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Atemlos trat ich hinter Anton in das Spielzimmer, wo ich vor dem Frühstück auf Jasper getroffen war, und stellte dort rasch einen geschickten Kulissenwechsel fest. Die Mitte der Bühne beherrschte nun eine weiße Tafel auf einer Staffelei, wie sie in Vorlesungen benutzt wird. Aus den acht Stühlen um den Tisch waren zehn geworden. Über dem ziegelgemauerten Kamin hatte man eine Bahnhofsuhr aufgehängt und daneben ein Schild, das auf französisch das Rauchen verbot. Jasper, frisch rasiert und gekämmt, lungerte an der Tür zum Gang herum, Benny immer dicht an seiner Seite.
Ich ließ den Blick über den Tisch wandern. Was steht bei einer anonymen Konferenz auf den Namensschildchen? Der Mwangaza hieß schlicht Mzee und hatte den Ehrenplatz in der Mitte der Wandseite zugewiesen bekommen. Flankiert wurde er von seinem treuen Jünger M. Le Secretaire und seinem nicht ganz so treuen M. Le Conseiller alias Tabby, dem laut Maxie nicht einmal bei der Uhrzeit zu trauen war. Auf der anderen Seite des Tisches, mit dem Rücken zu den Terrassentüren, war das Trio infernale plaziert, benamt lediglich mit Monsieur plus Initialen: D für Dieudonne, F für Franco und H für Honore Amour-Joyeuse, den Mister Big von Bukavu, besser bekannt als Haj. Franco als der Älteste durfte in der Mitte sitzen, gegenüber dem Mwangaza.
Die Längsseiten des ovalen Tisches waren demnach besetzt, womit sich das Gastgeberteam zwischen den beiden Enden aufteilen durfte: an dem einen Monsieur Le Colonel – Maxie, wie ich annahm – und neben ihm Monsieur Philippe, am anderen Jasper und ich. Und wie ich nicht umhinkonnte zu bemerken, tat man mich, während Jasper ehrerbietig mit Monsieur L’ avoc at tituliert wurde, schnöde als Interprete ab.
Und vor Philips Platz eine Messingglocke. Ich höre sie heute noch. Sie hatte einen schwarzen Holzgriff und war eine Miniaturnachbildung jener Glocke, von der wir Herz-Jesu-Insassen jede einzelne Sekunde unseres Tages terrorisiert worden waren. Ihr Bimmeln hatte uns aus den Betten gerissen, uns zum Beten geordert, zum Essen geordert, auf die Toilette geordert, in die Turnhalle, ins Klassenzimmer und auf den Fußballplatz, wieder zum Beten und von da ins Bett, wo wir lagen und mit unseren Dämonen rangen. Und wie Anton mir fürsorglich erklärte, würde dieses selbe Bimmeln mich in Kürze hinunter in den Heizungskeller und wieder hoch jagen wie ein menschliches Jojo: »Er läutet damit, wenn er Sie in die Pause schickt, und er läutet wieder, wenn er euch an den Tisch zurückholen will, weil ihm langweilig ist. Aber für ein paar von uns wird’s keine Pausen geben, was, Chef?« fügte er augenzwinkernd hinzu. »Ein paar von uns werden ganz mucksmäuschenstill in einem gewissen kleinen Kabuff sitzen und warten, was sich in Spiders Spinnennetz alles so fängt.«
Ich zwinkerte zurück, dankbar für seine Kameradschaftlichkeit. Ein Jeep fuhr im Hof vor. Wieselflink huschte er zur Terrassentür hinaus und war verschwunden, vermutlich, um sein Bewachungsteam zu instruieren. Ein zweites Flugzeug brummte über uns hinweg, und wieder war ich zu langsam. Einige Minuten vergingen, während derer mein Blick gleichsam ohne mein Zutun aus dem Spielzimmer schweifte, hinaus in die herrschaftlichen Anlagen vor den Fenstern. Und dieser Umstand bescherte mir den Anblick eines hocheleganten weißen Gentleman in Panamahut, zartbraunen Hosen, roséfarbenem Hemd, roter Krawatte und einem maßgeschneiderten marineblauen Blazer jenes Typs, der in Gardekreisen als boating jacket firmiert. Er hob sich als Silhouette vor dem Himmel ab, dieser Gentleman, während er das grasbewachsene Hügelchen emporstieg bis zum Pavillon, wo er sich zwischen zwei Säulen lehnte wie ein britischer Ägyptologe alten Schlags und zurücklächelte in die Richtung, aus der er gekommen war. Und schon dieser erste, verdeckte Blick machte mir klar, daß hier eine Schlüsselfigur die Bildfläche betreten hatte: unser unabhängiger Afrika-Berater und – wieder Maxies Worte – Strippenzieher Philip (oder Philippe), der fließend Französisch und Lingala sprach, nicht aber Swahili, Wegbereiter unserer Konferenz, Botschafter beim Mwangaza und bei unseren Delegierten.
Der nächste am Horizont war ein schlanker, ungemein würdevoller Schwarzafrikaner. Er trug einen Bart und einen nüchternen europäischen Anzug, und er schritt so versonnen einher, daß er mich an Pater Michael bei der Fastenprozession rund um den Innenhof des Herz-Jesu-Heims erinnerte. Es bedurfte darum keiner großen seherischen Gaben meinerseits, um ihn als unseren pfingstbewegten Viehzüchter zu identifizieren, den Kriegsherrn Dieudonné, bevollmächtigter Abgesandter der verachteten und verfolgten Banyamulenge, die meinem seligen Vater so lieb gewesen waren.
Ihm folgte ein zweiter Afrikaner, der als der bewußte Gegenentwurf zu ihm gedacht schien: ein haarloser Riese im braunen Glitzeranzug, dessen Jacke über seiner Leibesfülle spannte, während er seines Weges humpelte, das linke Bein nachziehend unter gewaltsamen Seitwärtsdrehungen des ganzen Torsos. Wer anders konnte dies sein als Franco, unser hinkender Haudegen, ehemaliger Mobutu-Schläger und derzeitiger Colonel-oder-mehr bei den Mai Mai, erklärter Intimfeind und gelegentlicher Zweckverbündeter des Mannes, der nur ein kleines Stück vor ihm ging?
Und ganz zum Schluß, gleichsam als achtloses Zugeständnis an den Rest, der Dritte im Bunde, das enfant terrible, Haj, der Sorbonne-Absolvent und ungekrönte Kaufmannsprinz von Bukavu: aber dermaßen verachtungsvoll, dermaßen geckenhaft, dermaßen betont hinter seinen Mitdelegierten herbummelnd, daß ich mich fragte, ob er nicht vielleicht bereute, für seinen Vater eingesprungen zu sein. Haj war weder ausgemergelt wie Dieudonné noch öligkahl wie Franco. Er war ein Großstadt-Dandy. Sein Haar war an den Seiten kurzgeschoren, und in die Stoppeln waren Wellenlinien rasiert. Über der Stirn prangte eine prächtig in Form gegelte Tolle. Und was seine Kleider betraf: nun, Hannahs hehre Leitsätze mochten mein Verlangen nach derlei Äußerlichkeiten zwar gedämpft haben,
aber bei den Lumpen, in die Mr. Anderson mich gesteckt hatte, ließ Hajs Aufmachung den Schmerz wieder frisch auflodern. Was ich hier vor mir sah, war der letzte Schrei aus der Zegna-Sommerkollektion: ein Dreiteiler aus graubraunem Mohair für den Mann, der schon alles hat oder gern hätte, und als Kontrast dazu ein Paar spitzer lindgrüner italienischer Krokodillederschuhe, die ihn, so sie echt waren, pro Fuß gut und gern zweihundert Pfund gekostet haben mußten.
Wie mir seitdem bestätigt worden ist, bildete die Szene auf dem Grashügel den Schlußpunkt einer Besichtigungstour, bei der Philips Schützlinge sämtliche Highlights des Anwesens vorgeführt bekamen, von der verwanzten Suite, in der sie zwischen den Sitzungen sie selbst sein konnten, bis hin zu dem verwanzten Park, wo sie in den Genuß jenes zusätzlichen Quentchens Privatsphäre kamen, das für einen offenen, fruchtbaren Meinungsaustausch so unerläßlich ist.
Ausladende Geste von Philip, und die drei Delegierten spähen folgsam aufs Meer hinaus, dann hinüber zum Friedhof. Und als Haj sich mit den anderen dreht, schwingt das Jackett seines Zegna-Anzugs auf und läßt senfgelbes Seidenfutter hervorblitzen und dazu etwas Stählernes, das im Sonnenlicht blinkt. Was kann das sein, überlege ich. Eine Messerklinge? Ein Handy, und wenn ja, sollte ich es Maxie melden? – oder lieber versuchen, es mir zu borgen für einen heimlichen kleinen Anruf bei Hannah? Und jemand, vermutlich Philip, muß gerade einen Witz gemacht haben, möglicherweise einen schlüpfrigen, denn alle vier brechen sie in Gelächter aus, das den Hügel hinab bis ins Spielzimmer schallt, wo die Türen der Hitze wegen weit offenstehen. Aber das beeindruckt mich nur mäßig, denn meine Erfahrung von klein auf ist es, daß die Kongolesen, denen Höflichkeit über alles geht, nicht immer aus den richtigen Gründen lachen, und Mai-Mai-Krieger schon gar nicht.
Und als alle sich von ihrer Heiterkeit erholt haben, rückt die Prozession in Richtung der breiten Steintreppe vor, wo unter Philips gestenreichem Zureden Franco, der humpelnde Mai-Mai-Riese, seinen Arm um den Hals des zarten Dieudonné schlingt und ihn, Erzfeind hin oder her, zu seinem Krückstock befördert, aber mit solch impulsiver Herzlichkeit, daß mir ein glücklicher Ausgang unseres Wagnisses plötzlich nicht mehr so ausgeschlossen scheint. Und so vereint beginnen sie den Abstieg, vorneweg Philip, dann das zusammengeschweißte Paar und als letzter, hinter den anderen herschlendernd, Haj. Und der Nordmeerhimmel über ihnen war eisblau, auch das weiß ich noch, und der dicke Mai-Mai-Kriegsherr mit seinem zerbrechlichen Gehstock unterm Arm wurde den Hügel hinabeskortiert von einer Wolke winziger Vögel, die beim Fliegen Luftsprünge vollführten. Und als Haj in den Schatten trat, wurde auch das Geheimnis seiner Jackettinnentasche enthüllt: Er war stolzer Besitzer einer Batterie von Parker-Füllern.
Was als nächstes geschah, war eine dieser Pannen, die auf keiner anständigen Konferenz fehlen dürfen. Es war ein Begrüßungsdefilee geplant. Anton hatte uns vorher genau instruiert. Philip würde mit seinem Dreiertrupp von der Gartenseite hereinmarschiert kommen, Maxie würde im gleichen Augenblick von der Hausseite her mit dem Troß des Mwangaza Einzug halten, ein raffiniert eingefädelter Auftakt für das große historische Aufeinandertreffen der Parteien bei unserer Konferenz. Wir übrigen würden uns aufreihen und uns die Hände schütteln lassen oder auch nicht, je nachdem, wonach unseren Gästen gerade zumute war.
Statt dessen: ein Rohrkrepierer. Ob nun Maxie und die Seinen ihre Hausbesichtigung eine Spur verspätet beendeten oder Philip und die Delegierten ihre Tour zu flott absolviert hatten, vielleicht, weil der alte Franco mit Dieudonnés knöchrigem Gestell als Gehhilfe ein schnelleres Tempo vorgelegt hatte als geahnt: hinaus lief es aufs Gleiche. Philip und Gefolge rauschten herein, gehüllt in die süßen Gerüche meiner afrikanischen Kindheit, und die einzigen, die zu ihrer Begrüßung bereitstanden, waren ein Spitzendolmetscher, der seine kleinen Sprachen verleugnen mußte, ein französischer Provinznotar und der pferdegeschwänzte Riese Benny – wobei letzterem ein Blick genügte, und schon war er zur Tür hinaus, um Anton zu alarmieren.
Bei jeder gewöhnlichen Konferenz wäre nun ich in die Bresche gesprungen, denn ein Spitzendolmetscher muß auch Diplomat sein können, wenn Not am Mann ist, was öfter passiert, als man denkt. Aber das hier war Philips Operation. Und Philips Augen, die bezwingend aus den faltenlosen Polstern seines fleischigen Gesichts hervorblitzten, hatten die Lage im Nu erfaßt. Beide Zeigefinger in die Höhe gereckt in simultanem Entzücken, rief er Ah parfait, vous voilà! und zog schwungvoll seinen Panamahut vor mir, wobei er einen dichten Schopf weißen Haupthaars enthüllte, schön gewellt und über den Ohren zu zwei Hörnchen gezwirbelt.
»Gestatten Sie mir, mich vorzustellen!« erklärte er in geschliffenstem Pariser Französisch. »Ich bin Philippe, Agrarberater und unverbesserlicher Freund des Kongo. Und Sie, Monsieur, sind …?« Der wohlfrisierte weiße Kopf neigte sich mir entgegen, als hörte er nur auf einem Ohr.
»Mein Name ist Sinclair, Monsieur Philippe«, antwortete ich in genauso lebhaftem Ton, ebenfalls auf französisch. »Meine Sprachen sind Französisch, Englisch und Swahili.« Philips flinker Blick glitt weiter zu Jasper, und ich reagierte kaum weniger flink. »Darf ich vorstellen: Monsieur Jasper Albin, unser Fachanwalt aus Besançon«, fuhr ich fort. Und um des zusätzlichen Effekts willen: »Und erlauben Sie mir, im Namen von uns allen hier unsere verehrten afrikanischen Delegierten ganz herzlich willkommen zu heißen.«
Meine spontane Beredsamkeit zeitigte ungeahnte Folgen – ungeahnt, so glaube ich, auch für Philip. Der alte Franco hatte Dieudonné, seinen menschlichen Krückstock, beiseite gerempelt und umfing nun meine beiden Hände mit seinen Pranken. Und jeder normale Durchschnittseuropäer hätte in ihm vermutlich nur einen fetten Afrikaner in einem Glitzeranzug gesehen, der sich mit unseren westlichen Gebräuchen schwertut. Aber nicht Salvo, das Kind, das es nicht gab. Für Salvo war er der rauhbeinige selbsternannte Beschützer unserer Mission, bei Patres und Dienstboten gleichermaßen als Beau-Visage bekannt, einsamer Räuber und Vater zahlloser Kinder, der bei Einbruch der Nacht, Urwaldmagie im Blick, ein vorsintflutliches belgisches Schießeisen in der Hand und eine Jagdtasche über der Schulter, aus der ein Fäßchen Bier und eine frisch erlegte Antilope hervorlugten, in unser Missionshaus aus rotem Backstein geschlichen kam – einen Weg von zwanzig Meilen auf sich nahm, um uns vor Gefahr im Verzug zu warnen. Am Morgen fand man ihn dann mit dem Gewehr über den Knien auf der Türschwelle sitzend, die Augen geschlossen, lächelnd im Schlaf. Und noch am gleichen Nachmittag konnte man ihn auf dem Marktplatz der Stadt antreffen, wo er den unglücklichen Safari-Touristen seine grausigen Souvenirs andrehte: eine abgeschlagene Gorillapfote oder den geschrumpften augenlosen Schädel eines Impala.
»Bwana Sinclair«, begann nun dieser ehrwürdige Gentleman, wobei er die geballte Faust hochhielt, um sich Ruhe zu verschaffen. »Ich bin Franco, ein hoher Offizier der Mai Mai. Die Mai Mai sind eine Kriegsmacht, von unseren Vorvätern ins Leben gerufen zum Schutz unseres heiligen Landes. Ich war noch ein Kind, da hat ruandisches Gesindel unser Dorf überfallen, unsere Felder abgebrannt und drei von unseren Kühen in Stücke gehackt, alles aus purem Haß. Unsere Mutter hat sich mit uns im Wald versteckt. Als wir zurückkamen, hatten sie meinem Vater und zweien meiner Brüder die Sehnen durchgeschnitten und sie danach in Stücke gehackt.« Mit gekrümmtem Daumen wies er auf Dieudonné hinter ihm. »Als meine Mutter todkrank war und ins Krankenhaus sollte, hat dieses Banyamulenge-Gewürm sich geweigert, uns passieren zu lassen. Sechzehn Stunden lag sie sterbend am Wegrand, vor meinen Augen. Darum bin ich kein Freund der Fremden und Eindringlinge.« Ein tiefer Atemzug, gefolgt von einem noch tieferen Seufzer. »Nach der Verfassung sind die Mai Mai offizieller Teil der Armee von Kinshasa. Aber dieser Zusammenschluß besteht nur auf dem Papier. Mein General bekommt von Kinshasa eine prächtige Uniform, aber keinen Sold für seine Männer. Er bekommt einen hohen Rang verliehen, aber keine Waffen. Darum haben die Geister meines Generals ihm befohlen, den Worten dieses Mwangaza Gehör zu schenken. Und da ich meinen General achte und von denselben Geistern geleitet werde, und da ihr uns gutes Geld und Waffen versprochen habt, bin ich hier, um zu tun, wie mein General mich geheißen hat.«
Beflügelt von solch starken Worten, öffnete ich schon den Mund, um sie auf französisch kundzutun, als ein weiterer vielsagender Blick von Philip mich jäh innehalten ließ. Hörte Franco mein Herz hämmern? Hörte Dieudonné es, der direkt hinter ihm stand? Hörte der Stutzer Haj es? Alle drei sahen mich ermunternd an, ihre Blicke eine einzige Aufforderung, Francos Wortschwall zu übersetzen. Aber dank Philip hatte ich gerade noch rechtzeitig geschaltet. Vor lauter Feierlichkeit war Franco in seine Muttersprache verfallen, Bembe – und Bembe beherrschte ich offiziell nicht.
Nicht daß Philips Gesicht irgend etwas davon widerspiegelte. Er lachte vergnügt in sich hinein, schmunzelnd über den Lapsus des alten Mannes. Haj hinter ihm stieß in ein hyänenartiges Hohngelächter aus. Aber Franco, keineswegs aus der Fassung gebracht, sagte sein Sprüchlein unverdrossen noch einmal von vorn auf, in einem mühseligen Swahili nun. Und er war noch mitten im Reden und ich noch mitten im beifälligen Nicken, als zu meiner innigen Erleichterung die Tür auf der Hausseite aufflog und Benny den atemlosen Maxie hereingeleitete, auf dem Fuß gefolgt von seinen drei Gästen, der Mwangaza in ihrer Mitte.
* * *
Ich bin nicht im Boden versunken, niemand hat mit dem Finger auf mich gezeigt und mich bloßgestellt. Irgendwie haben wir um den Spieltisch zusammengefunden, und ich übersetze Philips Willkommensworte ins Swahili. Das Swahili hat seine übliche befreiende Wirkung auf mich. Irgendwie habe ich auch das Händeschütteln und die Vorstellungen überlebt, und alle sitzen an ihrem Platz bis auf Jasper, der nach der Begrüßung durch den Mwangaza und seine Ratgeber von Benny sogleich aus dem Raum expediert worden ist, zum Schutze seines zarten professionellen Gewissens, nehme ich an. Philips Ansprache ist launig und knapp, und seine Pausen setzt er da, wo ich sie mir wünsche.
Zum Ansprechpartner habe ich mir eine Literflasche Perrier erkoren, die einen halben Meter vor mir steht: Blickkontakt in den ersten Minuten einer Sitzung kann beim Dolmetschen fatal sein. Man schaut sich an, ein Funke der Komplizenschaft springt über, und schon hat der andere einen für den Rest der Zeit in der Tasche. Das Äußerste, was ich mir deshalb zugestehe, sind ein paar verstohlene Seitenblicke durch gesenkte Lider, die mir den Mwangaza als hypnotischen Schatten zeigen, vogelartig hingekauert zwischen seinen beiden Gefolgsmännern: hier der pockennarbige und gestrenge Tabizi, Ex-Schiit und neubekehrter Christ, von Kopf bis Fuß in edle Anthrazittöne gekleidet, dort sein glänzend glatter namenloser Jünger und politischer Berater, den ich insgeheim den Delphin taufe, seiner Unbehaartheit und seines AllwetterLächelns wegen, das, wie auch das schnürsenkeldünne Ringelschwänzchen, das aus seinem rasierten Nacken sprießt, ein Eigenleben zu führen scheint. Maxie hat eine Art Regimentskrawatte umgebunden. Ich bin angewiesen, ihm nichts ins Englische zu übersetzen, wenn er mir nicht das Zeichen dazu gibt.
Ein paar Bemerkungen an dieser Stelle zur Psychologie des Multilinguisten. Menschen, die von einer europäischen Sprache in eine andere wechseln, wechseln damit, wie häufig angemerkt wird, auch die Persönlichkeit. Ein Engländer, der ins Deutsche umschaltet, redet lauter. Seine Mundstellung verändert sich, er verlagert den Stimmsitz nach vorn, verzichtet auf Selbstironie zugunsten von Dominanz. Eine Engländerin, die französisch spricht, macht alles an sich weicher, wirft keck die Lippen auf, während ihr männliches Pendant Gefahr läuft, gestelzt zu klingen. Ich nehme mich da nicht aus. Aber die afrikanischen Sprachen lassen derlei feine Unterscheidungen nicht zu. Sie sind funktional, sie sind robust, selbst das koloniale Französisch. Es sind Bauernsprachen, in denen gut Tacheles reden oder, bei einem Streit, gut schreien ist, was die Kongolesen mit Leidenschaft tun. Ausflüchte macht man weniger mittels verbaler Verrenkungen als mittels Themawechsel oder, wenn man auf Nummer Sicher gehen will, mit einem Sprichwort. Gut, manchmal merke ich beim Umschalten von einer Sprache in eine andere, daß ich weiter hinten in der Kehle artikuliere als sonst, um den richtigen Atem zu haben, den richtigen heiseren Ton. Oder ich habe, wenn ich zum Beispiel Kinyarwanda spreche, einen Moment lang das Gefühl, einen heißen Stein zwischen den Zähnen zu balancieren. Aber alles in allem gilt: Sobald ich an meinem Platz sitze, bin ich mit der Zielsprache eins.
Philip hat seine Begrüßungsrede beendet. Sekunden später komme auch ich ins Ziel. Er setzt sich und belohnt sich mit einem Schluck Wasser aus seinem Glas. Ich trinke einen Schluck aus dem meinigen, nicht weil ich Durst habe, sondern weil Philip meine Bezugsperson ist. Ich wage einen weiteren verdeckten Blick auf den gewaltigen Franco und seinen Nachbarn, den abgezehrten Dieudonné. Über Francos Gesicht zieht sich eine Narbe vom Scheitel bis ganz hinunter zur Nasenspitze. Ob wohl seine Arme und Beine in ähnlicher Weise verziert sind, als Teil des Initiationsritus, der ihn gegen feindliche Kugeln feit? Dieudonnés Stirn ist hoch und mädchenhaft glatt, und sein verträumter Blick scheint auf die Hügel gerichtet, aus denen er herabgestiegen ist. Der Dandy Haj, der sich auf Francos anderer Seite fläzt, ignoriert die beiden geflissentlich.
* * *
»Guten Morgen, meine Freunde! Sind euer aller Augen auf mich gerichtet?«
Er ist so klein, Salvo. Wie kommt es, daß so viele kleingewachsene Männer mehr Mut haben als die großen, starken? Klein von Statur, so klein wie Cromwell der Mann des Volkes, entfaltet er doppelt soviel Energie pro Kilo Lebendgewicht wie alle anderen um ihn. Leichte Baumwolljacke, waschbar, wie sich’s für einen Wanderprediger gehört. Heiligenschein aus graumeliertem Haar, rundum gleich lang: ein schwarzer Einstein ohne den Schnauzbart. Und am Hals, wo bei anderen der Krawattenknoten sitzt, die Goldmünze, von der Hannah mir berichtet hat, so groß wie ein Fünfzig-Pence-Stück: Es ist sein Sklavenhalsband, Salvo. Es zeigt an, daß er nicht käuflich ist. Er ist schon verkauft, Pech gehabt. Er gehört den Menschen von ganz Kivu, und dies ist die Münze, mit der sie für ihn bezahlt haben. Er dient dem Pfad der Mitte!
Ja, aller Augen sind auf dich gerichtet, Mwangaza. Auch meine Augen. Ich muß nicht mehr Zuflucht bei meiner Wasserflasche suchen, während ich darauf warte, daß er zu sprechen beginnt. Unsere drei Delegierten, die es sich als höfliche Afrikaner versagt haben, den Lichtbringer während Philips Begrüßung zu mustern, starren nun, was das Zeug hält. Wer ist er? Welche Geister leiten ihn, welchen Zauber übt er aus? Liest er uns jetzt die Leviten? Droht er uns, spricht er uns frei, macht er uns lachen, macht er uns reich, macht er, daß wir tanzen und uns umarmen und einander unser Herz ausschütten? Oder verspottet er uns, so daß wir uns elend fühlen, voll der Schuldgefühle und Selbstbezichtigungen, die für uns Kongolesen, und für uns Halb-Kongolesen, ohnehin an der Tagesordnung sind: der Kongo, die Lachnummer Afrikas, vergewaltigt, ausgeplündert, verkorkst, bankrott, korrupt, blutrünstig, verhöhnt und für dumm verkauft, in jedem Land des Kontinents berüchtigt für seine Unfähigkeit, seine Sittenlosigkeit und Anarchie?
Wir warten darauf, daß er sich in Schwung redet, uns aufpeitscht, aber er spannt uns auf die Folter, so lange, bis Angst uns den Mund ausdörrt und die Blase uns fast platzen will – oder zumindest dem Kind, das es nicht gibt, was daran liegt, daß unser großer Erlöser eine irritierende Ähnlichkeit mit Père André hat, dem Oberprediger unserer Mission. Wie André läßt er es sich nicht nehmen, sämtliche Gemeindeglieder der Reihe nach mißmutig ins Auge zu fassen, erst Franco, dann Dieudonné, dann Haj und als letzten mich, ein langer finsterer Blick für jeden von uns, mit dem Unterschied allerdings, daß ich zu den Augen auch noch seine Hände auf mir spüre, wenn auch nur in meiner hyperaktiven Erinnerung.
»Nun, meine Herren! Jetzt, wo ihr mich alle anseht, meint ihr da nicht, daß es ein gewaltiger Fehler von euch war, hierherzukommen? Vielleicht hätte Monsieur Philippes hervorragender Pilot euch lieber auf einer anderen Insel absetzen sollen.«
Seine Stimme ist zu mächtig für ihn, aber getreu meiner Gewohnheit spreche ich meine französische Fassung gedämpft, fast wie zu mir selbst.
»Wonach sucht ihr hier, frage ich mich?« donnert er über den Tisch hinweg den alten Franco an, daß der vor Wut mit den Kiefern malmt. »Doch gewiß nicht nach mir, oder? Was wollt ihr mit mir denn anfangen? Ich bin der Mwangaza, ich will harmonische Koexistenz und Wohlstand für ganz Kivu. Ich denke mit meinem Kopf, nicht mit meinem Gewehr oder meiner panga oder meinem Penis. Ich verplempere meine Zeit nicht mit Mörderpack wie den Mai Mai, o nein!« Worauf er Dieudonné aufs Korn nimmt: »Und auch nicht mit Bürgern zweiter Klasse wie den Banyamulenge, o nein!« – jetzt ein herausforderndes Kinnrucken in Richtung Haj – »und erst recht nicht mit reichen jungen Schnöseln aus Bukavu, besten Dank« – aber doch nicht ohne ein Insiderlächeln für den Sohn seines alten Waffenbruders und Stammesgenossen – »nicht einmal, wenn sie mir Freibier und einen Job in einer ruandischen Goldmine anbieten – o nein! Ich bin der Mwangaza, das gute Herz des Kongo und redlicher Diener eines starken vereinten Kivu. Wenn das allen Ernstes die Person ist, deretwegen ihr hierhergekommen seid … wenn das tatsächlich der Fall sein sollte – laßt mich zumindest mit dem Gedanken spielen –, dann seid ihr vielleicht doch auf der richtigen Insel gelandet.«
Die überdimensionale Stimme senkt sich in vertrauliche Tiefen hinab. Meine klettert auf französisch hinterher.
»Sind Sie vielleicht ein Tutsi , mein Herr?« fragt er mit einem bohrenden Blick in die blutunterlaufenen Augen von Dieudonné. Er stellt die Frage einem Delegierten nach dem anderen, dann ihnen allen gemeinsam. Sind sie Tutsi? Hutu? Bembe? Rega? Fulero? Nande? Oder Shi, wie er?
»Wenn ja, dann verlassen Sie bitte sofort diesen Raum. Unverzüglich. Auf der Stelle. Nichts für ungut.« Er zeigt theatralisch auf die offene Terrassentür. »Gehen Sie! Einen schönen Tag noch, meine Herren! Haben Sie Dank für Ihren Besuch. Und schicken Sie mir bitte die Rechnung über Ihre Unkosten.«
Niemand rührt sich, mit Ausnahme des zappeligen Haj, der die Augen verdreht und listig von einem seiner ungleichen Kameraden zum anderen linst.
»Was zögert ihr, meine Freunde? Keine falsche Scham! Euer hübsches Flugzeug wartet gleich dort draußen. Es hat zwei zuverlässige Triebwerke und wird euch zurück nach Dänemark fliegen, ohne daß ihr auch nur einen Cent dafür zahlen müßt. Fort mit euch, macht, daß ihr heimkommt, und Schwamm über die Sache!«
Plötzlich lächelt er, ein strahlendes, urafrikanisches Fünf-Sterne-Lächeln, so breit, daß es sein EinsteinGesicht regelrecht in zwei Hälften spaltet, und unsere Delegierten grinsen und lachen erleichtert mit, Haj am lautesten. Père André hatte genau den gleichen Trick auf Lager: den Druck wegnehmen, wenn die Gemeinde am wenigsten damit rechnet, so daß man dankbar aufatmet und sein Freund sein will. Sogar Maxie lächelt. Desgleichen Philip, der Delphin und Tabizi.
»Wenn ihr dagegen aus Kivu seid, egal, ob aus dem Norden oder dem Süden oder der Mitte« – jetzt plötzlich entbietet die mächtige Stimme uns ein großzügiges Willkommen –, »wenn ihr wahre, gottesfürchtige Kivuter seid, wenn ihr den Kongo liebt und als echte kongolesische Patrioten für eine effiziente, unbestechliche Zentralregierung in Kinshasa seid – wenn es euer Wunsch ist, die ruandischen Schlächter und Ausbeuter ein für allemal über ihre Grenze zurückzutreiben –, dann bleibt bitte da, wo ihr seid. Dann ist das hier die richtige Insel. Dann bleibt und redet mit mir. Und miteinander. Dann laßt uns unser gemeinsames Ziel definieren, liebe Brüder, und zusammen darüber beraten, wie wir es am besten erreichen. Laßt uns den Pfad der Mitte beschreiten, den Pfad der Einheit und Versöhnung und Gleichberechtigung im Namen Gottes.«
Er hält inne, wägt ab, besinnt sich auf etwas, hebt neu an.
»Ah, aber dieser Mwangaza ist ein gefährlicher Separatist, hat man euch gesagt. Er ist größenwahnsinnig. Er will unseren geliebten Kongo spalten und die Brocken den Schakalen jenseits der Grenze zum Fraß vorwerfen. Liebe Brüder, ich bin unserer Hauptstadt Kinshasa ein loyalerer Freund, als Kinshasa sich selbst ist!« Große Worte, aber achtgegeben, es kommen noch größere. »Ich bin loyaler als Kinshasas unterbezahlte Soldaten, die unsere Städte und Dörfer plündern und unsere Frauen schänden! Ich bin so loyal, daß ich endlich Kinshasas Soll erfüllen will! Ich will uns den Frieden bringen, nicht den Krieg! Ich will uns Manna bringen, keine Hungersnot! Ich will uns Schulen, Straßen und Krankenhäuser bauen, mit einer Regierung, die für Anstand steht, nicht für Ruin und Korruption! Ich will Kinshasas sämtliche Versprechen halten. Ich will sogar Kinshasa selbst halten!«
* * *
Er gibt uns Hoffnung, Salvo.
Sie küßt meine Augenlider, sie gibt mir Hoffnung. Meine Hände liegen um ihren schön gewölbten Kopf.
Begreifst du nicht, was Hoffnung für die Menschen im Ostkongo bedeutet?
Ich liebe dich.
Diese armen geplagten Seelen im Kongo sind der Schmerzen so müde, daß sie nicht mehr an eine Heilung glauben. Wenn der Mwangaza ihnen neue Hoffnung spenden kann, werden alle für ihn sein. Wenn nicht, wird sich weiter ein Krieg an den anderen reihen, und er wird nichts sein als ein falscher Prophet mehr auf ihrem Pfad zur Hölle.
Dann laß uns beten, daß seine Botschaft bei den Wählern im Kongo auch ankommt, sage ich fromm.
Was für ein Romantiker du bist, Salvo. Solange die jetzige Regierung im Amt ist, können Wahlen gar nicht anders vor sich gehen ab stümperhaft und korrupt. Die Leute, die nicht gekauft sind, werden nach ihrer Stammeszugehörigkeit wählen, die Ergebnisse werden verfälscht werden, und die Spannungen nehmen noch zu. Erst brauchen wir Stabilität und Redlichkeit. Dann können wir Wahlen abhalten. Wenn du dem Mwangaza zugehört hättest, wüßtest du das.
Ich höre lieber dir zu.
Ihre Lippen haben meine Lider verlassen und suchen nach reichhaltigerer Kost.
Und du weißt ja sicher, daß der Unhold einen Zauberstock bei sich zu tragen pflegte, der so schwer war, daß kein Sterblicher ihn heben konnte außer dem Unhold selbst?
Nein, Hannah; dieses historische Kleinod war mir bis jetzt entgangen. Sie spricht von dem erbärmlichen, keineswegs seligen General Mobutu, höchster Herrscher und Zerstörer Zaires und bislang einzig auf der Welt als Gegenstand von Hannahs Haß.
Nun, der Mwangaza hat auch einen Stock. Er begleitet ihn überallhin, genau wie der Stock des Unholds, aber er ist aus einem Holz geschnitzt, das um seiner Leichtigkeit willen ausgewählt wurde. Jeder, der an den Pfad der Mitte glaubt, darf ihn hochheben und fühlen, wie leicht es ist, diesen Weg zu gehen. Und wenn der Mwangaza stirbt, weißt du, was dann mit seinem Zauberstock passiert?
Der Mwangaza humpelt daran in den Himmel, vermute ich schläfrig, mein Kopf auf ihrem Bauch.
Nicht witzeln, Salvo, bitte. Er kommt in ein wunderschönes neues Museum der Einheit, das an den Ufern des Kivusees erbaut werden soll, wo alle ihn ansehen können. Er wird an den Tag erinnern, an dem Kivu der Stolz des ganzen Kongo wurde, einig und frei.
* * *
Und hier ist er. Der Stock. Der Zauberstock des Mwangaza. Er liegt vor uns auf dem grünen Tuch, wie eine Miniaturausgabe des Amtsstabs aus dem Unterhaus. Die Delegierten haben die magischen Zeichen darauf begutachtet und ihn in der Hand gewogen. Für den alten Franco ist er ein bedeutsamer Gegenstand – aber ist es Bedeutsamkeit der richtigen Art? Für Haj ist er eine Ware. Woraus ist er gemacht? Funktioniert er? Bei uns kriegen Sie ihn billiger. Dieudonnés Ausdruck ist weniger leicht zu deuten. Wird er meinem Volk Frieden und Gleichheit bringen? Werden unsere Propheten seine Kräfte gutheißen? Wenn wir um seinetwillen in den Krieg ziehen, beschützt er uns dann vor den Francos dieser Welt?
Maxie hat den Stuhl schräggestellt, um die Beine ausstrecken zu können. Seine Augen sind geschlossen, der Kopf zurückgebogen, die Hände im Nacken gefaltet wie bei einem Sportler, der auf seinen Einsatz wartet. Mein weißgelockter Retter Philip lauscht mit dem ruhigen Lächeln eines Impresarios. Er hat das zeitlose Gesicht mancher englischer Schauspieler, habe ich bei mir beschlossen. Er könnte jede Rolle zwischen fünfunddreißig und sechzig spielen, und das Publikum nähme sie ihm ab. Wenn Tabizi und der Delphin meiner Übersetzung folgen, lassen sie es sich nicht anmerken. Sie kennen die Reden des Mwangaza, wie ich die von André kannte. Dagegen habe ich eine unerwartete Zuhörerschaft in den drei Delegierten gefunden. Nach der flammenden Tirade des Mwangaza auf Swahili kommt ihnen dieses unemotionalere französische Echo für eine zweite Anhörung ganz gelegen. Haj der Studierte lauscht kritisch, Dieudonné gedankenvoll, gleichsam nickend bei jedem der kostbaren Worte. Und Franco lauscht mit geballten Fäusten, bereit, es mit jedem aufzunehmen, der ihm widerspricht.
Der Mwangaza spielt nicht mehr den Demagogen, jetzt kehrt er den Volkswirt hervor. Ich schalte beim Dolmetschen ebenfalls einen Gang herunter. Kivu wird ausgeraubt, verkündet er streng. Er weiß, wieviel Kivu wert ist und um wieviel es geprellt wird. Er hat sämtliche Zahlen parat und wartet, während ich sie auf meinem Block mitschreibe. Ich lächle ihm diskret meinen Dank zu. Er nickt und rattert die Namen der von Ruanda kontrollierten Bergbaugesellschaften herunter, die sich an Kivus Bodenschätzen bedienen. Da die meisten Namen französisch sind, übersetze ich sie nicht mit.
»Warum lassen wir das mit uns machen?« will er zornig wissen, und seine Stimme schwillt wieder an. »Warum schauen wir tatenlos zu, wie unsere Feinde sich an unseren Bodenschätzen eine goldene Nase verdienen, wenn wir sie doch am liebsten hochkant rausschmeißen möchten?«
Er hat eine Landkarte von Kivu. Der Delphin hat sie an der Tafel aufgespannt, und der Mwangaza steht daneben und drischt mit seinem Zauberstock auf sie ein, während seine Wortsalven dahinknattern, immer dicht gefolgt von den meinen, nur daß sie bei mir leiser daherkommen, eine gemäßigtere, leicht abgemilderte Version – was wiederum mich in seinen Augen, wenn schon nicht zum Resistance-Mitglied, so doch zum Zweifler stempelt, der ins Boot geholt werden muß.
Er hört auf zu sprechen, ich auch. Er starrt mich direkt an. Beim Starren zieht er auf bewährte Medizinmänner-Art die Augenmuskeln zusammen, wodurch sein Blick noch visionärer und eindringlicher wirkt. Jetzt sind es nicht mehr meine Augen, die er im Visier hat, es ist meine Haut. Er studiert mein Gesicht, dann, falls da ein Unterschied festzustellen ist, meine Hände: mittel- bis hellbraun.
»Monsieur Interprète!«
»Mwangaza.«
»Kommen Sie vor, mein Junge!«
Für ein paar Schläge mit dem Rohrstock? Damit ich vor versammelter Klasse meine Sünden beichte? Von allen beobachtet, gehe ich den Tisch entlang, bis ich schließlich vor ihm stehe – nur um festzustellen, daß ich ihn um einen ganzen Kopf überrage.
»Und was sind Sie, mein Junge?« fragt er in scherzhaftem Ton, wobei sein Finger erst auf Maxie und Philip zeigt, dann auf die drei schwarzen Delegierten. »Sind Sie einer von uns oder einer von denen?«
Derart in die Enge getrieben, schwinge ich mich zu seinen rhetorischen Höhen auf. »Mwangaza, ich bin einer von allen beiden!« rufe ich ihm auf Swahili entgegen.
Er lacht schallend auf und übersetzt meine Worte an meiner Statt ins Französische. Beifall wird an beiden Enden des Tisches laut, aber die dröhnende Stimme des Mwangaza übertönt ihn mühelos.
»Meine Freunde. Dieser prächtige junge Bursche hier ist ein Symbol für unseren Pfad der Mitte! Nehmen wir uns seine Allumfassendheit zum Vorbild! Nein, nein, nein. Bleiben Sie da, mein Junge, bleiben Sie bitte noch einen Moment hier vorn.«
Er meint es als Ehre, auch wenn es sich nicht so anfühlt. Er nennt mich einen prächtigen jungen Burschen und läßt mich neben ihm stehen, während er mit seinem Zauberstock auf der Landkarte herumprügelt und den Rohstoffreichtum des Ostkongo besingt, und ich darf die Hände hinterm Rücken verschränken und die Worte meines Lehrers ohne die Hilfe meines Stenoblocks dolmetschen, womit ich den Versammelten ganz nebenbei eine Kostprobe meiner Gedächtniskraft liefere.
»Hier in Mwenga: Gold, meine Freunde. Hier in Kamituga: Gold, Uran, Kassiterit, Coltan und – aber nicht weitersagen – Diamanten. Hier in Kabambare: Gold, Kassiterit und Coltan.« Seine Wiederholungen sind beabsichtigt. »Hier Coltan, Kassiterit, und hier« – der Stock hebt sich und fährt etwas unbestimmt in Richtung des Albertsees – »Öl, meine Freunde, unerschlossene und vielleicht unerschöpfliche Mengen unschätzbaren Öls. Und soll ich euch noch etwas verraten? Wir haben ein kleines Wunder hier, von dem kaum jemand weiß, obwohl sich alle die Finger danach abschlecken. Es ist so rar, daß Diamanten dagegen so dicht gesät sind wie Kiesel am Strand. Es nennt sich Kamitugait, meine Freunde, und es besteht zu 56,71 Prozent aus Uran! Nun, was kann irgend jemand auf Gottes Erdboden damit wohl wollen, frage ich mich?«
Er hält inne, während wissendes Gelächter aufbrandet und verebbt.
»Aber nun sagt, wer profitiert von all diesen Reichtümern?«
Wieder wartet er, zu mir emporlächelnd, während ich dieselbe Frage stelle, also lächle ich als Lehrers neuer Liebling auch.
»O gewiß, die Profitgeier in Kinshasa werden ihren Anteil kassieren! Die werden sich ihre dreißig ruandischen Silberlinge nicht entgehen lassen, o nein! Aber sie werden sie nicht in Schulen und Straßen und Krankenhäuser für den Ostkongo stecken, so viel steht fest. In den vornehmen Geschäften von Johannesburg und Nairobi und Kapstadt, da werden diese Silberlinge schon eher ausgegeben. Aber nicht hier in Kivu, o nein!«
Erneute Pause. Und das Lächeln diesmal nicht für mich, sondern für die Delegierten. Dann die nächste Frage.
»Macht jede Lastwagenladung Coltan, die über unsere Grenzen rollt, die Menschen in Kivu reicher?«
Der Zauberstock weist unerbittlich über den Kivu-See nach Osten.
»Wenn das Öl nach Uganda zu fließen beginnt, fließt dann Geld zu den Menschen in Kivu? Meine Freunde, mit jedem Tag, an dem das Öl wegfließt, werden sie ärmer. Dabei sind es unsere Minen, meine Freunde, unser Öl, unsere Schätze, uns von Gott gegeben, auf daß wir sie in seinem Namen pflegen und nutzen! Und es sind keine Brunnen, die von jedem Regen neu gefüllt werden. Was die Diebe uns heute nehmen, wird weder morgen nachwachsen noch an sonst einem Tag.«
Er schüttelt den Kopf, und murmelt noch mehrmals »O nein« ob solch gravierender Ungerechtigkeit.
»Und wer, so frage ich mich, verkauft diese gestohlenen Waren mit so enormem Gewinn, von dem nicht ein Cent an seine rechtmäßigen Besitzer zurückfließt? Die Antwort, meine Freunde, kennt jeder von euch! Die Schieber in Ruanda sind es! Die Geschäftemacher in Uganda und Burundi! Unsere korrupte Regierung ist es, diese ganzen Maulhelden und Profitgeier in Kinshasa, die unser Geburtsrecht an die Ausländer verhökern und uns noch Steuern abknöpfen für ihre Mühe! Danke, mein Junge. Gute Arbeit, Monsieur. Sie dürfen sich setzen.«
Ich setze mich und denke über Coltan nach – nicht hauptamtlich natürlich, der Mwangaza redet schließlich weiter, und ich somit auch – eher in der Art eines Nachrichtentickers, der am unteren Rand des Fernsehschirms durchläuft, während oben die eigentliche Handlung ihren Gang nimmt. Was ist Coltan? Es ist eine ungemein kostbare Substanz, die früher ausschließlich im Ostkongo gewonnen wurde, man frage nur meine im Rohstoffhandel tätigen Klienten. Wer die Dummheit begeht, sein Handy auseinanderzunehmen, der findet unter den Innereien ein allentscheidendes Körnchen davon. Die Vereinigten Staaten hatten jahrzehntelang strategische Coltanvorräte auf Halde liegen, wie meine Klienten auf schmerzhafte Weise erfahren mußten, als das Pentagon es tonnenweise auf den Weltmarkt warf.
Warum hat Coltan in meinem Kopf außerdem noch einen Ehrenplatz inne? Schnitt zurück zu Weihnachten 2000. Bei der Play Station 2, dem unverzichtbaren elektronischen Spielzeug für jedes reiche britische Gör, treten unerhörte Lieferengpässe auf. Mittelschichtseltern sind dem Nervenzusammenbruch nahe, und Penelope auf der Titelseite ihrer großen Zeitung ebenfalls: Wir klagen an: Schande über die Weihnachtsverderber! Doch ihr Zorn richtet sich an die falsche Adresse. Der Engpaß ist nicht durch die Inkompetenz der Hersteller verschuldet, sondern durch eine Welle von Mord und Totschlag, die über den Ostkongo hereingebrochen ist und als eine ihrer Nebenwirkungen den Nachschub an Coltan kurzfristig zum Erliegen gebracht hat.
Wußtest du, daß der Mwangaza Professor für kongolesische Geschichte ist, Salvo? Unsere Geschichte. Er kennt unseren Alptraum bis ins kleinste Detail. Er weiß, wer durch wen umgebracht worden ist, in welcher Anzahl, an welchem Tag, und er hat keine Angst vor der Wahrheit wie so viele von unseren Kleinmütigen.
Und ich bin einer von den Kleinmütigen, aber an diesem nackten grünen Tisch, an dem ich sitze, kann ich mich nirgends verstecken. In welche Gefilde sich der Mwangaza auch vorwagt, ich muß ihm folgen, ohne auch nur eines seiner Worte ausblenden zu können. Noch vor zwei Minuten hat er über Produktionszahlen gesprochen. Jetzt redet er über Völkermord, und auch hier hat er seine Zahlen parat: die der dem Erdboden gleichgemachten Dörfer, die der gekreuzigten oder in Stücke gehackten Dorfbewohner, der auf Verdacht verbrannten Hexen, der Massenvergewaltigungen – das ganze endlose Hin und Her des mörderischen Gemetzels im Ostkongo, das von außen noch geschürt wird, während die internationale Gemeinschaft zetert und ich den Fernseher ausschalte, falls Penelope mir nicht schon zuvorgekommen ist. Und das Sterben geht weiter, jetzt in diesem Moment, während der Mwangaza spricht und ich übersetze. Mit jedem Monat, der verstreicht, sterben achtunddreißigtausend Kongolesen durch die Verheerungen dieser vergessenen Kriege:
»Eintausendzweihundert Tote pro Tag, meine Freunde, sieben Tage die Woche. Heute genauso wie morgen und übermorgen und an jedem Tag, der da kommt.«
Ich werfe einen Blick zu meinen Delegierten hinüber. Sie haben Armesündermienen aufgesetzt. Vielleicht sind ausnahmsweise sie und nicht ich es, die auf Autopilot geschaltet haben. Wer vermag zu sagen, was sie denken, so sie sich überhaupt zum Denken bequemen? Da sitzen sie: drei Afrikaner in der Mittagshitze am Straßenrand, und niemand auf dieser Welt, möglicherweise nicht einmal sie selbst, weiß, was in ihren Köpfen vorgeht. Aber warum behelligt uns der Mwangaza mit solchem Zeug, wo doch die Zeit so knapp ist? Um uns fertigzumachen? Keineswegs. Mut machen will er uns!
»Darum haben wir ein Anrecht, meine Freunde! Wir haben doppelt und dreifach Anspruch! Keine andere Nation mußte solche Heimsuchungen erdulden wie unser geliebtes Kivu. Keine andere Nation braucht die Wiedergeburt so dringend! Keine andere Nation hat ein größeres Recht, ihren Reichtum mit beiden Händen zu ergreifen und ihn seinen Leidenden und Schwachen zu Füßen zu legen und zu sagen: ›Das hier gehört nicht mehr den anderen. Das hier, mein armes Volk – nous misérables de Kivu! –, gehört uns!‹«
Seine gebieterische Stimme könnte die Royal Albert Hall ausfüllen, aber die Frage in unser aller Herzen ist klar genug: Wenn Kivus Reichtümer in die falschen Hände gefallen sind und die Ungerechtigkeiten der Geschichte uns einen Anspruch darauf verleihen, sie uns zurückzuholen, und wenn Kinshasa ein geknicktes Rohr ist und alles aus Kivu ohnehin nach Osten exportiert wird – was bitte schön gedenken wir zu tun?
»Seht sie euch an, meine Freunde, die großen Politiker und Beschützer unserer Nation, und was erblickt ihr? Neue Wege? O ja – ganz neue Wege, unbedingt. Noch nie beschrittene Wege, genauer gesagt. Und die passenden neuen Parteien gleich dazu. Mit höchst poetischen Namen« – des noms très poétiques. » Es gibt so viel neue Demokratie in dieser Hurenstadt Kinshasa« – cette ville de putains! –, »daß ich mich in meinen alten Schuhen schon kaum mehr auf den Boulevard des 30. Juni traue! So viele neue Rednertribünen, auf eure Kosten aus edelsten Hölzern erbaut. So viele prächtig gedruckte zwanzigseitige Manifeste, die bis spätestens Mitternacht nächste Woche Frieden, Wohlstand, medizinische Versorgung und Bildung für alle versprechen. So viele neue Gesetze gegen die Korruption, daß man sich fragt, wer wohl bestochen worden ist, sie alle zu entwerfen.«
Das Gelächter wird angestimmt von dem glatthäutigen Delphin und dem narbengesichtigen Tabizi, und Philip und Maxie fallen ein. Der Lichtbringer wartet streng, bis es wieder verstummt ist. Worauf will er hinaus? Weiß er es selbst? Bei Père André gab es nie einen festen Kurs. Der Mwangaza, auch wenn es mir nur langsam dämmert, steuert genau nach Plan.
»Aber, meine Freunde, seht sie euch noch einmal näher an, unsere nagelneuen Politiker. Biegt die Krempen ihrer Hüte hoch. Laßt ein paar Strahlen von unserer guten afrikanischen Sonne in ihre HunderttausendDollar-Mercedeslimousinen scheinen, und sagt mir,
was ihr seht. Neue Gesichter voller Optimismus? Aufgeweckte junge Hochschulabsolventen, die darauf brennen, ihre Kräfte in den Dienst unserer Republik zu stellen? O nein, meine Freunde, weit gefehlt. Ihr seht genau dieselben altbekannten Gesichter derselben altbekannten Gauner wie zuvor!«
Was hat Kinshasa jemals für Kivu getan, will er wissen. Antwort: nichts. Wo bleibt der Frieden, den Kinshasa predigt, der Wohlstand, die Harmonie? Wo die allumfassende Liebe zu Land, Nachbarn, Gemeinschaft? Er ist durch ganz Kivu gereist, vom Norden bis in den Süden, und hat nicht die kleinste Spur davon entdecken können. Er hat dem Wehklagen der Menschen gelauscht: Ja, wir wollen den Pfad der Mitte, Mwangaza! Wir beten dafür! Wir singen dafür! Wir tanzen dafür! Aber wie, o wie, sollen wir ihn erlangen? Ja, wie? Er ahmt ihr jammervolles Fragen nach. Ich ahme den Mwangaza nach. »Wer wird uns verteidigen, wenn unsere Feinde ihre Truppen gegen uns aussenden, Mwangaza? Du bist ein Mann des Friedens, Mwangaza! Du bist nicht mehr der große Krieger, der du einmal warst. Wer schafft Ordnung bei uns und kämpft an unserer Seite und hilft uns, unsere Kräfte zu vereinen?«
Bin ich wirklich der letzte im Raum, der begreift, daß die Antwort auf diese inniglichen Gebete sich am Kopfende des Tisches lümmelt, die Füße in den abgestoßenen Wüstenstiefeln lässig vor sich ausgestreckt? Anscheinend ja, denn die nächsten Worte des Mwangaza reißen mich so abrupt aus meinen Träumen, daß Haj, der alte Komiker, sich mit großer Geste zu mir umdreht und Stielaugen macht.
»Kein Name, meine Freunde?« schleudert der Mwangaza uns entrüstet entgegen. »Dieses seltsame Syndikat, das uns heute hierhergeschleppt hat, hat keinen Namen? Oh, das ist schlimm! Wo mag er ihnen hingeraten sein? Das ist alles höchst verdächtig und mysteriös! Vielleicht sollten wir alle unsere Brillen aufsetzen und ihnen beim Suchen helfen! Warum in aller Welt sollten ehrbare Leute ihren Namen geheimhalten? Was haben sie zu verbergen? Warum rücken sie nicht einfach mit der Sprache heraus und sagen, wer sie sind und was sie wollen?«
Tief ansetzen, Père André. Tief, und mit langem Atem. Der Spannungsbogen muß tragen. Aber der Mwangaza ist ein alter Hase.
»Ja, meine lieben Freunde«, gesteht er in einem müden Ton, bei dem man ihm am liebsten über die Kreuzung helfen möchte. »Ich habe lange und intensiv mit diesen namenlosen Herren gesprochen, das könnt ihr mir glauben.« Er zeigt auf Philip, ohne in seine Richtung zu sehen. »O ja. Wir haben viele zähe Verhandlungen geführt. Von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang, möchte ich sagen. Harte Verhandlungen, o ja, und so muß es auch sein. Sagen Sie uns, was Sie wollen, Mwangaza, haben die Namenlosen zu mir gesagt. Sagen Sie es uns bitte ohne Schnörkel oder Ausflüchte. Und dann sagen wir Ihnen, was wir wollen. Und dann wird sich zeigen, ob wir ins Geschäft kommen oder ob wir uns die Hand geben und sagen, tut uns leid und auf Wiedersehen, wie es bei Geschäftsverhandlungen üblich ist. Also habe ich es ihnen mit gleicher Münze vergolten« – er spielt geistesabwesend an seinem goldenen Sklavenhalsband herum, eine kleine Erinnerung, daß er nicht käuflich ist –, ›»Meine Herren, was ich will, ist hinlänglich bekannt. Frieden, Wohlstand und Einheit für ganz Kivu. Freie Wahlen, aber erst, wenn Stabilität hergestellt ist. Doch der Frieden, auch das ist hinlänglich bekannt, kommt nicht von allein, und die Freiheit auch nicht. Der Frieden hat Feinde, der Frieden muß mit dem Schwert erstritten werden. Damit der Frieden Wirklichkeit wird, müssen wir unsere Kräfte bündeln, unsere Minen und Städte zurückerobern, die Eindringlinge vertreiben und eine vorläufige Regierung von ganz Kivu ausrufen, die den Grundstein für einen echten, dauerhaften demokratischen Sozialstaat legt. Aber wie sollen wir das aus eigener Kraft erreichen, meine Herren? Wir sind gelähmt von innerem Zwist. Unsere Nachbarn sind stärker als wir, und gerissener.‹«
Drohend stiert er zu Franco und Dieudonné hin, wie um dieses ungleiche Paar durch seine Blicke zum Schulterschluß zu zwingen, während er seine Geschäftsverhandlungen mit den namenlosen Herren fortsetzt.
»›Damit unser Vorhaben gelingen kann, brauchen wir Ihre Logistik, meine Herren. Wir brauchen Ihre Ausrüstung und Ihr Know-how. Ohne diese Dinge wird der Frieden für mein geliebtes Kivu für immer ein Wunschtraum bleiben.‹ So habe ich zu den Namenlosen gesprochen. Genau dies waren meine Worte. Und die Namenlosen, sie haben mir aufmerksam zugehört, wie es sich geziemt. Und schließlich antwortete einer für alle, und ich darf euch bis zum heutigen Tag seinen Namen nicht nennen, aber ich versichere euch, er sitzt nicht in diesem Raum, obwohl er ein bewährter Freund unserer Nation ist. Und dies sind seine Worte: ›Was Sie vorschlagen, ist schön und gut, Mwangaza. Wir mögen Geschäftsleute sein, aber wir haben auch eine Seele. Das Risiko ist groß, die Kosten hoch. Wenn wir Ihr Vorhaben unterstützen, wer garantiert uns, daß wir nicht mit leeren Taschen und blutigen Nasen nach Hause kehren?‹ Und wir auf unserer Seite erwidern: ›Wer unseren großen Kampf mit uns kämpft, der wird auch am Siegespreis teilhaben.‹«
Seine Stimme wird noch leiser, aber er kann es sich leisten. Auch meine Stimme senkt sich. Ich könnte in die vorgehaltene Hand flüstern, und sie würden mich dennoch hören.
»Der Teufel, so lautet der Spruch, hat viele Namen, meine Freunde, und mittlerweile kennen wir Kongolesen die meisten davon. Aber dieses Syndikat hat gar keinen. Es heißt nicht das Belgische Weltreich oder das Spanische Weltreich oder das Portugiesische Weltreich oder das Britische Weltreich oder das Französische Weltreich oder das Niederländische Weltreich oder das Amerikanische Weltreich oder auch das Chinesische Weltreich. Dieses Syndikat heißt Nichts mit Namen. Es ist ein Niemands-Syndikat. Niemands Name, das bedeutet auch niemands Flagge. Das Niemands-Syndikat wird uns zu Wohlstand und Einigkeit verhelfen, aber weder wir noch unser Volk werden ihm gehören. Mit dem Niemands-Syndikat wird Kivu zum erstenmal sich selbst gehören. Und wenn dieser Tag gekommen ist, gehen wir zu den Profitgeiern in Kinshasa und sagen zu ihnen: ›Guten Morgen, liebe Profitgeier. Wie geht es euch heute? Verkatert wie immer, vermutlich?‹«
Kein Lachen, kein Lächeln. Er hat uns am Wickel.
›»Tja, ihr guten Profitgeier, wir haben eine frohe Botschaft für euch. Kivu hat sich von allen ausländischen Eindringlingen und Ausbeutern befreit. Die braven Bürger von Bukavu und Goma haben sich gegen ihre Unterdrücker erhoben und uns mit offenen Armen empfangen. Die Stellvertreterarmeen aus Ruanda sind geflohen, und die génocidaires mit ihnen. Kivu hat seine Minen wieder in Besitz genommen und sie zum Allgemeingut erklärt, wie es sein soll. Die Produktion und Verteilung von Gütern liegt in einer Hand, und das ist die Hand des Volkes. Wir exportieren nicht mehr alles nach Osten. Wir haben andere Handelswege aufgetan. Aber wir sind außerdem Patrioten, und wir glauben an die Einheit der Demokratischen Republik Kongo im gesetzmäßigen Rahmen unserer Verfassung. Hier habt ihr unsere Bedingungen, liebe Profitgeier – eins, zwei, drei, nehmt an oder laßt es bleiben! Denn wir kommen nicht zu euch, ihr Profitgeier. Ihr kommt zu uns!‹«
Er setzt sich und schließt die Augen. Père André hat es genauso gemacht. Seine Worte hallten länger nach auf diese Weise. Nachdem auch ich zum Ende gekommen bin, gestatte ich mir einen diskreten Blick um den Tisch, um die Reaktionen unserer Delegierten auszuloten. Große Reden können Ressentiments auslösen. Je mehr die Zuhörer sich haben mitreißen lassen, desto heftiger stemmen sie hinterher die Fersen ein. Der zappelige Haj hat mit dem Zappeln aufgehört und begnügt sich mit einer Folge von Grimassen. Der zaundürre Dieudonné drückt sich in meditativer Versunkenheit die Fingerspitzen an die Stirn. Schweißtröpfchen haben sich an den Rändern seines Bartes gebildet. Franco neben ihm betrachtet konzentriert etwas auf seinem Schoß, einen Fetisch, argwöhne ich.
Philip bricht den Bann. »Gut, wer gibt uns die Ehre und macht den Anfang?« Dazu ein vielsagender Blick auf die Bahnhofsuhr, denn die Zeit, wie wir nur zu gut wissen, ist begrenzt.
Aller Augen richten sich auf Franco, unseren Alterspräsidenten. Er stiert finster auf seine großen Pranken. Er hebt den Kopf.
»Als es mit Mobutus Macht zu Ende ging, standen die Mai Mai mit pangas, Pfeilen und Lanzen bereit, um unser geheiligtes Territorium zu beschützen«, verkündet er in stockendem Swahili. Kampflustig blickt er in die Runde, falls jemand Widerspruch wagen sollte. Von niemandem ein Mucks. Er fährt fort. »Die Mai Mai haben gesehen, was war. Nun werden wir sehen, was kommt. Gott wird uns beschützen.«
Der nächste in der Rangfolge ist Dieudonné.
»Damit die Banyamulenge überleben können, müssen wir Föderalisten werden«, erklärt er, direkt an seinen Nachbarn Franco gewandt. »Wenn ihr uns unsere Rinder stehlt, sterben wir. Wenn ihr unsere Schafe tötet, sterben wir. Wenn ihr uns unsere Frauen raubt, sterben wir. Wenn ihr uns unser Land nehmt, sterben wir. Warum kann das Hochland, auf dem wir leben und unsere Felder bestellen und mit unserem Gott sprechen, nicht uns gehören? Warum können wir nicht die Hoheit über unser eigenes Gebiet haben? Warum muß unser Leben der Anführerschaft weit entfernter Stämme unterstehen, die uns unseren Status verweigern und ihrem Willen unterwerfen?« Er wendet sich an den Mwangaza. »Die Banyamulenge glauben genauso an den Frieden wie du. Aber niemals werden wir unser Land aufgeben.«
Die Augen des Mwangaza bleiben geschlossen, dieweil der glatte Delphin sich der implizierten Frage annimmt.
»Der Mwangaza ist ebenfalls Föderalist«, sagt er sanft. »Der Mwangaza besteht nicht auf Integration. Die Verfassung, so wie er sie vorschlägt, wird die Stammessouveränität der Banyamulenge und ihre Ansprüche auf ihr Land in aller Form anerkennen.«
»Und das Mulenge-Hochland wird zum autonomen Gebiet erklärt werden?«
»Ja, das wird es.«
»In der Vergangenheit hat Kinshasa uns dieses gerechte Gesetz verweigert.«
»Der Mwangaza ist ein Mann der Zukunft, nicht der Vergangenheit. Ihr werdet euer gerechtes Gesetz erhalten«, erwidert der treue Delphin, worauf der alte Franco einen Laut ausstößt, der wie ein Hohnschnauben klingt, aber vielleicht räuspert er sich auch nur. Im selben Augenblick schnellt Haj, einem zeitverzögerten Springteufel gleich, in seinem Stuhl hoch und glupscht mit wildem Blick in die Runde.
»Wir reden also von einem Coup, sehe ich das richtig?« sagt er in dem schrillen, herrischen Französisch eines Pariser Intellektuellen. »Frieden, Wohlstand, Gleichberechtigung. Aber wenn wir das Gesülze weglassen,
heißt das schlicht Machtergreifung. Heute Bukavu, morgen Goma, Ruander raus, scheiß auf die UNO, und Kinshasa kann uns am Arsch lecken.«
Ein verdeckter Blick auf die Versammelten bestätigt meinen Verdacht: Unsere Konferenz hat einen Kulturschock erlitten. Als wären die Kirchenältesten zu einem feierlichen Konklave zusammengekommen, und plötzlich schlendert dieser aufgeputzte Ketzer von der Straße herein und will wissen, worüber die alten Knacker da schwafeln.
»Ich meine, ist das nicht ein bißchen viel des Guten?« will Haj wissen und breitet theatralisch die Handflächen aus. »Goma hat Probleme, fragen Sie meinen Vater. Goma hat die Ware, die Ruander haben die Kohle und die Kontakte. Unschön. Aber Bukavu ist nicht Goma. Seit letztes Jahr die Soldaten gemeutert haben, ziehen die Ruander in Bukavu die Schwänze ein. Und unsere Stadtverwaltung haßt die Ruander wie kaum jemand sonst.« Er wirft die Hände hoch, Handflächen nach oben gekehrt in einer gallischen Geste der Resignation. »Ich frage ja bloß.«
Aber er fragt nicht den Mwangaza, er fragt mich. Seine Glupschaugen mögen den Tisch entlangwandern oder respektvoll auf dem großen Manne verweilen, aber kaum beginne ich mit dem Übersetzen, kehrt sein Blick zurück zu mir und bleibt auch dann noch, als ich längst zu reden aufgehört habe. Ich warte darauf, daß der Mwangaza die Herausforderung annimmt, und wenn nicht er, dann der Delphin, aber wieder einmal ist es der zungenfertige Philip, der eingreift und ihnen aus der Klemme hilft.
»Das ist heute, Haj«, erklärt er, altersmild. »Es ist nicht gestern. Und wenn die Geschichte uns irgend etwas lehrt, dann dürfte es eigentlich auch nicht morgen sein. Muß der Pfad der Mitte das Chaos nach den Wahlen und den nächsten ruandischen Einfall abwarten, ehe er die Voraussetzungen für einen starken und dauerhaften Frieden schafft? Oder tut der Mwangaza nicht besser daran, Zeit und Ort selbst zu bestimmen, was die Auffassung Ihres geschätzten Vaters ist?«
Haj zuckt die Achseln, reckt die Arme, grinst, wiegt ungläubig den Kopf Philip läßt ihm einen Moment Zeit, um zu antworten, aber der Moment ist kaum um, da hebt er schon die Tischglocke, schüttelt sie ein wenig und kündigt eine kurze Pause an, während derer unsere Delegierten ihre Positionen überdenken können.