3
Stört es Sie, wenn ich das Fenster aufmache?« rief ich Fred zu, meinem weißen Chauffeur.
Der Mondeo schlängelte sich geübt durch den dichten Freitagabendverkehr, und ich, in seine Polster zurückgelehnt, durchlebte Befreiungsgefühle, die schon fast an Euphorie grenzten.
»Kein Thema, Mann«, erwiderte er markig, aber mein geschärftes Ohr hörte unter dem kumpelhaften Ton einen Hauch von Public-School-Akzent heraus. Fred war in meinem Alter und ein furioser Fahrer. Ich mochte ihn jetzt schon. Die Scheibe glitt hinunter, und warme Nachtluft strömte mir entgegen.
»Haben Sie eine Ahnung, wo’s hingeht, Fred?«
»South Audley Street, unteres Ende.« Und in der Annahme, meine Besorgnis gelte seinem Fahrstil, was nicht der Fall war: »Keine Sorge, ich liefere Sie heil ab.«
In Sorge war ich nicht, aber doch leicht verunsichert. Meine Begegnungen mit Mr. Anderson hatten sich bislang alle im Hauptquartier seines Ministeriums in Whitehall abgespielt, in einem mit üppigen Teppichen ausgelegten Verlies am Ende eines Labyrinths von grüngestrichenen Backsteinkorridoren, in denen käsige Hausmeister mit Walkie-Talkies patrouillierten. Getönte Photographien von Mr. Andersons Frau, Töchtern und Spaniels hingen an den Wänden, im Wechsel mit goldgerahmten Urkunden, die er mit seiner anderen großen Liebe errungen hatte, der Chorgemeinschaft Sevenoaks. Zwischen ebendiesen vier Wänden hatte er mir seinerzeit nach einer Reihe von »Testinterviews« durch ein geheimnisvolles »Sprachprüfungskomitee«, zu denen ich durch ein streng vertrauliches Schreiben bestellt worden war, die beeindruckende Vielfalt der Strafen enthüllt, die auf den Verrat von Staatsgeheimnissen standen. Es war eine Predigt, die er schon hundertmal gehalten haben mußte, und im Anschluß präsentierte er mir ein gedrucktes Formular, auf dem mein Name sowie Geburtsdatum und Geburtsort bereits per Computer eingetragen waren, und nahm mich, während ich unterschrieb, über seine Lesebrille hinweg nochmals gesondert ins Gebet.
»Daß Sie mir aber nicht übermütig werden, mein Junge«, ermahnte er mich in einem Ton, der mich unwiderstehlich an Pater Michael erinnerte. »Sie sind ein schlaues Bürschchen, der spitzeste Bleistift im Kästchen, wenn alles, was mir berichtet wird, stimmt. Sie beherrschen einen Haufen ulkiger Sprachen aus dem Effeff und haben einen exzellenten Ruf, den ein Dienst von unserem Format nicht so einfach übergehen kann.«
Ich wußte nicht genau, auf welchen Dienst welchen Formats er anspielte, aber er hatte mir bereits mitgeteilt, daß er ein hochrangiger Beamter der Krone sei und daß mir das zu genügen habe. Und ich fragte ihn auch nicht, welche meiner Sprachen er denn als ulkig betrachtete, wozu ich mich vielleicht hätte hinreißen lassen, wenn ich nicht in anderen Sphären geschwebt hätte – denn vereinzelt kommt selbst mir die Ehrerbietigkeit abhanden.
»Das macht Sie allerdings nicht zum Nabel der Welt, also bilden Sie sich das gütigst auch nicht ein«, fuhr er fort, immer noch in bezug auf meine Qualifikationen. »Sie werden ein TA sein, also ein Teilzeitassistent, und niedriger geht’s nicht. Sie gehören zur Truppe, aber Sie spielen im kleinen Haus, und da werden Sie bleiben, es sei denn, Sie bekommen ein Festengagement. Was nicht heißen soll, daß in den kleinen Häusern nicht oft die besten Aufführungen stattfinden, denn das tun sie. Bessere Stücke und bessere Schauspieler, sagt meine Frau Mary, und die muß es wissen. Verstehen Sie, was ich Ihnen sagen will, Salvo?«
»Ich glaube schon, Sir.«
Ich sage zu oft »Sir«, und das weiß ich auch, genau wie ich als Kind zu oft Mzee gesagt habe. Aber im Herz-Jesu-Heim war jeder, der kein Pater war, ein Sir.
»Dann wiederholen Sie mir doch bitte, was ich Ihnen gerade gesagt habe, damit wir beide ganz klarsehen«, schlug er vor – genau die Taktik, derer sich später auch Hannah bediente, um Jean-Pierre ihre Hiobsbotschaft beizubringen.
»Ich soll auf dem Boden bleiben. Nicht zu …«, fast hätte ich »enthusiastisch« gesagt, aber ich bremste mich gerade noch rechtzeitig, »… nicht übereifrig werden.«
»Sie sollen dieses Glühen aus Ihrem Auge verbannen, mein Junge. Von nun an und allezeit. Denn wenn ich das noch einmal bei Ihnen sehe, muß ich mir Sorgen um Sie machen. Wir sind Gläubige, aber wir sind keine Fanatiker. Von Ihren ungewöhnlichen Gaben einmal abgesehen, ist das, was wir Ihnen hier anbieten,
ganz normale dröge Brotarbeit, ein Job, wie Sie ihn an einem x-beliebigen verregneten Nachmittag für einen x-beliebigen Auftraggeber ausführen würden, nur eben mit Königin und Nation im Blick, was Ihnen und mir viel wert ist.«
Ich versicherte ihm – sorgfältig darauf bedacht, nicht übereifrig zu wirken –, daß Vaterlandsliebe auf meiner persönlichen Hitliste ganz oben stand.
»Gut, ein paar andere Unterschiede gibt es natürlich auch noch«, fuhr er fort, wie um einen Einwand zu entkräften, den ich nicht gemacht hatte. »Zum Beispiel, daß Sie von uns so gut wie keine Hintergrundinformationen bekommen werden, bevor Sie Ihren Kopfhörer aufsetzen. Sie werden nicht wissen, wer mit wem spricht, oder wo, oder worüber, oder wie wir an das Gespräch gekommen sind. Jedenfalls nicht, wenn wir es verhindern können, weil das nämlich fahrlässig wäre. Und sollten Sie dennoch so Ihre kleinen Vermutungen haben, rate ich Ihnen dringend, sie für sich zu behalten. Dazu haben Sie sich verpflichtet, Salvo, das ist mit geheim gemeint, und in der Sekunde, in der wir Sie bei einem Verstoß gegen die Regeln erwischen, sind Sie nicht nur draußen, Sie haben auch ein schwarzes Kreuz hinter Ihrem Namen. Und unser Schwarz läßt sich nicht so leicht wegwaschen wie das anderer Leute«, schob er mit Genugtuung nach, und ich tat mich schwer, darin keine unbewußte Anspielung auf meine Hautfarbe zu sehen. »Falls Sie also dieses Blatt Papier zerreißen und vergessen möchten, daß Sie jemals hier waren – jetzt ist Ihre letzte Chance dazu.«
Worauf ich schluckte und so leichthin wie möglich sagte: »Nein, Sir. Ich bin dabei – wirklich«, und er mir die Hand schüttelte und mich willkommen hieß in der ehrenwerten Gemeinschaft der Tondiebe, wie er sie nannte.
* * *
Ich sollte gleich dazusagen, daß Mr. Andersons Dämpfer nicht lange vorhielt. Droge Brotarbeit? Der Chatroom?! Dieser unterirdische Hochsicherheitsbunker mit seinen vierzig schalldichten Kabinen, wo der fesche Barney, unser Boß mit den bunten Westen, von einer Galerie aus über uns wacht? Und wo uns Mädchen in Jeans unsere Tonbänder und Verschriftungen und, politisch höchst unkorrekt, auch unseren Tee holen und bringen, während ich einen hochrangigen Acholi-sprechenden Angehörigen der ugandischen Lord’s Resistance Army dabei belausche, wie er per Satellitentelefon über die Errichtung einer Basis im benachbarten Ostkongo verhandelt, um im nächsten Moment hinübergeschaltet zu werden in die Hafenanlagen von Daressalam, wo im Hintergrund Frachter beladen werden und Händler ihre Waren anpreisen und im Vordergrund ein wackeliger Tischventilator mal lauter und mal leiser summt, während er die Fliegen von einem Haufen blutrünstiger Islamismussympathisanten fernhält, die ein Arsenal von Flugabwehrraketen als Baumaschinen getarnt ins Land schmuggeln wollen? Oder um noch am selben Nachmittag zum einzigen Ohrenzeugen eines Trios von korrupten ruandischen Armeeoffizieren zu werden, die mit einer chinesischen Delegation über den Preis gestohlener kongolesischer Bodenschätze feilschen? Oder sich in der Limousine eines kenianischen Politbonzen durch das Hupengeplärr auf den Straßen Nairobis chauffieren zu lassen, während der hohe Herr eine fette Bestechungssumme dafür einstreicht, daß er einen indischen Bauunternehmer fünfhundert Meilen neugebauter Straßen mit einer einzelnen papierdünnen Asphaltschicht teeren läßt, die unter Garantie mindestens zwei Regenzeiten überdauern wird? Von wegen Brotarbeit, Mr. Anderson. Tempeldienst wäre noch untertrieben!
Aber ich ließ niemanden das Glühen in meinem Auge sehen, nicht einmal Penelope. Wenn du nur wüßtest! dachte ich bei mir, wenn sie mich wieder einmal vor ihrer Busenfreundin Paula herunterputzte oder zu einer ihrer Wochenendkonferenzen aufbrach, an denen außer ihr niemand teilzunehmen schien und von denen sie immer ganz in sich gekehrt zurückkam, still und zufrieden vom vielen Konferieren. Wenn du nur wüßtest, daß dein kleiner schwarzer Lustknabe auf der Gehaltsliste des britischen Geheimdiensts steht!
Aber ich wurde nie schwach. Schnelle Befriedigung war meine Sache nicht. Ich erfüllte meine Pflicht am Vaterland.
* * *
Unser Ford Mondeo hatte den Berkeley Square umfahren und bog in die Curzon Street ein. Kurz nach dem Kino hielt Fred am Bordstein an und beugte sich über die Rücklehne zu einem kleinen Tête-à-tête unter Spionen.
»Da drüben ist es, Kumpel«, sagte er gedämpft und neigte den Kopf in die Richtung, ohne mit dem Finger hinzuzeigen, falls wir beobachtet wurden. »Die Zweiundzwanzig b, grüne Tür auf der linken Seite, hundert Meter von hier. Oberste Klingel, Harlow, wie die Stadt. Sagen Sie, Sie hätten ein Paket für Harry.«
»Ist Barney auch dort?« fragte ich, von jäher Nervosität gepackt ob der Vorstellung, Mr. Anderson in ungewohnter Umgebung ganz allein gegenübertreten zu müssen.
»Barney? Wer ist Barney?«
Zerfallen mit mir, weil ich überflüssige Fragen stellte, trat ich auf den Gehsteig hinaus. Ein Hitzeschwall schlug mir entgegen. Ein kurvenfahrender Radler mähte mich um ein Haar um und fluchte. Fred brauste davon und ließ mich mit einem Gefühl des Verwaistseins zurück. Ich überquerte die Straße und bog in die South Audley Street ein. Die Zweiundzwanzig b gehörte zu einer Reihe von roten Backsteinhäusern mit sehr steilen Eingangstreppen. Ein trübes Lämpchen beleuchtete sechs Klingelschilder. Auf dem obersten stand mit verblaßter Tinte HARLOW, wie die Stadt. Als ich den Knopf drücken wollte, fand ich mich von zwei höchst kontroversen Bildern bedrängt. Das eine zeigte mir Penelopes Kopf keine zwanzig Zentimeter von Thorne the Horns Hosenstall entfernt, den Blick anhimmelnd zu ihm emporgehoben über den aus ihrem neuen Designertop hervorzwinkernden Brüsten. Und das andere zeigte mir Hannahs stumm sich bewegende Lippen, ihre geweiteten Augen, die ohne einen Lidschlag in meine blickten, während sie auf dem Schlafsofa ihrer klösterlichen Zelle noch die letzten Tropfen meiner Manneskraft aus mir herauspreßte.
»Paket für Harry«, rief ich, und die magische Tür öffnete sich.
* * *
Über Mr. Andersons Äußeres habe ich bisher nichts gesagt, außer daß er Pater Michael ähnelt. Wie Michael ruht er ganz und gar in sich: ein Bär von einem Mann, seine Gesichtszüge so solide wie Lavagestein, jede Regung ein Ereignis. Wie Michael ist er seinen Leuten ein Vater. Man möchte ihn auf Ende Fünfzig schätzen – und mag sein, daß er gestern noch ein schneidiger junger Bursche war, und mag sein, daß er morgen schon auf dem Abstellgleis landet, aber beides wirkt gleich weit entfernt. Er ist die personifizierte Rechtschaffenheit, der Eichbaum, den kein Sturm umblasen kann, das Mark Englands. Selbst wenn er nur durchs Zimmer geht, scheint jeder seiner Schritte moralische Rechtfertigung für seine sämtlichen Handlungen. Auf sein Lächeln wartet man eine halbe Ewigkeit, aber wenn es kommt, fühlt man sich Gott näher.
Mehr noch aber macht ihn für mich, wie immer, die Stimme aus: die wohlgezügelten Tempi des Sängers, die sorgfältig gesetzten Pausen, die ihren Zweck nie verfehlen, die kernige nordenglische Kaminfeuer-Gemütlichkeit. Im Chor von Sevenoaks, so hat er mir mehr als einmal erzählt, ist er die Stütze des ersten Basses. In jüngeren Jahren hat er Tenor und Altus gesungen und mit einer Profikarriere geliebäugelt, doch sein Dienst war das stärkere Band. Auch jetzt war seine Stimme der beherrschende Eindruck, als ich über die Schwelle trat. Vage war ich mir noch anderer Geräusche und Gestalten in der Nähe bewußt. Ich sah ein offenes Schiebefenster und sich blähende Stores; offenbar ging hier oben eine Brise, was auf Straßenniveau entschieden nicht der Fall gewesen war. Aber all dies trat zurück hinter der hochaufgerichteten Silhouette Mr. Andersons dort am Fenster und dem heimelig-rauhen Tonfall, mit dem er in sein Handy sprach.
»Er muß jede Minute hier sein, Jack, danke«, sagte er gerade, als stünde ich nicht knapp zwei Meter vor ihm. »Wir schicken ihn postwendend los, Jack – aber schneller nicht.«
Pa u s e. »G a n z r i c h t i g. Sinclair.« Aber Sinclair war nicht der Mann am anderen Ende der Leitung. Nein, Sinclair war Der Mann. »Das ist ihm völlig klar, Jack. Und ich mache es ihm noch mal klarer, wenn er kommt« – jetzt sah er mich direkt an, immer noch ohne ein Wort zu mir –, »nein, er ist kein Neuer. Er hat schon einiges für uns gemacht, und ich gebe euch mein Wort, er ist der Mann für euch. Alle Sprachen von Babylon, in höchstem Maße fähig und durch und durch loyal.«
Konnte das allen Ernstes ich sein, von dem er da sprach – in höchstem Maße fähig, durch und durch loyal? Aber ich riß mich zusammen. Ich verbannte das Glühen aus meinem Auge.
»Und nicht vergessen, Jack, seine Versicherung wird von euch übernommen, nicht von uns. Sämtliche Risiken, wenn ich bitten darf, inklusive Krankheitsfall im Feld und Rückführung ins Vaterland auf schnellstmöglichem Wege. Keine Spur führt zu uns zurück. Wir sind da, wenn ihr uns braucht, Jack. Aber denken Sie dran, jeder Anruf hier heißt, daß die Sache sich länger hinzieht. Ah, ich glaube, da kommt er die Treppe herauf. Also dann, Salvo.« Er hatte aufgelegt. »Nun hören Sie mir gut zu, mein Junge. Uns bleibt sehr wenig Zeit für sehr viel Erwachsenwerden. Unsere reizende Bridget hier wird Sie einkleiden. Hübscher Smoking, den Sie da tragen, zu schade, daß Sie ihn ausziehen müssen. Auf dem Smokinggebiet hat sich doch einiges getan, muß man sagen, seit ich ein junger Mann war. Beim Jahresball des Gesangvereins hatten wir die Wahl zwischen Schwarz und Schwarz. Dunkelrot wie Sie trugen nur die Kapellmeister. Sie haben Ihrer Frau alles brühwarm erzählt, nehme ich an? Ein hochgeheimer Auftrag von nationaler Wichtigkeit, der sich über Nacht ergeben hat, stimmt’s?«
»Nicht ein Wort, Sir«, erwiderte ich fest. »Sie wollten, daß ich nichts sage, also habe ich nichts gesagt. Ich habe ihn mir extra für ihren großen Abend gekauft«, fügte ich hinzu, denn Hannah hin oder her war es mir doch ein Bedürfnis, mir seinen Glauben an meine eheliche Treue zu bewahren, bis die Zeit reif war, ihn von meinen veränderten Lebensumständen in Kenntnis zu setzen.
Die Frau, die er unsere reizende Bridget nannte, hatte sich vor mir aufgebaut und musterte mich, eine lackierte Fingerspitze an die Lippen gedrückt. Sie trug Perlohrringe und Designerjeans, die ein paar Preisklassen über ihrer Gehaltsstufe angesiedelt sein mußten, und ließ die Hüften im Rhythmus ihrer stummen Erwägungen kreisen.
»Welche Bundweite haben Sie, Salv? Wir haben Sie auf zweiunddreißig geschätzt.«
»Eher dreißig.« Hannah hatte mich zu dünn gefunden.
»Und Ihre Schrittlänge, falls Sie die auch wissen?«
»Zweiunddreißig, als ich das letzte Mal hingeguckt habe«, gab ich zurück, im gleichen frotzelnden Ton wie sie.
»Kragen?«
»Neununddreißig.«
Sie verschwand einen Gang hinunter, und ich stand da, verwirrt von einem jäh aufzüngelnden Verlangen nach ihr, bis mir klar wurde, daß es nur der Nachklang meines Verlangens nach Hannah war.
»Auf Sie wartet ein kleiner Fronteinsatz, mein Junge«, verkündete Mr. Anderson in gewichtigem Ton, wobei er das Handy zurück in die äußere Brusttasche steckte. »Kein gemütliches Rumsitzen mehr in einer bequemen Kabine, während Sie aus sicherer Entfernung in die Welt hinauslauschen. Jetzt sollen Sie ein paar von den Schurken in natura treffen und ganz nebenbei Ihrem Vaterland einen Gefallen tun. Sie haben doch nichts gegen einen kleinen Identitätswechsel, hoffe ich? Jeder Mensch möchte an irgendeinem Punkt seines Lebens einmal jemand anderes sein, habe ich mir sagen lassen.«
»Nicht das geringste, Mr. Anderson. Nicht, wenn Sie sagen, daß es notwendig ist. Jederzeit.« Ich war schon einmal in den letzten vierundzwanzig Stunden ein anderer geworden, da würde ein zweites Mal kaum groß ins Gewicht fallen. »Und vor wem retten wir die Welt diesmal?« erkundigte ich mich betont salopp, um meine Aufgeregtheit zu kaschieren. Aber zu meiner Überraschung nahm Mr. Anderson meine Frage ernst und brütete ein Weilchen darüber nach, bevor er mit einer Gegenfrage antwortete.
»Salvo.«
»Mr. Anderson?«
»Hätten Sie große Skrupel, sich für eine gute Sache die Finger schmutzig zu machen?«
»Ich dachte, das tue ich längst – gewissermaßen, meine ich natürlich nur«, verbesserte ich mich hastig.
Zu spät. Mr. Andersons Stirn hatte sich umwölkt. Er hielt sich viel zugute auf die moralische Integrität des Chatroom und sah sie höchst ungern in Zweifel gezogen, schon gar von mir.
»Bis jetzt, Salvo, haben Sie einen zwar wesentlichen, aber defensiven Beitrag zum Wohle unserer bedrängten Nation geleistet. Vom heutigen Abend an werden Sie den Kampf hinter die Linien des Feindes tragen. Sie werden aufhören, defensiv zu sein, und statt dessen« – er suchte nach dem treffenden Ausdruck – »proaktiv werden. Spüre ich da ein Zögern Ihrerseits, diesen Schritt zu tun?«
»Keineswegs, Mr. Anderson. Nicht, wenn es für einen guten Zweck ist, wie Sie es ja bereits gesagt haben. Solange es nur die zwei Tage sind«, fügte ich im Gedenken an meine Lebensentscheidung hinsichtlich Hannah hinzu, die ich ohne Zeitverlust umzusetzen gedachte. »Oder im Höchstfall drei.«
»Ich muß Sie allerdings warnen, daß Sie von dem Moment an, da Sie dieses Gebäude verlassen, für die Regierung Ihrer Majestät nicht mehr existieren. Wenn Sie aus irgendeinem Grund enttarnt werden sollten, werden wir Sie eiskalt Ihrem Schicksal überlassen. Ist das bei Ihnen angekommen, mein Junge? Sie schauen ein bißchen entrückt, wenn ich das so sagen darf.«
Bridget hatte begonnen, mich mit ihren schlanken, gepflegten Fingern aus der Smoking jäcke zu schälen, nicht ahnend, daß nur eine Schädelwand von ihr entfernt Hannah und ich fast vom Schlafsofa fielen, während wir einander die restlichen Kleider vom Leib rissen und uns zum zweiten Mal liebten.
»Angekommen und angenommen, Mr. Anderson«, reimte ich munter, wenn auch etwas verspätet. »Um welche Sprachen geht es? Reden wir über Fachvokabular? Soll ich vielleicht auf einen Sprung nach Battersea zurückfahren, solange ich noch freie Bahn habe, und mir ein paar Wörterbücher greifen?«
Mein Anerbieten war offensichtlich nicht nach seinem Geschmack, denn er spitzte die Lippen. »Darüber werden Ihre vorübergehenden Auftraggeber zu befinden haben, danke, Salvo. Wir haben weder nähere Einsicht in ihre Pläne, noch wünschen wir es.«
Bridget führte mich zu einem muffigen kleinen Schlafzimmer, kam aber nicht mit herein. Auf dem ungemachten Bett waren zwei Paar gebrauchte Flanellhosen ausgelegt, drei Secondhand-Hemden, eine Auswahl an Unterwäsche, die schwer nach Heilsarmee aussah, Socken und ein Ledergürtel, von dessen Schnalle das Chrom abblätterte. Und darunter auf dem Boden drei Paar Schuhe in verschiedenen Stadien der Abgenutztheit. Über einem Bügel an der Tür hing ein schäbiges Sportsakko. Als ich meinen Abendanzug auszog, wurde ich wieder mit einem Hauch von Hannahs Duft belohnt. In ihrem winzigen Kämmerchen hatte es kein Waschbecken gegeben. Die Badezimmer auf der anderen Seite des Ganges waren von Krankenschwestern belegt gewesen, die sich für ihre Schicht fertigmachten.
Von den Schuhen paßten die am wenigsten scheußlichen am schlechtesten. Ich entschied mich trotzdem für sie, ein verfehlter Sieg der Eitelkeit über die Vernunft. Das Sportsakko war aus brettsteifem HarrisTweed mit Achseln aus Eisen: Schultern nach vorn, und der Kragen sägte mir im Nacken; Schultern zurück, und er nahm mich in den Würgegriff. Eine Strickkrawatte aus olivgrünem Nylon vervollständigte das trostlose Ensemble.
Und an diesem Punkt, wenn auch nur minutenlang, sank meine Stimmung, denn ich bekenne offen meine Liebe zu modischer Eleganz, meine Freude an Wirkung, Farbe, Schick – zweifellos die Gene meiner kongolesischen Mutter. Ein Blick in meinen Aktenkoffer an einem x-beliebigen Arbeitstag, und was findet sich da, zwischen eidesstattliche Versicherungen, Hintergrundinformationen und Abschiebungsanordnungen gebettet? Hochglanzbroschüren der weltweit kostspieligsten Herrenausstatter, voll mit Kleidungsstücken, für die ich in einem Dutzend Leben nicht das Geld verdienen könnte. Und jetzt? Was für ein Anblick! Als ich ins Wohnzimmer zurückkam, war Bridget damit beschäftigt, auf einem Schreibblock ein Inventar meiner Habseligkeiten anzulegen: ein ultramodernes Mobiltelefon – Slimline-Version, gebürsteter Stahl mit ausklappbarer Kamera –, ein Schlüsselbund, ein Führerschein, ein britischer Reisepaß, den ich, sei es aus Stolz oder Unsicherheit, immer bei mir trage, sowie eine schlanke Brieftasche aus echtem Kalbsleder, Inhalt fünfundvierzig Pfund in Scheinen nebst Kreditkarten. Pflichtschuldig händigte ich ihr auch die letzten Überreste meines einstigen Glanzes aus: meine nagelneue Smokinghose, die dazu passende Turnbull&Asser-Fliege, das gefältelte Frackhemd aus feinster Sea-Island-Baumwolle, den Kragenknopf und die Manschettenknöpfe aus Onyx, meine seidenen Socken und die Lacklederschuhe. Dieser leidvolle Vorgang war noch nicht abgeschlossen, als Mr. Anderson wieder auf den Plan trat.
»Sie sind nicht zufällig mit einem gewissen Brian Sinclair bekannt, Salvo?« fragte er anklagend. »Überlegen Sie bitte scharf. Sinclair? Brian? Ja oder nein?«
Ich versicherte ihm, daß meine einzige Bekanntschaft mit dem Namen ein paar Minuten alt war, als er ihn nämlich am Telefon erwähnt hatte.
»Sehr gut. Ab sofort, und für die nächsten zwei Tage und Nächte, sind Sie Brian Sinclair. Ich bitte die glückliche Übereinstimmung der Initialen zu beachten – B.S. Immer so nah bei der Realität zu bleiben, wie es die operativen Erfordernisse gestatten – das ist die goldene Regel bei falschen Identitäten. Sie sind nicht mehr Bruno Salvador, Sie sind Brian Sinclair, freiberuflicher Dolmetscher, aufgewachsen in Zentralafrika als Sohn eines Bergbauingenieurs und derzeit für ein internationales Syndikat tätig, das seinen Sitz auf den Kanalinseln hat und die Dritte und Vierte Welt auf den neuesten Stand der Agrartechnik bringen möchte. Wenn Sie damit irgendwelche wie auch immer gearteten Probleme haben, lassen Sie es mich bitte wissen.«
Nicht daß ich kalte Füße bekam – aber besonders warm wurden sie auch nicht. Mr. Andersons Besorgnis begann auf mich abzufärben. Langsam, aber sicher fragte ich mich, ob ich mich nicht auch sorgen sollte.
»Kenne ich es, Mr. Anderson?«
»Wen sollen Sie kennen, mein Junge?«
»Dieses Agrarsyndikat. Wenn ich Sinclair bin, wer ist dann mein Auftraggeber? Vielleicht habe ich schon einmal für die Leute gearbeitet.«
Ich konnte Mr. Andersons Gesichtsausdruck nicht richtig sehen, weil er das Licht im Rücken hatte.
»Wir sprechen von einem anonymen Syndikat, Salvo. Es wäre nicht sehr logisch, wenn ein solches Syndikat einen Namen hätte.«
»Aber die Vorstände müssen doch Namen haben.«
»Ihr vorübergehender Arbeitgeber als solcher hat keinen Namen, genauso wenig wie das Syndikat«, beschied Mr. Anderson mich brüsk. Dann aber schien etwas ihn weicher zu stimmen. »Sie werden jedoch – und ich überschreite vermutlich schon meine Befugnisse, indem ich Ihnen das sage – einem gewissen Maxie unterstehen. Bitte erwähnen Sie unter gar keinen Umständen, weder jetzt noch zukünftig, daß Sie diesen Namen von mir gehört haben.«
»Mr. Maxie?« hakte ich nach. »Maxie Soundso? Wenn ich schon den Kopf in die Schlinge stecke …«
»Maxie allein reicht vollkommen, danke, Salvo. Solange Sie keine anderslautenden Anweisungen erhalten, unterstehen Sie in sämtlichen Belangen dieser außerordentlichen Operation seiner Befehlsgewalt.«
»Kann ich ihm vertrauen, Mr. Anderson?«
Sein Kinn ruckte scharf in die Höhe, und ihm lag sichtlich auf der Zunge zu sagen, daß eine Person, die er selbst benannt hatte, per definitionem vertrauenswürdig war. Dann sah er meinen Blick und wurde milder.
»Laut den Informationen, die mir vorliegen, können Sie Ihr Vertrauen besten Gewissens in Maxie setzen. Er ist, wie ich höre, ein Genie auf seinem Gebiet. Wie Sie, Salvo. Genau wie Sie.«
»Danke, Mr. Anderson.« Aber dem Tondieb in mir war der leise Vorbehalt in seiner Stimme nicht entgangen, weshalb ich nicht lockerließ. »Und wem ist Maxie unterstellt? Für die Zwecke dieser außerordentlichen Operation? Solange er keine anderslautenden Anweisungen erhält?« Eingeschüchtert von dem Grimm in seinem Blick, beeilte ich mich, meine Frage etwas umzuformulieren. »Ich meine, schließlich sind wir alle jemandem unterstellt, Mr. Anderson. Sogar Sie.«
Wenn seine Geduld strapaziert ist, atmet Mr. Anderson tief durch und senkt leicht den Kopf, wie ein großes Tier, bevor es zum Angriff übergeht.
»Es gibt da offenbar einen Philip«, räumte er widerstrebend ein, »oder, so höre ich, wenn es ihm in den Kram paßt« – ein Schnauben –, »auch Philippe, auf die französische Weise betont.« Trotz seiner polyglotten Profession ist und bleibt Mr. Anderson der Meinung, daß Englisch noch für jeden ausgereicht hat. »So wie Sie Maxie unterstehen, untersteht Maxie Philip. Zufrieden?«
»Hat Philip einen Dienstgrad, Mr. Anderson?«
Nach dem Zögern von eben kam die Antwort nun rasch und hart.
»Nein, Philip hat keinen Dienstgrad. Philip ist ein unabhängiger Berater. Er hat keinen Dienstgrad, er gehört keinem offiziellen Dienst an. Bridget! Mr. Sinclairs Visitenkarten, wenn ich bitten darf, druckfrisch.«
Mit einem ironischen kleinen Knicks überreichte Bridget mir ein Plastiketui. Ich nestelte es auf und brachte ein windiges Kärtchen zum Vorschein: Brian S. Sinclair, beeidigter Dolmetscher, wohnhaft in einem Postfach in Brixton. Telefon- und Faxnummer sowie E-Mail-Adresse waren mir fremd. Keines meiner Diplome war erwähnt, keiner meiner Abschlüsse.
»Wofür steht das S?«
»Wofür Sie wollen«, erwiderte Mr. Anderson großmütig. »Sie müssen sich nur einen Namen aussuchen und dabei bleiben.«
»Was passiert, wenn mich jemand anruft?« Meine Gedanken eilten zurück zu Hannah.
»Eine höfliche Bandansage wird dem Anrufer mitteilen, daß Sie in ein paar Tagen wieder am Platz sind. Sollte Sie jemand per E-Mail kontaktieren, was wir für unwahrscheinlich halten, wird die betreffende Nachricht abgerufen und in angemessener Weise beantwortet.«
»Aber ansonsten bin ich derselbe Mensch?«
Meine Beharrlichkeit stellte noch den letzten Rest seiner Langmut auf die Probe.
»Sie sind derselbe Mensch, Salvo, in Lebensumstände versetzt, die parallel zu Ihren eigenen sind«, sagte er barsch. »Wenn Sie verheiratet sind, bleiben Sie verheiratet. Wenn Sie eine liebe Großmutter in Bournemouth haben, behalten Sie sie mit unserem Segen. Mr. Sinclair selbst wird unaufspürbar sein, und wenn diese Operation beendet ist, wird er nie existiert haben. Muß ich noch deutlicher werden?« Und in nachsichtigerem Ton: »Das ist eine völlig normale Situation in der Welt, in die Sie sich begeben, mein Junge. Das Problem ist nur, daß für Sie all dies neu ist.«
»Was ist mit meinem Geld? Warum müssen Sie mein Geld hierbehalten?«
»Meine Anweisungen lauten, daß Sie …«
Er brach ab. Und als ich seinem Blick begegnete, begriff ich plötzlich, daß er nicht Salvo den Mann von Welt vor sich sah, der frisch von einem exklusiven Empfang kam, sondern einen kaffeebraunen Missionsschulknaben in ausgebeulten Flanellhosen, einem Sportsakko aus der Kleidersammlung und Schuhen, die mit jeder Minute mehr drückten. Der Anblick rührte offenbar etwas in ihm an.
»Salvo.«
»Ja, Mr. Anderson.«
»Sie müssen sich ein dickeres Fell zulegen, mein Junge. Sie müssen da draußen eine Lügenexistenz führen.«
»Ja, das haben Sie gesagt. Es macht mir nichts aus.
Ich bin vorbereitet. Sie haben mich gewarnt. Ich müßte nur noch kurz meine Frau anrufen.« Meine Frau, sprich Hannah, aber das sagte ich natürlich nicht.
»Und die Leute, mit denen Sie zusammenkommen, werden auch eine Lügenexistenz führen. Das muß Ihnen ganz klar sein. Sie sind nicht wie wir, diese Leute. Sie sehen die Wahrheit nicht als absoluten Wert. Nicht als die biblische Wahrheit, in deren Geist Sie und ich erzogen worden sind, sosehr wir uns das auch wünschen mögen.«
Bis zum heutigen Tag weiß ich nichts Näheres über Mr. Andersons religiöse Hintergründe, die ich für freimaurerisch geprägt halte. Aber an einem hat er nie einen Zweifel gelassen: Welchem Glauben er auch anhängt, wir sind Brüder darin.
* * *
Bridget hatte mir mein Handy für einen letzten Anruf übergeben und sich sodann in das Schlafzimmer keine zwei Meter weiter verfügt; Mr. Anderson hielt im Wohnzimmer die Stellung, von wo er ebenfalls jedes Wort hören konnte. So daß ich geduckt in der kleinen Diele stand und einen Crashkurs in den Tücken des Ehebruchs absolvierte. Ich wollte nichts weiter, als Hannah meiner unsterblichen Liebe zu versichern und sie vorzuwarnen, daß wir uns entgegen meinen Beteuerungen die nächsten zwei Tage nicht würden sprechen können. Aber so, von meinem Publikum durch nichts getrennt als durch papierdünne Wände und eine klapprige Tür, blieb mir nichts anderes übrig, als meine mir gesetzlich angetraute Ehefrau anzurufen und ihrer Bandansage zu lauschen:
Sie sind mit der Mailbox von Penelope Randall verbunden. Ich bin momentan nicht an meinem Platz. Wenn Sie eine Nachricht hinterlassen möchten, sprechen Sie nach dem Signalton. Wenn Sie sich an meine Assistentin wenden möchten, fragen Sie nach Emma, Durchwahl 9124.
Ich holte Atem. »Hallo, Schatz, ich bin’s. Hör mal, es tut mir furchtbar leid, aber ich bin mal wieder zu einem meiner unzähligen millionenschweren Aufträge abberufen worden. Einer meiner ältesten und besten Unternehmerkunden. Angeblich geht es um Leben und Tod. Es soll zwei Tage dauern, vielleicht auch drei. Ich versuche dich anzurufen, aber es könnte schwierig werden.«
Wer sprach da? Niemand, den ich kannte. Niemand, den ich schon einmal belauscht hatte. Niemand, den ich hätte wiedertreffen wollen. Ich verstärkte meine Bemühungen.
»Hör zu, ich ruf dich an, sobald ich zwischendrin halbwegs zum Durchatmen komme. Ich bin absolut untröstlich, Schatz. Ach, und bei deiner Party muß ich ja echt was verpaßt haben. Sah wirklich toll aus. Dieser Hosenanzug – spitzenmäßig. Das haben alle gesagt. Es tut mir bloß so leid, daß ich so davonstürzen mußte. Fechten wir’s aus, wenn ich zurückkomme, in Ordnung? Bis dann, Schatz. Ciao.«
Bridget nahm mir das Handy wieder ab, reichte mir eine Reisetasche und blieb neben mir stehen, während ich den Inhalt inspizierte: Socken, Taschentücher, Hemden, Unterhosen, ein Waschbeutel und ein dicker grauer Pullover mit V-Ausschnitt.
»Irgendwelche Medikamente, von denen wir wissen sollten?« fragte sie. »Keine Kontaktlinsen? Keine Gleitmittel, keine Döschen mit irgendwas?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na, dann ab mit euch beiden«, erklärte Mr. Anderson, und wenn er die rechte Hand erhoben und eines von Pater Michaels schlackrigen Kreuzen über uns geschlagen hätte, wäre ich auch nicht weiter verwundert gewesen.