Kapitel 18

Mit einem Gefühl völliger Unwirklichkeit ging ich am Ende des Zuges vorbei und die einspurige Schienenstrecke entlang in Richtung Toronto.

Mit dem einen Arm drückte ich die vier Signalfackeln an meine Brust, in der anderen Hand hielt ich Georges hell strahlende Taschenlampe, um den Weg zu sehen.

Eine halbe Meile. Wie lang war eine halbe Meile?

Beeilen Sie sich, hatte Georges Stellvertreter gesagt. Die denkbar unnötigste Anweisung…

Halb ging, halb lief ich mitten auf dem Gleis voran, bemüht, immer auf das flache Holz der Schwellen zu treten, da die Steine dazwischen holprig waren und mein Tempo drosselten.

Bären… mein Gott.

Es war kalt. Es hatte aufgehört zu schneien, aber ein wenig Schnee lag… nicht genug, um mir Schwierigkeiten zu bereiten. Ich hatte vergessen, einen Mantel anzuziehen. Egal, die Bewegung würde mich warmhalten. Dringlichkeit und grimmige Angst würden mich warmhalten.

Ich bekam das Gefühl, daß es nicht vollkommen unmöglich war. Schließlich mußte es in den alten Zeiten oft so gegangen sein. Immer noch ein Standardverfahren, könnte man sagen. Die Fackeln hatten bereitgelegen. Dennoch war es ganz schön unheimlich, durch die Nacht zu laufen, während zu beiden Seiten schneeige, baumbestandene Felsenhänge aufragten und die beiden Schienen silbern vor mir in der Ferne schimmerten.

Ich sah die Gefahr nicht rechtzeitig, und sie brummte auch nicht; sie war kein Bär, sie hatte zwei Beine und war menschlich.

Er mußte sich im Schatten, den meine Taschenlampe warf,

hinter Felsen oder Bäumen versteckt gehalten haben. Ich sah seine Bewegung am äußersten Rand meines Gesichtsfeldes, nachdem ich ihn passiert hatte. Ich nahm einen hochgereckten Arm wahr, eine Waffe, einen ankommenden Schlag.

Es blieb kaum eine hundertstel Sekunde für instinktives Ausweichen. Ich beugte mich lediglich im Laufen ein Stück vor, so daß der Hieb meine Schultern traf, nicht meinen Kopf.

Es fühlte sich an, als wäre ich entzweigekracht, aber ich war es nicht. Füße, Hände, Muskeln, alles war intakt. Ich taumelte vorwärts, ließ die Fackeln und die Lampe fallen, ging auf ein Knie herunter, wußte, daß der nächste Schlag im Anmarsch war. Erst denken, dann handeln. mir fehlte die Zeit. Ich drehte mich zu ihm hin, nicht weg von ihm. Drehte mich nach innen, unter dem ausholenden Arm durch, kam hoch, stieß mit dem Kopf nach dem aggressiven Kinn, rammte mein Knie hart zwischen die auseinandergestellten Beine, schlug mit geballter Faust und gesammelter Wut nach dem Adamsapfel in seiner Kehle. Eins der vielen Dinge, die ich auf meinen Reisen gelernt hatte, war, wie man unsauber kämpft, und nie hatte ich das Wissen dringender gebraucht.

Er grunzte und ächzte vor dreifach unerwartetem Schmerz und brach in die Knie, und ich riß ihm das lange Stück Holz aus der erschlafften Hand und schlug es ihm selbst über den Kopf, hoffentlich fest genug, um ihn auszuknocken, aber nicht so fest, daß es ihn umbrachte. Er sackte lautlos mit dem Gesicht voran in den Schnee zwischen den Schienen, und als ich ihn mit dem Fuß herumdrehte, sah ich im schrägen Schein der Taschenlampe, die unbeschädigt einige Schritte entfernt lag, die hageren Gesichtszüge des Mannes namens Johnson.

Er hat wesentlich mehr abbekommen, als er gewohnt ist, schätzte ich und empfand eine starke Befriedigung darüber, die sicher verwerflich war, aber ich konnte nicht anders.

Ich bückte mich, packte ihn am Handgelenk und zerrte ihn unsanft über die Schiene hinweg in das Dunkel neben dem Gleis. Er war schwer. Außerdem trat der Schaden, den er mir zugefügt hatte, erst bei diesem Bewußtlosentransport richtig zutage. Er hatte mir zwar nicht das Rückgrat gebrochen, obwohl es sich so angehört hatte, doch irgendwo gab es da ein paar arg gequetschte Muskelfasern, die nicht voll einsatzfähig waren und schmerzhafte Protestbotschaften aussandten.

Ich hob die Taschenlampe auf und suchte nach den Fackeln, mehr und mehr in dem Bewußtsein, daß die Zeit drängte, daß sie davonlief. Ich fand drei Fackeln, konnte die vierte nicht entdecken, beschloß, keine Zeit mehr zu verlieren, dachte, die Bären müßten sich eben damit abfinden.

Bin wohl ein bißchen daneben, dachte ich. Nichts wie los jetzt. Ich war noch nicht annähernd eine halbe Meile vom Zug entfernt. Ich schwenkte den Strahl der Lampe dahin zurück, woher ich gekommen war, doch statt des Zuges sah ich nur eine Kurve, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Einen verzweifelten Augenblick lang wußte ich nicht mehr, aus welcher Richtung ich gekommen war: absoluter Schwachsinn, wenn ich jetzt verkehrt lief.

Denk nach, um Gottes willen.

Ich schwenkte die Taschenlampe nach beiden Seiten das Gleis entlang. Bäume, Felsen, silberne, parallel laufende Schienen, alles genau gleich.

Wo lang? Denk nach.

Ich ging in die eine Richtung, und es fühlte sich falsch an. Ich machte kehrt und ging zurück. Das war richtig. So fühlte es sich richtig an. Es war der Wind in meinem Gesicht, dachte ich. Ich war vorhin gegen den Wind gelaufen.

Das Gleis, die Schwellen schienen sich ins Unendliche zu erstrecken. Außerdem meinte ich bergan zu laufen. Vor mir lag eine weitere Rechtskurve.

Wie lange brauchte man für eine halbe Meile? Ich warf rasch einen Blick auf die Uhr, bog dabei mein Handgelenk, was irgendwo hoch oben weh tat, aber es war ein leiser Schmerz, nichts Beängstigendes. Ich konnte den Zeigern nicht glauben. Zehn Minuten erst… höchstens zwölf… seit ich losmarschiert war.

Normalerweise schaffte man in zehn Minuten leicht eine Meile… aber nicht über Schwellen und Steine.

Johnson hatte auf mich gewartet, dachte ich. Nicht auf mich persönlich — auf denjenigen, der mit den Signallichtern aus dem Zug gelaufen kam.

Folglich wußte er, daß das Funkgerät nicht funktionierte.

Ich begann mich ernsthaft um den vermißten George zu sorgen.

Vielleicht hatte Johnson das heißgelaufene Achslager überhaupt erst fabriziert.

Johnson hatte gewollt, daß die Züge zusammenstießen, während er hinter ihnen in Sicherheit war. Johnson sollte weiß Gott keinen Erfolg haben.

Mit neuer Entschlossenheit, vielleicht auch endlich mit dem Gefühl, daß all dies wirklich geschah und daß ich tatsächlich den Canadian stoppen könnte, eilte ich weiter das Gleis entlang.

Georges Stimme klang mir im Kopf, wie er mir von dem Zank zwischen Johnson und Filmer erzählte. Filmer hatte Johnson aufgefordert, irgend etwas nicht zu tun; Johnson hatte geantwortet:

«Ich tu verdammt noch mal, was ich will. «Filmer konnte ihm gesagt haben, er solle keine Sabotageakte mehr gegen den Zug verüben, weil ihm klargeworden war, daß sich ohnehin Schwierigkeiten für ihn anbahnten, Schwierigkeiten, aus denen er sich vielleicht nicht herauswinden konnte, wenn etwas ganz Verheerendes geschah.

Johnson, einmal in Gang gesetzt, ließ sich nicht mehr aufhalten.

«Einen Zug bergrunter ins Rollen zu bringen ist leichter, als ihn zu stoppen, eh?«Johnson, seit jeher streitbar wie ein Zinshahn; der Ex-Eisenbahner, der gewalttätige Angstmacher.

Ich mußte weit über eine halbe Meile gelaufen sein, dachte ich. Eine halbe Meile hatte sich nicht weit genug angehört — der Zug selbst war ja eine Viertelmeile lang. Ich blieb stehen und sah auf die Uhr. Der Canadian würde schon in wenigen Minuten kommen. Vor mir lag noch eine Kurve. Ich durfte nicht zu lange warten.

Ich lief schneller, um die Biegung herum. Hundert Meter weiter vorn war die nächste Kurve, aber es mußte reichen. Ich legte die Taschenlampe neben das Gleis, rieb den Kopf einer Fackel fest über eine der Schienen und bat sie, beschwor sie, sich zu entzünden.

Sie zischte zu einer riesigen roten Stichflamme auf, auf die ich nicht gefaßt war. Beinah hätte ich sie fallen lassen. Ich rammte den Dorn in das Holz einer Schwelle.

Die Flamme brannte in einem leuchtenden Feuerrot, das man eine Meile weit gesehen hätte, wären die Schienen bloß gerade verlaufen.

Ich nahm die Taschenlampe und rannte um die nächste Kurve, während der Feuerbrand hinter mir den ganzen Schnee in Rosa tauchte. Nach dieser Biegung kam eine viel längere Gerade; ich lief ein gutes Stück, hielt dann wieder an, entzündete die zweite Fackel und stieß ihre Spitze in das Holz wie zuvor.

Der Canadian mußte fast dasein. Ich überblickte die Zeit nicht mehr. Der Canadian würde mit seinen hellen Scheinwerfern kommen und die Lichtsignale sehen und mit reichlich Spielraum anhalten.

Ich sah winzige Lichtpunkte in der Ferne. Ich hatte nicht gewußt, daß wir in einer besiedelten Gegend waren. Dann erkannte ich, daß die Lichter sich bewegten, sich näherten. Der

Canadian schien zuerst langsam heranzukommen… dann schneller… und er hielt nicht an… Kein Kreischen von hastig gezogenen Bremsen.

Schlimmes ahnend riß ich die dritte Fackel kräftig auf der Schiene an, zerbrach sie fast, hörte sie zischen, schwenkte sie neben dem Gleis stehend, neben der anderen Fackel, die im Holz steckte.

Der Canadian hielt voll drauf. Ich konnte gar nicht hinsehen, konnte es nicht fassen… Es war beinah unmöglich, die Fackel durch das Fenster zu werfen… das Fenster war zu klein, zu hoch oben und bewegte sich mit fünfunddreißig Meilen in der Stunde. Ich kam mir kümmerlich vor gegenüber der riesigen, dröhnenden gelben Masse der unerbittlich näher kommenden Lok mit ihren grellen Lichtern und ihrem nichtvorhandenen Gehirn.

Sie war da. Jetzt oder nie. Kein Gesichter, die aus dem Führerstand schauten. Ich brüllte verzweifelt:»Anhalten«, und der Laut verpuffte in der Bugwelle sich teilender Luft.

Ich warf die Fackel. Warf sie hoch, warf sie zu früh, verfehlte das leere schwarze Fenster.

Die Fackel flog daran vorbei, traf die Außenseite der Windschutzscheibe und fiel auf den vorspringenden Teil der Lok; dann war sie auch schon völlig außer Sicht, der ganze lange, schwere Zug rollte in stetem Tempo an mir vorüber, ließ den Boden erzittern, begrub die zweite Fackel, die ich ihm in den Weg gestellt hatte, unter sich. Er setzte seinen hirnlosen Kurs fort, fegte um die Kurve und war verschwunden.

Ich fühlte mich aufgelöst und krank, das Bewußtsein, versagt zu haben, ließ den Schmerz, den ich ignoriert hatte, wieder aufleben. Die Züge würden sich ineinanderbohren, würden ziehharmonikaförmig zusammengedrückt werden, sich zu einem todbringenden Chaos aufstülpen… Verzweifelt hob ich die Taschenlampe auf und trabte in die Richtung, in die der

Canadian gefahren war. Ich würde dem ins Auge sehen müssen, was ich nicht hatte verhindern können… würde helfen müssen, obwohl ich mich elend schuldig fühlte. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß der Canadian in den Wagen der Lorrimores hineindonnerte… irgend jemand hatte die Lorrimores sicher gewarnt… o Gott, o Gott… jemand mußte die Lorrimores gewarnt haben… und alle anderen auch. Sie würden alle aus dem Zug heraus sein, weg von den Schienen… Neil… Zak… alle.

Ich rannte um die Kurve. Vor mir, neben dem Gleis, lag noch brennend die Fackel, die ich geworfen hatte. Von der Lok gefallen. Die erste Fackel, die ich hundert Meter weiter vorn vor der nächsten Kurve gesetzt hatte, war völlig verschwunden, weggefegt vom Canadian.

Da war nichts. Kein Geräusch außer dem säuselnden Wind. Hilflos fragte ich mich, wann ich den Zusammenstoß hören würde. Ich hatte keine Ahnung, wie weit der Rennexpreß entfernt war; wie weit ich gelaufen war.

Mir wurde kalt, und mit bleiernen Füßen stapfte ich an der heruntergefallenen Fackel vorbei und weiter, um die nächste Biegung und um die lange Kurve, die danach kam. Ich hörte nicht das Kreischen in Metall hineinrasenden Metalls, obgleich es in meinem Kopf widerhallte. Sie mußten die Lorrimores gewarnt haben, unbedingt… Ich zitterte in diesen eisigen Bergen vor sehr viel mehr als Kälte.

Weit vor mir auf den Schienen waren zwei rote Lichter. Nicht grell und brennend wie die Fackeln, sondern klein und unscheinbar, wie Reflektoren. Ich fragte mich benommen, was es sein könnte, und erst als ich noch etwa fünfzig Schritte gegangen war, begriff ich, daß es keine Reflektoren waren, es waren Lichter… stehende Lichter… und ich lief wieder schneller, wagte kaum zu hoffen, sah dann aber, daß es tatsächlich die Rücklichter eines Zuges waren. des Zuges. es konnte nur einer sein… kein Krachen hatte die Nacht zerrissen… Der Canadian hatte angehalten. Ich fühlte mich von Erleichterung überflutet, den Tränen nahe, atemlos. Er hatte angehalten. keine Kollision. kein tragisches Unglück. er hatte angehalten.

Ich rannte auf die Lichter zu, sah jetzt den Großteil des Zuges im Schein der Taschenlampe, befürchtete unvernünftigerweise, die Lokführer würden wieder losfahren und beschleunigen. Ich lief, bis ich keuchte, bis ich den Zug berühren konnte. Ich lief an ihm entlang, sprintete jetzt, um ihnen möglichst schnell zu sagen, sie sollten nicht weiterfahren.

Mehrere Leute standen vorn bei der Lok im Freien. Sie sahen jemanden mit einer Taschenlampe auf sich zurennen, und als ich schon ziemlich nah bei ihnen war, rief einer von ihnen gebieterisch:

«Steigen Sie wieder ein. Wir können hier niemand gebrauchen.«

Ich verlangsamte zum Schrittempo, völlig außer Puste.»Ich, ehm…«rief ich,»ich komme aus dem Zug vor Ihnen. «Ich winkte die Schienen entlang, die leer waren, soweit man sie im Scheinwerferlicht des Canadian sehen konnte.

«Welchem Zug?«sagte einer von ihnen, als ich sie schließlich erreichte.

«Dem Rennzug. «Ich schnappte nach Luft. Mein Atem ging stoßweise.»Der Transkontinentale Erlebnis- und Rennexpreß.«

Stille trat ein. Einer von ihnen sagte:»Der soll uns doch fünfunddreißig Minuten voraus sein.«

«Er hatte. «sagte ich, Sauerstoff tankend,»ein heißgelaufenes Lager.«

Das sagte ihnen sehr viel. Es erklärte alles.

«Oh. «Sie bemerkten meine Uniform.»Waren Sie es, der die Fackeln angezündet hat?«

«Ja.«»Wie weit ist der andere Zug vor uns?«

«Ich weiß es nicht… Weiß nicht mehr… wie weit ich gelaufen bin.«

Sie berieten sich. Einer war seiner Uniform nach der Zugführer. Zwei, die keine trugen, waren offenbar der Lokführer und sein Assistent. Noch ein weiterer Mann war dort; vielleicht der zweite Zugführer. Sie beschlossen — der Zugführer und der Lokführer beschlossen — langsam weiterzufahren. Sie sagten, ich solle am besten im Führerstand mitkommen.

Dankbar, mit sich beruhigender Lunge, stieg ich ein und schaute zu, wie der Lokführer die Bremsen löste, die Motoren anwarf und allenfalls im Schrittempo losfuhr, die Scheinwerfer hell auf dem leeren Gleis vor uns.

«Haben Sie eine von den Fackeln geworfen?« fragte mich der Lokführer.

«Ich dachte, Sie würden nicht anhalten. «Es klang sachlich, emotionslos.

«Wir waren nicht im Führerstand«, sagte er.»Die, die Sie geworfen haben, traf die Windschutzscheibe, und ich sah den Schein bis zuhinterst in der Lok, wo ich ein Ventil überprüfte. Schon ganz gut, daß Sie sie geworfen haben… Als ich hier reingeflitzt kam, konnte ich gerade noch die Fackel auf dem Gleis sehen, bevor wir drübergewalzt sind. Glück gehabt, wissen Sie.«

«Ja. «Glück gehabt… Erlösung von lebenslanger Reue.

«Warum hat denn Ihr Zugführer nicht gefunkt?«sagte der Zugführer ärgerlich.

«Das Gerät ist kaputt.«

Er schimpfte ein bißchen. Wir rollten langsam weiter. Vor uns lag eine Rechtskurve.

«Ich glaube, wir sind bald da«, sagte ich.»Kann nicht mehr weit sein.«

«Gut. «Das Tempo wurde noch langsamer. Der Lokführer nahm die Biegung zentimeterweise, und das war auch gut so, denn als er dann anhielt, lagen ganze zwanzig Meter zwischen der Nase der gelben Lok des Canadian und dem glänzenden Messinggeländer der Plattform am Wagen der Lorrimores.

«Na ja«, meinte der Lokführer träge,»hätte mich nicht entzückt, das zu sehen, wenn ich nichtsahnend um die Ecke gekommen wäre.«

Da erst fiel mir ein, daß Johnson irgendwo draußen auf der Strecke war. Mit Sicherheit hatte ich ihn auf der Rückfahrt nicht bewußtlos oder tot am Boden liegen sehen, und die Besatzung des Canadian offensichtlich auch nicht. Flüchtig fragte ich mich, wo er geblieben war, aber es kümmerte mich in dem Moment wenig. Alles kletterte aus dem Führerstand des Canadian, und die Besatzung zog los, um sich mit ihren Kollegen weiter vorn zu treffen.

Ich ging mit ihnen. Die beiden Gruppen begrüßten sich ohne Aufregung. Die Expreßler hatten es offenbar als selbstverständlich betrachtet, daß der Canadian rechtzeitig halten würde. Man sprach nicht über Lichtsignale, sondern über heiße Lager.

Die Lagerbüchse, die das rechte Ende der sechsten und hintersten Achse des Pferdewaggons barg, hatte sich überhitzt, weil, so nahmen sie an, das Öl im Innern irgendwie ausgelaufen war. Daran lag es meistens, wenn das geschah. Sie hatten das Achslager noch nicht geöffnet. Es glühte zwar nicht mehr rot, war aber zu heiß zum Anfassen. Sie kühlten es fortwährend mit frischem Schnee. Noch zehn Minuten vielleicht.

«Wo ist George Burley?«fragte ich.

Der Gepäckarbeiter des Rennzuges sagte, niemand könne ihn finden, aber zwei Schlafwagenstewards suchten noch nach ihm. Wie gut, erzählte er den anderen, daß er zufällig im Pferdewaggon gefahren sei. Er habe die heißgelaufene Achse

gerochen, sagte er. Er habe den Geruch schon einmal in der Nase gehabt. Stinkt fürchterlich, sagte er. Er sei schnurstracks nach vorn gegangen, um dem Lokführer zu sagen, er solle sofort anhalten.»Sonst wäre die Achse gebrochen, und wir hätten entgleisen können.«

Die anderen nickten. Sie wußten es alle.

«Haben Sie die Passagiere verständigt?«fragte ich.

«Was? Nein, nein, die brauchten wir nicht aufzuwecken.«

«Aber… es hätte doch sein können, daß der Canadian nicht anhält.«

«Natürlich hält er, wenn er Lichtsignale sieht.«

Ihr Vertrauen erstaunte und erschreckte mich. Der Zugführer des Canadian sagte, er werde nach Kamloops vorausfunken, und dort, wo es mehrere Gleise gab, nicht nur das eine, würden beide Züge wieder anhalten. In Kamloops werde man sich bald Sorgen machen, weil der Rennexpreß nicht eingetroffen sei, meinte er und lief davon, um die Station zu benachrichtigen.

Ich ging am Pferdewaggon vorbei nach hinten und stieg in den Zug, und fast sofort traf ich Georges Stellvertreter, der auf dem Weg nach vorn war.

«Wo ist George?«sagte ich drängend.

Er war besorgt.»Ich finde ihn nicht.«

«Es gibt eine Möglichkeit, wo er sein könnte. «Und bitte laß ihn dort sein, dachte ich. Bitte laß ihn nicht Meilen entfernt in irgendeinem grauenhaften Zustand neben den Schienen liegen.

«Wo denn?«sagte er.

«In einem Schlafwagenabteil. Sehen Sie auf der Liste nach. Das Abteil von Johnson.«

«Von wem?«

«Johnson.«

Ein anderer Schlafwagensteward kam zufällig gerade hinzu.

«Ich kann ihn immer noch nicht finden«, sagte er.

«Wissen Sie, wo Johnsons Abteil ist?«fragte ich schnell.

«Ja, fast direkt neben meinem. Er hat ein Einbettabteil.«

«Dann sehen wir da mal nach.«

«Sie können doch nicht mitten in der Nacht bei einem Passagier eindringen«, protestierte er.

«Wenn Johnson da ist, entschuldigen wir uns.«

«Mir ist schleierhaft, wie Sie darauf kommen, daß George dort sein könnte«, brummte er, führte uns aber nach hinten und zeigte auf eine Tür.»Da ist es.«

Ich öffnete sie. George lag auf dem Bett, krümmte und wand sich in Fesseln, kämpfte gegen einen Knebel. Sehr lebendig.

Maßlos erleichtert riß ich den Knebel herunter, der aus breitem, festsitzendem Heftpflaster bestand.

«Verdammt, hat das weh getan, eh?«sagte George.»Wieso habt ihr so lange gebraucht?«

George saß in seinem Büro, trank grimmig heißen Tee und lehnte es ab, sich hinzulegen. Er hatte eine Gehirnerschütterung, das sah man seinen Augen an, aber er wollte nicht zugeben, daß der Schlag auf seinen Kopf, durch den er bewußtlos geworden war, irgendeine Wirkung gehabt hatte. Sobald er von den Stricken befreit und die Sache mit der heißgelaufenen Achse zu ihm durchgedrungen war, hatte er darauf bestanden, sich im vorderen Aussichtswagen des Rennexpresses mit dem Zugführer des Canadian zu besprechen, eine Unterredung, der etliche andere Besatzungsmitglieder und ich selbst beiwohnten.

Der Fahrdienstleiter in Kamloops, so berichtete der Zugchef des Canadian, hatte angeordnet, daß der Rennexpreß, sobald er aufbrechen konnte, nach Kamloops weiterfahren sollte, und der Canadian zehn Minuten später. Ein nachfolgender Güterzug würde noch verständigt werden. Der Rennexpreß sollte eine Stunde in Kamloops bleiben; der Canadian würde dort zuerst abfahren, um möglichst wenig hinter den Zeitplan zurückzufallen. Wenn sämtliche Achslager des Rennzuges überprüft waren, konnte er die Fahrt nach Vancouver fortsetzen. Eine Untersuchung der Sache würde es in Kamloops nicht geben, da der Expreß erst nach drei Uhr früh- Sonntag früh — dort ankam. Die Untersuchung würde in Vancouver erfolgen.

Alle nickten. George sah bleich aus, als ob er wünschte, er hätte seinen Kopf nicht bewegt.

Der Lokführer des Rennzuges kam, um uns mitzuteilen, daß man die Lagerbüchse endlich geöffnet habe; sie sei trocken gewesen und das Ölwerg verbrannt, aber jetzt sei alles gut, sie sei kühl und neu gefüllt, nichts tropfe heraus und der Zug könne weiterfahren.

Sie verloren keine Zeit. Die Mannschaft des Canadian ging, und bald war der Rennexpreß wieder in Fahrt, als wäre nichts geschehen. Ich begleitete George in sein Büro, dann holte ich ihm den Tee, und er verlangte erschöpft, ich solle ihm der Reihe nach erzählen, was da vor sich gehe.

«Erzählen Sie mir erst mal, wie Sie bewußtlos geschlagen worden sind«, sagte ich.

«Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich war auf dem Weg nach vorn, zum Lokführer. «Er sah verwirrt drein.»Dann lag ich da plötzlich zusammengeschnürt. Ich war eine Ewigkeit da drin. Ahnte nicht, warum. «Das Kichern war ihm vergangen.»Ich war in Johnsons Abteil, sagten sie. Es wird wohl Johnson gewesen sein, der mich überfallen hat.«

«Ja.«

«Wo ist er jetzt?«

«Weiß der Himmel. «Ich erzählte George, wie Johnson auf mich losgegangen war und ich ihn überwältigen konnte und daß ich ihn auf dem Rückweg nirgends gesehen hatte.

«Zwei Möglichkeiten«, sagte George.»Drei wahrscheinlich.

Entweder hat er sich irgendwohin verdrückt, oder er läßt sich gerade jetzt vom Canadian mitnehmen.«

Ich sah ihn groß an. Daran hatte ich nicht gedacht.»Und die dritte?«fragte ich.

Ein müdes Funkeln kroch in Georges benebelte Augen.»Der Berg, wo wir angehalten haben«, sagte er.»Das war Squilax Mountain. Squilax ist das indianische Wort für Schwarzbär.«

Ich schluckte.»Ich habe keine Bären gesehen.«

«Gut so.«

Irgendwie glaubte ich nicht, daß Johnson von einem Bären verspeist worden war. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Der Teufel mußte mich geritten haben, aber ich hatte die ganze Zeit nicht an Bären geglaubt, als ich da draußen am Schwarzbärenberg gewesen war.

«Wissen Sie was?«sagte George.»Bei den neuen Schienenfahrzeugen werden die Lagerbüchsen nicht so schnell heiß, die Achsen laufen auf Kugellagern, eh? nicht auf Ölwerg. Nur alte Wagen wie der Pferdewaggon werden anfällig bleiben. Ich sag Ihnen was — jede Wette, daß Johnson fast das ganze Ölwerg aus dem Lager geholt hat, als wir in Revel stoke standen.«

«Warum sagen Sie Ölwerg?«fragte ich.

«Lumpen. In dem Öl sind Lumpen. Gibt einen besseren Puffer für die Achse als reines Öl. Wohlgemerkt, ich hab von so einer Sabotage schon mal gehört. Bloß wurden damals nicht nur die Lappen entfernt, sondern Eisenspäne reingepackt, eh? Hat den Zug zum Entgleisen gebracht. Das war auch ein verbiesterter Eisenbahner. Aber Achsen laufen sich gelegentlich von selber heiß. Auf manchen Strecken gibt es deshalb mit Wärmesensoren ausgerüstete Alarmsysteme am Gleis. Wie konnte dieser Johnson sich bloß einbilden, daß er damit ungeschoren davonkommt?«»Er weiß nicht, daß wir ein Foto von ihm haben.«

George fing an zu lachen und besann sich eines Besseren.»Sie bringen mich um, Tommy. Aber wie kommt mein Stellvertreter dazu, Sie mit den Fackeln loszuschicken? Das war doch sein Job, eh? Er hätte gehen müssen.«

«Er sagte, ich wäre schneller.«

«Na ja, da hatte er wohl recht. Aber Sie gehören nicht richtig zum Stab.«

«Das hatte er vergessen«, sagte ich.»Ich fand aber schon, er hätte die Lorrimores verständigen können… und alle anderen auch… weil sie doch in Gefahr waren.«

George dachte darüber nach.»Ich sage nicht, er hätte es tun sollen. Ich sage nicht, er hätte es lassen sollen.«

«Eisenbahner halten zusammen?«

«Er geht bald in Pension. Und es hat keinen auch nur aus dem Bett gehauen, eh?«

«Glücklicherweise.«

«Züge halten bei Lichtsignalen immer an«, sagte er gelassen.

Ich ließ es dabei bewenden. Man konnte einen Menschen wohl nicht um sein Ruhegeld bringen, weil er etwas nicht getan hatte, das sich im nachhinein als unnötig erwies.

Wir fuhren bald darauf in Kamloops ein, wo sämtliche Achsen kontrolliert wurden, das Funkgerät ausgetauscht wurde und auch sonst alles nach Plan lief. Als wir wieder unterwegs waren, meinte George endlich, er werde sich in seinen Kleidern langlegen und zu schlafen versuchen; und zwei Türen weiter versuchte ich dasselbe.

Die Dinge fangen immer an weh zu tun, wenn man Zeit hat, an sie zu denken. Der dumpfe Schmerz in meinem linken Schulterblatt, wo Johnsons Knüppel gelandet war, wurde zeitweilig sehr schlimm; auszuhalten, wenn ich stand, nicht so gut, wenn ich lag. Lästig. Am Morgen würde die Schulter noch steifer sein, dachte ich. Eine Plage beim Frühstück-Servieren.

Schließlich lächelte ich in mich hinein. Trotz Johnsons und Filmers vereinten Bemühungen würde der Große Transkontinentale Erlebnis- und Rennexpreß sich vielleicht doch bis Vancouver durchschleppen, ohne daß ein Unglück geschah.

Selbstzufriedenheit, hätte ich bedenken sollen, war niemals gut.

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