich ein.

Der schwarze Aktenkoffer war noch hinten auf dem Boden der Nische, unter den Anzügen. Ich zog ihn heraus, hockte mich auf einen der Sitze und nahm mir mit einem Gefühl von Unwirklichkeit das rechte Schloß vor. Falls jemand kommen sollte, dachte ich verwirrt… wenn beispielsweise der Schlafwagensteward kam… wie konnte ich mich dann bloß herausreden?

Überhaupt nicht.

Die Kombinationsringe rechts standen auf eins-drei-sieben. Ich ging methodisch von dort aus weiter, eins-drei-acht, einsdrei-neun, eins-vier-null, probierte das Schnappschloß nach jeder Zahlenänderung.

Mein Herz hämmerte, und ich fühlte mich außer Atem. Ich war an geringe Sicherheit bei meiner Arbeit gewöhnt und von früher her an viele körperliche Gefahren, jedoch nicht an diese Art Risiko.

Eins-vier-eins, eins-vier-zwei, eins-vier-drei. Ich probierte das Schloß wieder und wieder und sah auf meine Uhr. Erst zwei Minuten waren vergangen. Mir kam es vor wie ein ganzes Leben. Eins-vier-vier, eins-vier-fünf… Es gab tausend mögliche Kombinationen… eins-vier-sechs, eins-vier-sieben… in zwanzig Minuten konnte ich vielleicht hundertfünfzig Zahlen durchprobieren… Ich hatte die Prozedur schon mal auf mich genommen, aber nicht unter Druck, als Tante Viv eine Kombination an einem neuen Koffer eingestellt und sie dann vergessen hatte… eins-vieracht, eins-vier-neun… mein Gesicht war verschwitzt, meine Finger rutschten vor Hast auf den winzigen Ringen. eins-fünfnull, eins-fünf-eins.

Klickend schnappte der Verschluß auf.

Es war unglaublich. Kaum zu fassen. Ich hatte eben erst angefangen. Jetzt brauchte ich nur noch mal so ein Glück.

Die linke Kombination stand auf sieben-drei-acht. Ich probierte das Schloß. Nichts.

In der Hoffnung, daß vielleicht beide Schlösser auf die gleiche Losung hörten, stellte ich die Ringe auf eins-fünf-eins und versuchte es. Fehlanzeige. Kein so leichtes Spiel. Ich versuchte die Umkehrung fünf-eins-fünf. Ich probierte vergleichbare Zahlen, eins-zwo-eins, zwo-eins-zwo, eins-drei-eins, drei-einsdrei, eins-vier-eins, vier-eins-vier… sechs… sieben… acht… neun… drei Nullen.

Nichts.

Mein Mut verließ mich. Ich drehte die Ringe links auf siebendrei-acht zurück und stellte bei wieder eingeklinktem Schloß die rechte Kombination auf eins-drei-sieben. Ich wischte die Schlösser mit meinem Hemdsärmel ein wenig ab, stellte die Tasche dann genauso hin, wie ich sie vorgefunden hatte, und schleppte meine elendig zitternde Person weiter zum Speisewagen, bereute aber, noch ehe ich dort ankam, schon wieder, daß ich nicht bis zur Abfahrt des Canadian am Ball geblieben war: Ich hatte eine der besten und vielleicht meine einzige Chance vertan, einen Blick auf das zu werfen, was Filmer da im Zug mitführte.

Vielleicht, wenn ich eins-eins-fünf versucht hätte oder fünffünf-eins oder fünf-fünf-fünf.

Nell saß allein an einem Tisch im Speisewagen, beschäftigt mit ihren endlosen Listen (die normalerweise auf das Klemmbrett geklemmt waren), und ich setzte mich ihr gegenüber und schämte mich.

Sie blickte auf.»Tag«, sagte sie.

«Hallo.«

Sie betrachtete mich.»Sie sehen erhitzt aus. Gelaufen?«

Ich hatte still und intensiv vor mich hin gesühnt. Ich brauchte nicht mehr zu beichten.

«So ungefähr«, sagte ich.»Wie geht’s?«

Sie warf einen empörten Seitenblick auf den Canadian.

«Ich wollte gerade zum Bahnhof rüber, als der da eingetrudelt ist.«

Der da, als hätte er den Wink verstanden, kam sacht ins Rollen, und innerhalb von zwanzig Sekunden hatten wir wieder freie Sicht auf das Bahnhofsgebäude. Die meisten Expreßreisenden, einschließlich Filmer und Daffodil, setzten sofort über die Geleise, um einzusteigen. Unter denen, die auf die Rennbahnbesucherwagen zustrebten, war der Hagere.

Gott im Himmel, dachte ich. Ich hatte ihn vergessen. Ich hatte vergessen, daß ich ihn fotografieren wollte. Aus den Augen, aus dem Sinn.

«Was ist los?«fragte Nell, mein Gesicht beobachtend.

«Ich habe mir gerade eine Vier minus eingehandelt. Eine doppelte Vier minus.«

«Wahrscheinlich erwarten Sie zuviel von sich«, sagte sie nüchtern.»Niemand ist vollkommen.«

«Es gibt verschiedene Grade der Vollkommenheit.«

«Wie groß ist denn die Katastrophe?«

Ich dachte ruhiger darüber nach. Der Hagere war im Zug, und vielleicht bekam ich doch noch eine Gelegenheit. Ich konnte ein Schloß von Filmers Aktentasche öffnen, und wenn ich genug Zeit hatte, schaffte ich vielleicht auch das andere. Berichtigung: Wenn ich genug Mut hatte, schaffte ich vielleicht auch das andere.

«Okay«, meinte ich,»sagen wir Drei minus, könnte besser sein. Trotzdem nicht gut. «Millington hätte es besser gemacht.

Zak und Emil erschienen in diesem Moment gemeinsam, Emil, um die Tische für den Lunch zu decken, Zak, um theatralisch genervt anzufragen, ob die Schauspieler die nächste Szene vor dem Lunch spielen sollten, wie ursprünglich geplant, oder wann sonst?

Nell sah auf die Uhr und überlegte kurz.»Könnten Sie es nicht auf die Cocktailstunde heute abend verschieben?«

«Dafür war die nächste Szene vorgesehen«, wandte er ein.

«Tja… und wenn Sie beide zusammenlegen?«

Er stimmte recht verdrießlich zu, sagte, dann müßten sie jetzt proben, und ging. Nell lächelte süß hinter seinem entschwindenden Rücken her und fragte mich, ob mir schon mal aufgefallen sei, wie wichtig Schauspieler alles nähmen. Alles außer der realen Welt natürlich.

«Katze«, sagte ich.

«Aber ich habe so feine, gefühlvolle Krallen.«

Oliver und Cathy kamen und fingen gemeinsam mit Emil an, Tischtücher und Gedecke aufzulegen. Ich stand auf und half ihnen, und Nell schaute amüsiert zu, wie ich rosa Servietten zu Seerosen faltete.»Sieh an«, hänselte sie,»verborgene Talente«, und ich erwiderte:»Sie sollten mich erst beim Spülen sehen«-kindisch-oberflächliche Bemerkungen zu etwas, von dem wir beide ahnten, daß es plötzlich ernst werden könnte. Vorerst war die schimmernde Oberfläche harmlos und lustig, und so würde es auch bleiben, bis wir zu anderem bereit waren.

Wie üblich kamen die Fahrgäste schon früh in den Speisewagen, und ich verschmolz in meiner Uniform mit der Kulisse und wich Nells Blicken aus.

Die Fahrgäste hatten ihren Aufenthalt auf dem Bahnhof offenbar nicht allzusehr genossen. Die Presseleute waren wie ein Bienenschwarm über sie hergefallen, hatten Xanthe wieder an den Rand der Hysterie getrieben und Mercer gefragt, ob es nicht unklug sei, mit einem Privatwagen seinen Status, seinen Reichtum zur Schau zu stellen; ob er sich dadurch, daß er ihn an den Zug angehängt hatte, nicht nur selbst in Schwierigkeiten gebracht habe? Unterstellungen, die große Empörung weckten.

Alle wußten doch, daß er aus Bürgersinn mitreiste, im Interesse des kanadischen Rennsports.

Die Lorrimores trafen alle vier zusammen ein, begrüßt von mitfühlendem Gemurmel, doch die beiden jungen trennten sich sogleich von ihren Eltern und voneinander, und alle strebten ihren jeweiligen Häfen zu: Die Eltern setzten sich unaufgefordert zu Filmer und Daffodil, Xanthe lief mitleidheischend zu Mrs. Young, und Sheridan schnappte sich Nell, die inzwischen aufgestanden war; er brauche ihre Gesellschaft, sagte er, sie sei das einzige vernünftige menschliche Wesen im ganzen verdammten Zug.

Nell wußte zwar nicht genau, was sein Kompliment wert war, setzte sich ihm aber dennoch erst mal gegenüber. Darauf zu achten, daß Sheridan auf Kurs oder auch nur halbwegs auf Kurs blieb, fiel eindeutig unter Krisensteuerung.

Sheridan besaß das Äußere, das zu Julius’ zweitem Namen Apollo paßte: Er war groß, gutaussehend, beinah blond, ein Kind der Sonne. Die Kälte, die Überheblichkeit, der Mangel an Normalverstand und Selbstbeherrschung, sie waren die tragische Schattenseite. Ein Psychopath im kleinen, dachte ich, und so klein vielleicht auch wieder nicht, wenn Xanthe fand, er gehöre ins Gefängnis.

Die australischen Unwins, an einem Tisch mit den gegnerischen Besitzern Flokatis, waren besorgt über eine gewisse Mattigkeit bei Upper Gumtree, die sie darauf zurückführten, daß ihr Pferd im Zug eine beschränkte Kost aus Kraftfutter und hochwertigem Heu erhalten hatte, und die Flokati-Leute meinten vergnügt, bei einer so langen Zeit ohne Bewegung sei gutes Heu am besten. Heu sei beruhigend.»Man will ja nicht, daß sie die Wände hochklettern«, sagte Mr. Flokati. Upper Gumtree habe ausgesehen, als ob er schliefe, bemerkte Mrs. Unwin mißbilligend. Die Flokati-Leute strahlten übers ganze mitfühlende Gesicht. Wenn Upper Gumtree sich als schlapp erwies, standen die Chancen für Flokati um so besser.

Anscheinend hatten alle Besitzer die Gelegenheit genutzt, sich ihre Pferde anzusehen, während der Zug stand, und so genau ich auch hinhörte, niemand sonst meldete Kummer.

Upper Gumtree, so schien mir, könnte sich morgen schon wunderbar erholen, wenn er Hafer, frische Luft und Bewegung bekam. Bis zu seinem Rennen waren es noch immer mehr als achtundvierzig Stunden. Hatte der Hagere Upper Gumtree tatsächlich einen Müdmacher verabreicht, würde die Wirkung sich lange vorher verlieren.

Bei genauerer Überlegung hielt ich es für immer weniger wahrscheinlich, daß er etwas dergleichen getan hatte: Zunächst mal hätte er dafür die Drachenlady überwinden müssen. Allerdings verließ die ihren Posten wohl auch manchmal. zum Essen und Schlafen.

«Ich habe gefragt«, sprach mich Daffodil vernehmlich an,»ob Sie mir ein frisches Messer bringen könnten? Meins ist mir auf den Boden gefallen.«

«Natürlich, Madam. «Abrupt kehrte ich zur vorliegenden Sache zurück, begriff erschrocken, daß sie ihre Frage schon einmal gestellt hatte und holte ihr schleunigst das Messer. Sie nickte bloß, wieder ganz auf Filmer konzentriert, und der hatte, wie ich mächtig erleichtert sah, von dem kleinen Zwischenfall keine Notiz genommen. Aber wie konnte ich nur, dachte ich zerknirscht — wie konnte ich aufhören, mich zu konzentrieren, wenn ich so dicht bei ihm war? Vor einem Tag noch hatte diese Nähe meinen Puls rasen lassen.

Der Zug nahm unmerklich seine Fahrt auf und rollte wieder durch die unbewohnte Weite aus Felsen, Nadelbäumen und Seen, die sich bis ans Ende der Welt hinzuziehen schien. Wir servierten Lunch und Kaffee ab und räumten auf, und sobald ich es mit Anstand tun konnte, verließ ich die Küche und ging durch den Zug nach vorn.

George, nach dem ich zuerst schaute, war in seinem

Dienstabteil, aß ein dickes, knackiges Rindfleischsandwich und trank Diät-Cola.

«Wie lief es denn«, fragte ich,»mit Thunder Bay?«

Er zog die Brauen zusammen, aber nur halbherzig.»Die haben nichts rausgefunden, was ich ihnen nicht schon gesagt hatte. Es war nichts zu sehen. Sie nehmen jetzt an, daß derjenige, der den Privatwagen abgekuppelt hat, mit drin war, als der Zug von Cartier abfuhr.«

«In dem Privatwagen?«sagte ich erstaunt.

«Richtig. Die Schläuche könnten auf dem Bahnhof ausgehängt worden sein, eh? Dann verläßt der Zug Cartier mit dem Saboteur im Wagen der Lorrimores. Dann — noch keine Meile hinter Cartier, eh? — zieht unser Saboteur den Bolzen raus, der die Kupplung löst. Der Privatwagen rollt noch ein Stück, bleibt stehen, und er steigt aus und geht zu Fuß nach Cartier zurück.«

«Aber warum sollte das jemand tun?«

«Werd erwachsen, Junge. Es gibt Menschen auf dieser Welt, die Unruhe stiften, weil sie sich dadurch wichtig vorkommen. Sie bringen nichts im Leben, eh? Also stecken sie Sachen in Brand. und zerschlagen Sachen. pinseln Sprüche an die Wand… drücken irgendwo ihren Stempel drauf, eh? Und lassen Züge verunglücken. Packen Betonplatten auf die Schienen. Ich hab’s gesehen. Macht über andere, darum dreht es sich. Ein Groll auf die Lorrimores höchstwahrscheinlich. Macht über sie, über ihr Eigentum. Das glauben auch die Ermittler.«

«Hm«, sagte ich.»Wenn das der Fall ist, wird der Saboteur wohl nicht zurück nach Cartier gegangen sein, sondern zu irgendeinem Aussichtspunkt, um den Zusammenstoß mitzuerleben.«

George sah verblüfft drein.»Tja… das wäre möglich.«

«Brandstifter helfen oft das Feuer löschen, das sie gelegt haben.«

«Sie meinen, er würde da gewartet haben. um beim Räumen mitzuhelfen? Sogar beim Bergen der Verletzten?«

«Klar«, sagte ich.»Reine, berauschende Macht, zu wissen, daß man eine solche Szene verursacht hat.«

«Ich hab da niemand gesehen«, meinte er nachdenklich,»als wir zurück zu dem Wagen sind. Ich hab ja geleuchtet… da ist keiner rumgelaufen, eh? oder so was.«

«Was werden die Ermittler denn jetzt tun?«fragte ich.

Seine Augen bekamen Fältchen, und das vertraute leise Lachen klang auf.»Lange Berichte schreiben, eh? Uns empfehlen, keine Privatwagen mehr zuzulassen. Mir vorwerfen, daß ich es nicht verhindert habe, schätze ich.«

Der Gedanke schien ihn nicht zu kümmern. Auf seinen breiten Schultern konnte er viel tragen.

Ich verließ ihn voll Anerkennung und ging weiter in den mittleren Speisewagen, wo sämtliche Schauspieler vor Kaffeetassen saßen und über maschinegeschriebenen Bühnenanweisungen brüteten, leise vor sich hin murmelten und manchmal auch laut etwas ausriefen.

Zak hob den Blick ungefähr in meine Richtung, doch es wäre taktlos gewesen, den Kreis seiner Gedanken zu stören, also lief ich weiter vor, durchquerte den Dayniter und die Schlafwagen und kam zum vorderen Aussichtswagen. Überall waren eine Menge Leute, doch niemand sah mich mehr als flüchtig an.

Schließlich klopfte ich an die Tür des Pferdewaggons und wurde nach einer Musterung und Formalitäten, die einem Land hinter dem Eisernen Vorhang Ehre gemacht hätten, wieder von Miss Brown in das Allerheiligste vorgelassen.

Als ich neuerlich» Tommy Titmouse «auf ihre Liste krakelte, sah ich mit Interesse, wie lang diese geworden war, und mir fiel auf, daß selbst Mercer hatte unterschreiben müssen. Ich fragte die Drachenlady, ob irgend jemand, der kein Besitzer oder

Pfleger war, hereingekommen sei, und sie warf den Kopf zurück wie ein schlanker Truthahn und sagte mir, sie habe jeden Besucher gewissenhaft auf ihrer Liste der verbrieften Besitzer abgehakt und nur sie seien eingelassen worden.

«Aber Sie kennen sie doch nicht alle vom Sehen«, sagte ich.

«Was soll das heißen?«fragte sie scharf.

«Angenommen, es kommt zum Beispiel jemand und sagt, er ist Mr. Unwin, dann würden Sie nachsehen, ob sein Name auf der Liste steht, und ihn reinlassen?«

«Ja, natürlich.«

«Und wenn er nun nicht Mr. Unwin ist, obwohl er gesagt hat, er sei es?«

«Sie sind doch nur spitzfindig«, versetzte sie ärgerlich.»Ich kann den Besitzern nicht den Eintritt verwehren. Sie haben das Besuchsrecht erhalten, aber sie brauchen sich nicht auszuweisen. Auch ihre Ehegatten nicht.«

Ich sah ihre Besucherliste durch. Filmer erschien zweimal darauf, Daffodil einmal. Filmers Unterschrift war groß und protzig, Aufmerksamkeit heischend. Niemand hatte Filmer auf andere Weise geschrieben; zumindest hatte der Hagere sich wohl nicht Einlaß verschafft, indem er Filmers Namen benutzte. Was nicht hieß, daß er nicht sonst einen Namen angegeben hatte.

Ich gab Leslie Brown die Liste zurück, wanderte von ihren Adleraugen beobachtet umher und sah mir die Pferde an. Sie schwankten friedlich mit der Fahrtbewegung, standen schräg in den Boxen, betrachteten mich ohne Neugierde, scheinbar zufrieden. Ich konnte nicht erkennen, daß Upper Gumtree schläfriger ausgesehen hätte als die anderen: Sein Blick war klar, und er stellte die Ohren auf, als ich mich ihm näherte.

Sämtliche Pfleger bis auf einen, der auf irgendwelchen Heuballen schlief, hatten es vorgezogen, nicht bei ihren

Schützlingen zu sitzen, und ich nahm an, das lag an Leslie Browns furchteinflößender Präsenz. Da Stallburschen im großen ganzen sehr an ihren Pferden hingen, hätte ich erwartet, daß tagsüber mehr von ihnen auf den Heuballen sitzen würden.

«Was geschieht nachts im Zug?«fragte ich Leslie Brown.»Wer bewacht dann die Pferde?«

«Ich«, sagte sie bissig.»Man hat mir ein Einbettabteil gegeben oder so was, aber ich nehme diese Sache ernst. Ich habe letzte Nacht hier geschlafen, und nach Winnipeg werde ich es wieder tun, und auch nach Lake Louise. Ich verstehe nicht, warum Sie so Angst haben, es könnte sich jemand an mir vorbei stehlen. «Sie sah mich böse an, meine Verdächtigungen gefielen ihr nicht.

«Wenn ich zur Toilette gehe, lasse ich einen Pfleger hier drin und schließe den Pferdewaggon hinter mir ab. Ich bin niemals länger als ein paar Minuten fort. Ich bestehe darauf, daß immer einer der Pfleger hier ist. Mir ist völlig klar, wie nötig jemand anders zuständig. Ich trage keine Verantwortung für das, was dort mit den Pferden geschieht. «Womit sie offensichtlich sagen wollte, man könne sich nicht darauf verlassen, daß irgendwer sonst so gründlich war wie sie.

«Haben Sie jemals Spaß, Miss Brown?«fragte ich.

«Wie soll ich das verstehen?«sagte sie und hob erstaunt die Augenbrauen.»Das hier macht doch Spaß. «Sie winkte mit der Hand allgemein durch den Pferdewaggon.»Ich amüsiere mich großartig. «Und sie war nicht ironisch — sie meinte es wirklich ernst.

«Na ja«, sagte ich ein wenig schwach,»dann ist ja alles bestens.«

Sie nickte zweimal kurz, als wäre die Sache damit erledigt, was sie zweifellos auch war, außer daß ich immer noch nach Lücken in ihrer Abwehr suchte. Ich wanderte noch einmal durch den ganzen Wagen, sah das Sonnenlicht schräg durch die nicht zu öffnenden Gitterfenster einfallen (kein Mensch konnte herein, kein Pferd hinaus), roch das süßliche Heu und den leicht muffigen Geruch der Pferde selbst, spürte die Wirbel frischer Luft, die von den Reihen kleiner Ventilatoren an der Decke herkamen, hörte die knarrenden und brausenden Geräusche im Wagengefüge und das Mahlen der stromerzeugenden Räder unterm Boden.

In diesem langen, warmen, freundlichen Raum standen Pferde, deren Gesamtwert derzeit viele Millionen kanadische Dollar betrug — und noch steigen würde, wenn eines von ihnen in Winnipeg oder Vancouver gewann. Ich blieb eine ganze Weile vor Voting Right stehen. Wenn Bill Baudelaires Mutter sich auskannte, dann schlummerte in diesem unscheinbar wirkenden Braunen die Saat der Größe.

Vielleicht hatte sie recht. Vancouver würde es zeigen.

Ich wandte mich ab, warf einen letzten taxierenden Blick auf Laurentide Ice, der gelassen zurückblickte, dankte dem pferdebegeisterten Drachen für seine Mitarbeit (steifes Bitteschön) und ging langsam durch den Zug zurück, auf der Suche nach dem Hageren.

Ich sah ihn nicht. Er hätte hinter jeder geschlossenen Tür sein können. Er war nicht im vorderen Aussichtswagen, weder oben noch unten, noch in dem offenen Dayniter. Ich spürte drei Schlafwagenstewards in den Schlafwagen der Rennbahnbesucher auf, befragte sie der Reihe nach, und alle drei meinten stirnrunzelnd, erstens hätten Tausende so eine Jacke an wie die, die ich beschrieb, und zweitens sehe in der Kälte draußen jeder etwas hager aus. Trotzdem möchten sie bitte so freundlich sein, sagte ich, falls ihnen in ihrem Zugabschnitt jemand begegne, auf den die Beschreibung passe, George Burley dessen Namen und Abteilnummer zu melden.

Klar, meinten sie, aber ob das denn nicht ein seltsames Ansinnen für einen Schauspieler sei? Zak, improvisierte ich prompt beim ersten Durchgang, halte das Gesicht des hageren Mannes für interessant und wolle ihn fragen, ob er ihn in einer Szene einsetzen könne. Ah ja, das war einleuchtend. Wenn sie ihn fanden, würden sie es George wissen lassen.

Als ich zu George zurückkam, sagte ich ihm, was ich veranlaßt hatte. Er legte die Stirn in Falten.»So einen Mann sah ich in Thunder Bay«, sagte er.»Aber wahrscheinlich habe ich mehrere solche Männer in dieser Zugladung gesehen. Weshalb suchen Sie ihn?«

Ich antwortete, daß ich den Schlafwagenstewards erzählt hätte, Zak wolle ihn in einer Szene einsetzen.

«Aber Sie?«sagte George.»Weshalb suchen Sie ihn?«

Ich sah ihn an, und er sah mich an. Ich überlegte, wie weit ich ihm vertrauen sollte, und hatte den unangenehmen Eindruck, daß er wußte, was ich dachte.

«Nun«, sagte ich schließlich,»er hat mit jemand gesprochen, der mich interessiert.«

Ich bekam einen langen hellen Strahl aus den glänzenden Augen ab.

«Dienstlich… interessiert?«

«Ja.«

Er fragte nicht, wer es war, und ich sagte es ihm nicht. Statt dessen fragte ich ihn, ob er selbst mal mit jemandem von der Besitzergruppe gesprochen habe.

«Natürlich«, sagte er.»Ich begrüße doch immer die Fahrgäste, eh? wenn sie an Bord kommen. Ich sage ihnen, daß ich der Zugchef bin, sage ihnen, wo mein Abteil ist, sage ihnen, wenn sie Probleme haben, sollen sie damit zu mir kommen.«

«Und tun sie das? Waren schon welche da?«

Er kicherte.»Die meisten Beschwerden gehen an unsere Miss Richmond, und die kommt damit zu mir.«

«Miss Richmond…«wiederholte ich.

«Sie ist doch Ihr Boß, oder? Hübsches großes Mädchen mit ’ner Schneckenfrisur heute, eh?«

«Nell«, sagte ich.

«Stimmt. Ist sie nicht Ihr Boß?«

«Eine Kollegin.«

«Na gut. Die Art Probleme, wie unsere Besitzergruppe sie auf der Tour bisher gehabt hat, sind ein tropfender Wasserhahn, eine von selbst aufgehende Jalousie in einem der Schlafräume, eh? und eine Dame, die dachte, man hätte ihr einen Koffer gestohlen, bloß ist der im Abteil von jemand anders aufgetaucht. «Er strahlte.

«Die meisten Besitzer waren schon vorn, um sich die Pferde anzuschauen. Wenn sie mich sehen, unterhalten sie sich mit mir.«

«Was sagen sie denn so?«fragte ich.»Worüber reden sie?«

«Nur was man so erwartet. Das Wetter, die Reise, die Landschaft. Sie fragen, wann wir in Sudbury ankommen, eh? Oder in Thunder Bay oder Winnipeg oder wo immer.«

«Hat jemand mal irgendwas gefragt, das anders war oder Sie gewundert hat?«

«Mich wundert gar nichts, Junge. «Er sprühte vor Ironie und Gutmütigkeit.»Wonach sollten sie denn fragen?«

Ich zuckte hilflos die Achseln.»Was ist vor Thunder Bay passiert, das nicht hätte sein dürfen?«

«Der Wagen der Lorrimores, eh?«

«Davon abgesehen.«»Sie glauben, daß etwas passiert ist?«

«Irgend etwas ist im Gange, und ich weiß nicht, was, und ich bin hier, um es zu verhindern.«

Er dachte darüber nach, dann sagte er:»Wenn es akut wird, merken Sie’s schon, eh?«

«Wahrscheinlich.«

«Hat zum Beispiel jemand was ins Essen getan, eh? dann werden früher oder später alle krank sein.«

«George!«Ich war sprachlos.

Er kicherte.»Wir hatten vor Jahren mal einen Kellner, der das gebracht hat. Er hatte einen Groll auf die Welt. Er hat Hände voll zermahlener Abführtabletten in die Schokoladensauce für das Eis gemischt und den Reisenden dann beim Essen zugesehen, und alle kriegten Durchfall. Fürchterliche Magenschmerzen. Eine Frau mußte ins Krankenhaus. Sie hatte eine zweite Portion genommen. War das ein Theater, eh?«

«Sie haben mir einen Heidenschreck eingejagt«, sagte ich freiheraus.»Wo wird das Futter für die Pferde gelagert?«

Er starrte mich an, sein ewiges Lächeln erlosch.

«Haben Sie davor Angst? Daß den Pferden was passiert?«

«Es wäre ja möglich.«

«Das ganze Futter ist im Pferdewaggon«, sagte er,»ausgenommen ein paar Säcke mit diesen Würfeln, die die meisten Pferde bekommen, die sind im Gepäckwagen. Manche Pferde haben von ihren Trainern ihr eigenes Spezialfutter mitgekriegt. Einer von den Pflegern hatte einen ganzen Schwung sortierter Säcke mit der Aufschrift > Sonntagabende, >Montagmorgen< und so weiter. Hat er mir gezeigt.«

«Für welches Pferd war das?«

«Hm… ich glaube, für das Pferd von dieser Mrs. Daffodil Quentin. Der Pfleger sagte, eines ihrer Tiere sei vor kurzem an einer Kolik gestorben, weil es das falsche Zeug gefressen hat, und der Trainer wollte nicht noch mehr Unfälle, darum hat er das Futter selbst zusammengestellt.«

«Sie sind Klasse, George.«

Sein stets bereites Lachen kam wieder.

«Vergessen Sie nicht den Wassertank, eh? Die Klappe läßt sich hochheben… da wo das Brett schwimmt, erinnern Sie sich? Schnell ein Becher Chemie rein, und man könnte sämtliche Pferde auf einmal müde machen, oder?«

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