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Ich hätte niemals gedacht, daß ich auf meinem klammheimlichen Weg die Kellertreppe hinab zu meinem ersten Unterwassereinsatz das Gefühl haben könnte zu schweben, aber so war es. Von Hajs ungehobeltem Dazwischenfunken einmal abgesehen entwickelte sich alles so prachtvoll wie nur irgend möglich. Wann, wenn überhaupt schon einmal, hatte der Ruf der Vernunft und der Mäßigung machtvoller über die Seen und Urwälder unseres gebeutelten Kongo hinausgeschallt? Wann hatten zwei fähigere Profis – Maxie, der Mann der Tat, und Philip, der allzeit alerte Vermittler – ihre Kräfte zum Wohle eines leidenden Volkes vereint? Wir traten der Geschichte in den Hintern, jawohl! Sogar der abgebrühte Spider, der nach eigenem Bekunden keine Silbe von dem verstanden hatte, was er da aufzeichnete – und von der Komplexität unseres ganzen Unterfangens, so mein Verdacht, erst recht nichts –, zeigte sich beeindruckt von der positiven Stimmung.
»Klingt, als würde der Alte sie sich mal so richtig zur Brust nehmen«, erklärte er in seinem walisischen Singsang, als er mir den Kopfhörer aufsetzte, mein Mikro überprüfte und mich fürsorglich in meinen Schleudersitz drückte. »Schlagt ihnen nur ordentlich die Köppe aneinander, sag ich immer, dann fällt vielleicht doch ein Bröckchen Verstand raus.«
Aber die Stimme, auf die ich eigentlich wartete, war die von Sam, meinem Koordinator: Sam, der mir sagen würde, auf welche der Mikrophone ich mich konzentrieren sollte, Sam, der mich laufend instruieren und sich von mir Bericht erstatten lassen würde. Kannte ich Sam? War er womöglich ein Tondieb wie ich, noch so ein ehemaliger Chatroom-Lemur, der nun aus dem Schatten hervortreten durfte, um seine ganz besonderen Gaben unter Beweis zu stellen? Um so größer meine Überraschung, als die Stimme, die aus dem Kopfhörer drang, die einer Frau war, einer gütig und mütterlich klingenden Frau noch dazu.
Geht’s Ihnen gut, Brian, mein Lieber?
Bestens, Sam. Und selbst?
Sie haben sich großartig geschlagen da oben, Brian. Alle schwärmen von Ihnen.
Entdeckte ich da die winzigste Spur eines schottischen Beiklangs in diesen aufbauenden Worten?
Wo sind Sie zu Hause, Sam? fragte ich in meinem Überschwang – noch ganz berauscht vom Gang der Dinge oben.
Wenn ich sagen würde, Wandsworth, wäre das ein arger Schock für Sie?
Ein Schock? Wir sind Nachbarn, das gibt’s ja nicht! Ich erledige die Hälfte meiner Einkäufe in Wandsworth!
Unbehagliches Schweigen. Schon wieder habe ich vergessen, daß ich ja in einem Postfach zu wohnen habe.
Tja, Einkaufswagen, die sich bei Nacht begegnen, Brian, mein Lieber, erwidert Sam dann sehr förmlich. Wir fangen mit der Sieben an, wenn es Ihnen recht ist. Die Zielpersonen müßten jeden Moment dasein.
Die Sieben ist die Gästesuite. Den Blick auf Spiders U-Bahn-Plan gerichtet, verfolge ich den Weg der Delegierten den Korridor entlang und warte, bis einer von ihnen seinen Schlüssel hervorkramt und ihre gemeinsame Tür aufschließt – schlau von Philip, sie mit Schlüsseln zu versehen, das verstärkt das Gefühl der Sicherheit! Als nächstes das Trommelfeuer von Füßen auf Steinfliesen, das Rauschen von Toilettenspülungen und Wasserhähnen. Jetzt sind sie im Wohnzimmer – schenken sich Wasser und Säfte ein, klappern, klirren, strecken sich, gähnen nervös.
Ihre Suite ist mir ähnlich vertraut wie die öden vier Wände meines derzeitigen Domizils, obwohl ich sie nie gesehen habe und nie sehen werde, sowenig wie das Innere der Königlichen Gemächer des Mwangaza oder Sams Lagezentrum mit seinem abhörsicheren Satellitentelefon für die Kommunikation mit dem Syndikat und anderen ungenannten Personen – so jedenfalls Spider gleich vorhin zwischen Tür und Angel, denn Spider war redselig wie so viele Tondiebe, die walisischen allemal. Nach seinen Aufgaben damals im Chatroom befragt, erklärte er mir, daß er kein Ohrwurm sei, also fürs Übersetzen und Verschriften zuständig, sondern (der alte Witz) nur eine bescheidene kleine Wanze , sprich, ein Installateur geheimer Abhöranlagen zur größeren Freude Mr. Andersons. Aber das wahre Glück war für ihn, wenn die Fetzen flogen.
»Da geht nichts drüber, Brian. Das ist das beste Gefühl überhaupt: wenn von allen Seiten die Kugeln ranzischen und du platt auf dem Gesicht im Schlamm liegst mit ’nem hübschen kleinen Sechzig-Millimeter-Mörser im Arsch.«
Die gestohlenen Töne dringen laut und klar an mein Ohr, bis hin zu den Eiswürfeln, die in die Gläser krachen, und einer Kaffeemaschine, die mehr Baßtöne erzeugt als ein ganzes Symphonieorchester. Spider, der das alles schon zum x-tenmal mitmacht, ist dennoch nicht weniger angespannt als ich, aber es gibt keine Pannen in letzter Minute, keine Kurzschlüsse, keine Aussetzer, die Sache läuft.
Nur läuft sie eben doch nicht, denn niemand spricht. Den Hintergrund haben wir, aber keinen Vordergrund dazu. Aus dem Wohnzimmer der Delegierten ertönen Grunzer und Ächzer, aber nicht ein Wort. Ein Scheppern, ein Rülpser, irgend etwas quietscht. Dann weit weg Gemurmel, aber wer murmelt, und in wessen Ohr, ist ein reines Ratespiel. Und immer noch keine richtigen Stimmen, jedenfalls keine, die sich mithören ließen. Hat die Redegewalt des Mwangaza ihnen allen die Sprache verschlagen?
Ich halte den Atem an. Spider auch. Ich liege mäuschenstill in Hannahs Bett und tue so, als gäbe es mich nicht, während ihre Freundin Grace an der verschlossenen Tür rüttelt und zu wissen verlangt, warum Hannah nicht zum Tennis erschienen ist (das Grace ihr beibringt), und Hannah, der Lügen ein Greuel sind, Kopfschmerzen vorschützt.
Vielleicht sprechen sie nur ihre Gebete, Sam.
Aber zu wem, Brian?
Allzu viel kann Sam nicht über Afrika wissen, denn die Antwort wäre im Zweifel die auf der Hand liegende: zum christlichen Gott, Sam, oder zu ihrer jeweiligen Version des christlichen Gottes. Die Banyamulenge, die meinem seligen Vater so lieb waren, halten zu allen Zeiten Zwiesprache mit IHM, direkt oder durch ihre Propheten. Dieudonné, da bin ich mir sicher, betet, wann immer es ihn überkommt. Die Mai Mai dagegen erhoffen sich von Gott Schutz in der Schlacht und wenig sonst, deshalb kreist Francos Denken wohl mehr darum, was bei dem Ganzen für ihn herausspringt. Ein Medizinmann wird ihm zerdrückte Blätter des Tékébaums auf dem Körper verrieben haben, damit ihre Kräfte auf ihn übergehen. Zu wem Haj betet, darüber läßt sich nur spekulieren. Vielleicht zu Luc, seinem siechen Papa.
Warum sagt niemand etwas? Und warum glaube ich aus dem Knarzen und Scharren und all den anderen zu erwartenden Hintergrundgeräuschen eine zunehmende Spannung im Raum herauszuspüren, als würde jemand unseren Delegierten eine Gewehrmündung an die Schläfe halten?
Sprecht doch, irgendeiner, um Himmels willen!
Im stillen rede ich auf sie ein, beschwöre sie. Schaut her. In Ordnung. Ich versteh’s ja. Vorhin im Besprechungszimmer habt ihr euch eingeschüchtert gefühlt, nicht für voll genommen, gereizt durch die weißen Gesichter rund um den Tisch. Der Mwangaza hat euch von oben herab behandelt, aber so ist er nun mal, er ist ein Prediger, er kann nicht anders. Und ihr habt eure Verantwortung, auch das sehe ich ein. Ehefrauen, Sippen, Stämme, Geister, Propheten, Wahrsager, Medizinmänner, alles mögliche, von dem wir nichts verstehen. Aber bitte, um der Allianz willen, um Hannahs willen, um unser aller willen – sprecht!
Brian?
Sam?
Ich frage mich langsam, ob nicht vielleicht wir gut daran täten zu beten.
Derselbe schreckliche Gedanke ist auch mir schon gekommen: Wir sind durchschaut. Einer unserer Delegierten – im Zweifelsfall Haj – hat den Finger auf die Lippen gelegt und deutet auf die Wände oder das Telefon oder den Fernseher, der kleine Klugscheißer, oder verdreht seine Glupschaugen zum Kronleuchter hoch. Was soviel heißen soll wie: »Jungs, ich bin rumgekommen in der Welt, ich kenn mich aus, und glaubt mir: wir werden abgehört.« Wenn das so ist, dann gibt es jetzt mehrere Möglichkeiten, je nachdem, wer die Zielpersonen sind – die ZPs, wie Maxie sagen würde – und ob sie sich momentan eher als Verschworene oder eher als Verschwörungsopfer fühlen. Im besten Fall sagen sie sich: »Egal, reden wir einfach trotzdem«, was die Reaktion jedes vernünftigen Durchschnittsmenschen wäre, der schlicht nicht die Zeit und die Geduld fürs Abgehört-Werden hat. Aber das hier ist keine Durchschnittssituation. Und was uns beide an den Rand des Wahnsinns treibt, mich genauso wie Sam, ist, daß unseren drei Delegierten, wenn sie sich nur darauf besännen, eine Patentlösung zu Gebote stünde, weshalb ich ja hier unten hocke und lauere.
Würden Sie sie nicht auch am liebsten anbrüllen, Brian?
Doch, Sam, und ob ich es möchte, aber in meinem Kopf nistet sich eine viel schlimmere Angst ein. Nicht Spiders Mikrophone sind aufgeflogen – ich, Salvo, bin es. Philips Rettung in letzter Minute hat mich doch nicht gerettet. Während Franco sein Begrüßungssprüchlein in der falschen Sprache auf den falschen Mann losließ, hat Haj meine Spätzündung beobachtet, deshalb auch sein ständiges glotzäugiges Starren. Er hat gesehen, wie ich meinen dummen Mund auf- und wieder zugeklappt habe, um in aller Eile ein verblüfftes Gesicht aufzusetzen.
Mit derlei Gedanken foltere ich meine Seele, als wie eine Heilsbotschaft die Baßstimme des alten Franco an mein Ohr dringt, nicht auf Bembe jetzt, sondern in dem Kinyarwanda, das er im Gefängnis gelernt hat. Und diesmal darf ich ihn verstehen, statt mich dummstellen zu müssen.
* * *
Tondiebesbeute, das schärft Mr. Anderson seinen Schülern immer wieder ein, ist ihrer Natur nach unzusammenhängend, häufig wertlos und frustrierend bis dorthinaus. Die Geduld eines Hiob, so Mr. Anderson, reicht kaum aus, das gelegentliche Goldkörnchen aus dem Meer von Unrat herauszusieben, in dem es schwimmt. So gesehen weichen die Eröffnungsbemerkungen unserer drei Delegierten in keiner Weise von der Norm ab: ganz die erwartete Mischung aus deftigen Erleichterungsbekundungen und vereinzelten Probeschüssen für eine Schlacht, in der die Seiten noch gewählt werden müssen.
Franco: (Zitiert in beißendem Ton ein kongolesisches Sprichwort) Von schönen Worten wird die Kuh nicht satt.
Dieudonné: (Ergänzt Francos Sprichwort um ein anderes) Die Zähne lächeln, aber lächelt auch das Herz?
Haj: Mannomann! Mein Vater hatte mich ja vorgewarnt, daß der alte Knabe ganz schön vom Leder ziehen würde – aber meine Fresse! Aw-aw-aw. Warum spricht er Swahili wie ein Tansanier mit einer Papaya im Arsch? Ich denke, er ist ein gestandener Shi!
Niemand antwortet ihm, was typisch ist, wenn man drei Männer zusammen in ein Zimmer steckt. Der mit dem größten Mundwerk reißt das Gespräch an sich, und die beiden, deren Meinung man erfahren wollte, verstummen.
Haj: Wer ist eigentlich das hübsche Zebra? (Perplexes Schweigen, in das ich nur einstimmen kann) Dieser Dolmetscher in der Linoleumjacke. Was für einer ist das?
Haj nennt mich ein Zebra? Ich habe mir schon einiges an Namen anhören müssen. In der Missionsschule hieß ich Métis, Café-au-lait oder auch das rasierte Schwein. In Herz-Jesu war ich alles vom Brikett bis zum Mohrenkopf. Aber Zebra war ein bisher ungekanntes Schimpfwort für mich, und ich mußte annehmen, daß es Hajs ganz persönliche Schöpfung war.
Haj: Ich kannte mal einen, der sah auch so aus. Vielleicht sind sie ja verwandt. Ein Buchhalter. Hat bei meinem Vater die Zahlen frisiert. Und ansonsten sämtliche Weiber in der Stadt gebumst, bis ein wütender Ehemann ihm den Arsch weggeballert hat. Kraboom! War aber nicht ich. Ich bin nicht verheiratet, und ich niete keine Leute um. Wir haben uns auch so schon genug dezimiert. Scheiße. Nie wieder. Zigarette?
Haj hat ein goldenes Zigarettenetui, das mich schon oben im Besprechungszimmer aus dem senfgelben Seidenfutter seines Anzugs angeblitzt hat. Jetzt höre ich das satte Klicken, mit dem er es aufschnappen läßt. Franco steckt sich eine Zigarette an, und ein Totengräberhusten schüttelt ihn.
Und worum ging’s da jetzt, Brian?
Um meine ethnische Zugehörigkeit.
Ist das normal?
Ziemlich.
Dieudonné, der erst abgelehnt hatte, murmelt ein fatalistisches »Ach, was soll’s?« und zündet sich auch eine an.
Haj: Bist du krank oder so was? Dieudonné: So was.
Sitzen sie oder stehen sie? Horch genau hin, und du hörst ein ungleichmäßiges Quietschen von Turnschuhsohlen, das ist Francos Hinkebein, während Haj mit seinen lindgrünen Krokodillederschuhen auf dem harten Boden herumtänzelt. Horch noch genauer hin, und du hörst einen unterdrückten Ächzer und das Seufzen eines Schaumstoffkissens, das ist Dieudonné, der sich in einen Lehnstuhl sinken läßt. So gut werden wir Tondiebe unter Mr. Andersons Führung.
Haj: Eins gleich mal vorneweg, mein Lieber.
Dieudonné: (Mißtrauisch ob dieser herzlichen Anrede) Nämlich?
Haj: Die Menschen in Kivu sind tausendmal mehr an Frieden und Versöhnung interessiert als diese Arschlöcher in Kinshasa. (Mit Volksverhetzerstimme) Bringt sie alle um! Stecht ihnen ihre ruandischen Augen aus! Wir stehen geschlossen hinter dir, Mann! Zweitausend Kilometer hinter dir, genauer gesagt. Und fast alles davon Dschungel. (Wartet, vermutlich auf eine Reaktion, bekommt aber keine. Erneutes Klacken der Krokosohlen) Und der Alte haut genau in dieselbe Kerbe (äfft den Mwangaza nach, gar nicht schlecht): Laßt uns unser schönes grünes Land säubern von diesem verderbenbringenden Ungeziefer, meine Freunde. O ja. Laßt uns unser Heimatland an unsere geliebten Landsleute zurückgeben! Und recht hat er! Wer findet das nicht? (Wartet. Keine Antwort) Antrag einstimmig angenommen. Schmeißt sie raus, sage ich. Zack! Batsch! V e r p i ß t e u c h ! (Keine Antwort) Aber natürlich gewaltlos. (Kleiner Trommelwirbel der Krokosohlen) Das Problem ist bloß, wo hören wir auf? Ich meine, was ist mit den armen Schweinen, die sich ’94 zu uns geflüchtet haben? Schmeißen wir die auch raus? Schmeißen wir unseren Dieudonné raus? Nehmt eure Blagen mit, aber eure Kühe laßt ihr gefälligst hier!
Haj entpuppt sich als genau der Saboteur, als den ich ihn oben schon in Verdacht hatte. Auf nonchalante und doch zersetzende Weise hat er es geschafft, binnen Minuten das Thema mit dem größten Spaltungspotential überhaupt anzuschneiden: den ungeklärten Status der Banyamulenge und Dieudonnés Eignung oder Nicht-Eignung zum Verbündeten in unserem Unterfangen.
Franco: (Ein weiteres Sprichwort, diesmal im Ton einer Kampfansage) Ein Baumstamm kann zehn Jahre im Wasser liegen. Aus ihm wird doch nie ein Krokodil.
(Lange, angespannte Pause)
Dieudonné: Franco!
Ein Kreischen in meinem Kopfhörer schleudert mich fast aus meinem Sitz: Der wütend auffahrende Dieu-donné hat seinen Sessel über den Steinboden zurückgestoßen. Ich meine ihn vor mir zu sehen, die Hände um die Armlehnen gekrampft, Schweißperlen auf der Stirn, während er den Kopf in leidenschaftlicher Beschwörung zu Franco hochreckt.
Dieudonné: Wann wird das je enden, Franco? Ihr gegen uns? Die Banyamulenge mögen Tutsis sein, aber wir sind keine Ruander! (Sein Atem macht ihm zu schaffen, aber er achtet nicht darauf) Wir sind Kongolesen, Franco, so kongolesisch wie die Mai Mai! Doch! (Übertönt Francos höhnischen Einspruch) Der Mwangaza begreift das, und ihr doch manchmal auch! (Und noch einmal auf französisch, des größeren Nachdrucks wegen) Nous sommes tous Zaïrois! Erinnerst du dich, was die Kinder zu Mobutus Zeiten in der Schule gesungen haben? Warum können wir das jetzt nicht auch singen? Nous sommes tous Congolais!
Nein, Dieudonné, nicht wir alle, berichtige ich ihn im Geist. Auch ich habe diese Worte in der Schule stolz im Chor mit meinen Klassenkameraden gesungen, bis sie eines Tages mit dem Finger auf das Kind zeigten, das es nicht gab, und schrien: Pas Salvo, pas le métis! Pas le cochon rasé!
Dieudonné: (Setzt seine Suada fort) Beim Aufstand ’64 kämpfte mein Vater, ein Banyamulenge, Seite an Seite mit deinem Vater, einem Simba (rasselndes Atemschöpfen), und du selbst als junger Mann hast Seite an Seite mit ihnen beiden gekämpft. Hat euch das zu unseren Verbündeten gemacht? (Rasseln) Zu unseren Freunden! (Rasseln) Nein, das hat es nicht. (In zornigem Französisch bricht es aus ihm heraus) C’était une alliance contre la nature! Die Simba haben nicht aufgehört, uns zu töten und unser Vieh für ihre Soldaten zu stehlen, ganz genau wie die Mai Mai heute. Wenn wir Vergeltung üben, nennt ihr uns Banyamulenge-Abschaum. Wenn wir uns Zurückhaltung auferlegen, nennt ihr uns Banyamulenge-Feiglinge (ersticktes Keuchen nun). Aber wenn wir uns zusammenschließen könnten unter diesem … (Rasseln) … aufhörten mit dem Töten und dem Hassen (Rasseln) … aufhörten damit, unsere Toten und unsere Verstümmelten zu rächen … wenn wir uns selber im Zaum halten könnten … und uns vereinen … unter diesem Anführer oder welchem Anführer auch immer …
Er bricht ab. Sein Keuchen geht so heftig, daß es mich an Jean-Pierre im Krankenhaus erinnert, nur ohne die Schläuche. Auf der vordersten Kante meines Schleudersitzes warte ich auf Francos Entgegnung, muß mir aber nur wieder ohnmächtig Hajs Reden anhören.
Haj: Verbündete wobei, verdammt noch mal? Um was zu erreichen? Ein vereintes Kivu? Nord und Süd? Meine Freunde. Laßt uns unsere Bodenschätze wieder in Besitz nehmen, auf daß wir Kontrolle über unser Schicksal erlangen! Hmpf hmpf. Unsere Bodenschätze sind in festen Händen, du alter Idiot! Und zwar in den Händen von ruandischen Irren, die bis an die Zähne bewaffnet sind und in ihrer Freizeit unsere Frauen vergewaltigen! Diese Interahamwe-Typen sind da oben so fest etabliert, daß die Blauhelme sie um Überflugrechte bitten müssen!
Dieudonné: (Verächtliches Lachen) Die Blauhelme? Wenn wir darauf warten, daß die Blauhelme uns Frieden bringen, können wir warten, bis unsere Kinder tot sind und unsere Enkel auch.
Franco: Dann solltest du deine Kinder und Enkelkinder am besten jetzt gleich nach Ruanda zurückbringen und uns in Ruhe lassen.
Haj: (Unterbricht ihn hastig auf französisch, vermutlich um den Streit abzuwürgen) Wir warten? Habe ich da wir gehört? (Kurze Stepeinlage der Krokosohlen, gefolgt von Totenstille) Glaubst du im Ernst, hier geht es um uns? Der Alte will nicht uns, er will die Macht. Er will sich seinen Platz in der Geschichte sichern, bevor er den Löffel abgibt, und dafür ist er bereit, uns an irgendein nebulöses Syndikat zu verhökern und das ganze verdammte Haus über uns zum Einsturz zu bringen.
Ich habe die Flut der Ketzereien kaum zu Ende übersetzt, da ruft Philips Glocke uns zur zweiten Runde.
* * *
Und an dieser Stelle muß ich einen Vorfall erwähnen, der zwar zum Zeitpunkt des Geschehens keinen nachhaltigen Eindruck in meinem überreizten Hirn hinterließ, im Licht der nachfolgenden Ereignisse jedoch nähere Betrachtung verdient. Philips Glocke ertönt, ich nehme den Kopfhörer ab. Ich stehe auf, erwidere das Zwinkern, das Spider mir zukommen läßt, und erklimme die Kellertreppe. Oben angelangt, gebe ich das vereinbarte Zeichen: drei kurze Schläge an die Eisentür, die Anton einen Spalt weit öffnet und hinter mir gleich wieder schließt, unglücklicherweise mit einem lauten Knall. Ohne daß zwischen uns ein Wort fiele, dirigiert Anton mich um die Hausecke zum Ostende des Bogenganges, von wo es nur ein kurzes Stück bis zum Spielzimmer ist, alles nach wie vor nach Plan. Nur mit einer Abweichung: beide haben wir die Rechnung ohne die Sonne gemacht, die mir direkt in die Augen scheint und mir einen Moment lang die Sicht nimmt.
Als ich meinen Weg antrete, die Augen niedergeschlagen, um nicht geblendet zu werden, höre ich Schritte und die typisch afrikanischen Lachsalven der Delegierten, die sich vom anderen Ende des Bogengangs nähern. Ich werde ihnen direkt in die Arme laufen. Was bedeutet, daß ich eine überzeugende Ausrede parat haben muß, um zu erklären, warum ich von der falschen Seite des Hauses komme. Haben sie gesehen, wie Anton mich um die Ecke gescheucht hat? Haben sie die Eisentür zuknallen hören?
Zum Glück habe ich Übung im Improvisieren, dank der Eintagesschulungen in Eigensicherung, die für uns Aushilfsagenten Pflicht sind. Was habe ich mit meinen kostbaren Minuten der Muße gemacht, während unsere Delegierten in Klausur waren? Antwort: Dasselbe wie in jeder anderen Verhandlungspause auch – mir ein entlegenes Fleckchen gesucht, wo ich ein bißchen Ruhe und Frieden genießen kann, bis der Gong ertönt. So gewappnet, setze ich meinen Anmarsch auf die Tür des Spielzimmers fort. Ich erreiche sie, halte an. Sie erreichen sie, halten an. Oder vielmehr Haj hält an, denn Haj als der beweglichste der drei geht vorneweg, während Franco und Dieudonné in ein paar Schritten Abstand folgen. Sie haben noch nicht zu ihm aufgeschlossen, als mich Haj, nur Minuten, nachdem er mich als Zebra tituliert hat, mit erlesener Höflichkeit anspricht:
»Nun, werter Herr Dolmetscher, sind Sie erquickt? Frisch und bereit für die nächste Schlacht?«
Eine harmlose Frage, in harmlosem Ton gestellt. Nur daß er mich auf Kinyarwanda anredete. Diesmal freilich kam ich ohne Warnsignale von Philip aus. Ich antwortete mit einem verwirrten und leicht bedauernden Lächeln. Als das seine Wirkung verfehlte, zuckte ich die Achseln und schüttelte den Kopf, um mein andauerndes Unverständnis zu bekunden. Haj begriff seinen Irrtum – oder tat so als ob –, lachte entschuldigend auf und klopfte mir auf den Oberarm. Hatte er versucht, mich zu überrumpeln? Nein, sicher nicht. Das sagte ich mir zumindest. Er war in die Falle getappt, die am Wege jedes gestandenen Vielsprachlers lauert. Er hatte in der Gästesuite so lange am Stück Kinyarwanda gesprochen, daß er das Umschalten verschwitzt hatte. Kann jedem passieren. Vergiß es.